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Frühe Kindheit ohne Kindergarten? Einige Schlaglichter zum Phänomen ‚Kindergartenfrei‘

| Alina Ort und Ulf Sauerbrey |

Kindertageseinrichtungen zu besuchen, ist für Kinder in Deutschland keine Seltenheit mehr. Mit Stand September 2020 waren 92,5% der Kinder ab drei Jahren und 35,0 % unter drei in einer Kindertagesbetreuung angemeldet (vgl. Statistisches Bundesamt, 2020). Es gibt jedoch Eltern, die es aus verschiedenen Gründen ablehnen, ihre Kinder in Kitas betreuen zu lassen und dementsprechend erleben diese Kinder ihre Kindheit anders als viele Gleichaltrige. Unter dem Sammelbegriff ‚Kindergartenfrei‘ bzw. ‚Kita-frei‘ ist das Phänomen in der öffentlichen Presseberichterstattung vereinzelt thematisiert worden (Rennefanz, 2018) und auf dem Buchmarkt finden sich erste Erfahrungsberichte (vgl. etwa: Mikosch, 2018). Ein zentrales Medium dieser sozialen Gruppe sind Blogs. Geschrieben werden sie oft von Müttern, die über ihr alltägliches Leben ohne eine Kita berichten, entsprechende Tipps und Ratschläge geben und Kritik an Einrichtungen üben. Was sind ihre Gründe, sich generell gegen die Kita zu entscheiden? Und können frühpädagogische Einrichtungen das Wissen über die Motive dieser Eltern nutzen, um ihre pädagogische Arbeit zu verbessern?

Was will das Projekt/Was ist das Phänomen?

Über die online präsente soziale Gruppe ‚Kindergartenfrei‘ existiert bislang keine empirische Forschung. Janine Stoeck (vgl. 2021) hat aber anhand von zwölf Eltern- und zwölf Kinderinterviews bereits zeigen können, wie es dazu kommen kann, sich grundsätzlich gegen eine außerfamiliale Betreuung in der frühen Kindheit zu entscheiden. Neben einer generellen Ablehnung von Kitas konnten Krankheiten des Kinds als Grund identifiziert werden. Bei der Inanspruchnahme einer Kita von anderen Eltern gesellschaftlich ausgeschlossen zu werden, wurde in den Interviews ebenfalls genannt. Oft wurde die Kita als potenzielle Gefahrenquelle für die Entwicklung der Kinder beschrieben. Vorgegebene Zeitstrukturen wurden dabei ebenfalls kritisiert. Käme eine öffentliche Betreuung überhaupt infrage, seien für die Eltern Zusammenarbeit und Mitbestimmung ebenso wie Vertrauen und Beziehungsgestaltung zu pädagogischen Fachkräften von hoher Bedeutung. Erfahrungen mit einer schwierigen Eingewöhnung der Kinder und unterschiedliche Erziehungsansichten bildeten ebenfalls Argumente gegen die Kita. Ein zentrales Motiv war der Wunsch der Eltern nach einer vertrauensvollen Beziehung zu ihren Kindern (vgl. Stoeck 2021, S. 389-443).

Die Dissertation hat jedoch die Interessengemeinschaft ‚Kindergartenfrei‘, die sich vor allem online etabliert hat (vgl. z.B. Kindergartenfrei-Toolkit, 2020b), nicht eigens untersucht. In einem Handbuchbeitrag schreibt Sabine Bollig (2018) über ‚Kindergartenfrei, dass es sich bei den Akteur*innen wohl v.a. um weiße Mittelschichteltern handle, die das Selbst-Betreuen als grundsätzlichen Gegenentwurf zu Kindertageseinrichtungen verstehen. Die Familie werde dabei als besserer, weil bedürfnisorientierter Bildungsort gegenüber Kitas dargestellt. Die Blogs, über die in der „Bewegung“ ‚Kindergartenfrei‘ öffentlich kommuniziert wird, geben der sozialen Gruppe laut Bollig Struktur und zeichnen sich durch die Idee einer ‚guten Mutterschaft‘ aus (vgl. Bollig, 2018, S.162f.). Ob die Kommunikation, das Netzwerk der betreffenden Eltern und ihre ‚virale Präsenz‘ aber tatsächlich bereits die Merkmale einer sozialen Bewegung erfüllen, müsste zunächst einmal gesondert untersucht werden. Wir sprechen daher hier nur von einer ‚Interessengemeinschaft‘ bzw. einem Phänomen.

Um ihm auf den Grund zu gehen, haben wir im Sommersemester 2021 im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts an der Hochschule Neubrandenburg über das Internet zugängliche Blogs von Eltern qualitativ-inhaltsanalytisch ausgewertet (vgl. Mayring 2015), die sich selbst explizit als Teil der Interessengemeinschaft ‚Kindergartenfrei‘ begreifen. Im Zentrum stand die Frage nach den Gründen, die eigenen Kinder nicht (oder nicht mehr) in einer Kindertageseinrichtung betreuen zu lassen.

Wie macht es das?

Die für unsere Studie aussagekräftigen Dokumente (vgl. Hoffmann 2018) bilden Blogeinträge von Kindergartenfrei-Akteur*innen. In Blogs (ursprünglich: ‚Weblogs‘) teilen Urheber*innen Erlebnisse und Ansichten relativ unmittelbar, d.h. ohne Verlag oder Redaktion, die im Produktionsprozess mitarbeiten, mit der Öffentlichkeit (vgl. Gerstenberg & Gerstenberg, 2018, S. 17). Dort werden Blogs oft als „private Online-Tagebücher“ wahrgenommen (Löhmann, 2007, S. 221). Familienblogs sind dabei ein noch recht junges Format, mit dem u.a. Ratschläge zur Gestaltung des Familienalltags und Informationen vermittelt werden, das unterhalten soll, das der Suche nach Gemeinschaft, aber auch der Selbstinszenierung der Blogger*innen dient (vgl. Knauf, 2020). Da es zu ‚Kindergartenfrei‘ sehr viele Blogs gibt, wurden in unsere explorative (d.h. nicht repräsentative) Studie nur Blogeinträge eingeschlossen, in denen Gründe gegen die Inanspruchnahme einer Kita dokumentiert sind. Um eine Aktualität zu gewährleisten, wurde bei der Auswahl darauf geachtet, dass die Blogs noch aktiv betrieben werden. Folgende drei Blogs wurden so in das Sample aufgenommen:

  • Kindergartenfrei-Toolkit (Datum des ersten Beitrags: 14.03.2020; Gesamtanzahl der veröffentlichten Blogeinträge zum Erhebungszeitpunkt: 14),
  • Unverbogen Kind Sein (13.05.2017; 115) und
  • Familien Garten (13.10.2017; 123)

Das im Rahmen der Dokumenten- und Inhaltsanalyse erstellte Kategoriensystem zu den Gründen und Elternmotiven wurde im Mai 2021 in einem Forschungskolloquium an der HS Neubrandenburg mit sechs Studierenden diskutiert, um Mehrperspektivität in der Datenauswertung zu gewährleisten.

Was ist das Ergebnis?

Warum machen Eltern das nun? In den Blogs fanden sich zwölf Gründe zur Nichtinanspruchnahme einer Kita, die z.T. eng miteinander verzahnt sind, und die wir als Hauptkategorien identifiziert haben:

  • Eigene unmittelbare Erfahrungen
  • Schäden und Stress durch außerfamiliale Betreuung
  • Nichtangewiesenheit auf außerfamiliale Betreuung
  • Wunsch der Eltern nach Selbstbetreuung
  • Familie als bildungs- und entwicklungsorientierter Ort
  • Bedürfnisorientierung
  • Mangelndes Vertrauen gegenüber pädagogischem Personal und der Einrichtung
  • fachliche Expertise aus Bindungs- und Hirnforschung
  • Flexibilität im Alltag und zusätzliche Zeit mit der Familie
  • Platz- und Personalmangel in Kindertageseinrichtungen
  • Vermeidung der Kita-Kosten
  • Kritische Haltung gegenüber Erziehung generell

Im Folgenden werden vier Kategorien, die die elterlichen Motive in den Blick nehmen, näher beschrieben.[1]

  • Eigene unmittelbare Erfahrungen

In allen drei Blogs werden persönliche Erlebnisse beschrieben: Hierzu gehören negative Erinnerungen der Eltern an den Besuch eines Kindergartens in der eigenen Kindheit.[2] Das Kind solle diese Erfahrung nicht machen (vgl. Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a).[3] Berichtet wird aber auch über misslungene Eingewöhnungen der eigenen Kinder: Manche Eltern hatten eine ‚Fremdbetreuung[4] zunächst zwar in Betracht gezogen, doch die Eingewöhnung wurde schließlich abgebrochen. in den Blogs wird v.a. die Trennungsangst der Kinder und das Nicht-Loslassen-Können der Eltern thematisiert, darüber hinaus auch auffälliges Verhalten des Kindes nach dem Besuch der Kita (vgl. Familien Garten, 2018b; Unverbogen Kind Sein, o.D.). Parallel wird die Erfahrung der Selbstbetreuung als gelungen ausgewiesen (vgl. Unverbogen Kind Sein, o.D.). Auch die Erfahrung selbst ohne Kita aufgewachsen zu sein, dient als Beleg für die Position, dies den eigenen Kindern zuteilwerden zu lassen.: „Ich selber bin nicht im Kindergarten gewesen und habe nie das Gefühl gehabt, etwas zu verpassen“ (Unverbogen Kind Sein, o.D.).

  • Wunsch der Eltern nach Selbstbetreuung

Die Bloggerinnen[5] dokumentieren deutlich das Bedürfnis zur Selbstbetreuung ihrer Kinder. Niemand könne das Kind mehr lieben als die Familie (vgl. Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a). Es besteht der Wunsch, das Kind bei sich zu haben und seine Nähe wahrzunehmen (vgl. Familien Garten, 2018b). Auch die Haltung, ein weinendes Kind nicht zurückzulassen, wird vor diesem Hintergrund verständlich (vgl. Familien Garten, 2018b). Erziehung ist aus Sicht der Bloggerinnen letztlich Aufgabe der Familie (vgl. Familien Garten, 2018a; Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a; Unverbogen Kind Sein o. D.).

  • Familie als bildungs- und entwicklungsorientierter Ort

Kinder lernen aus Sicht der Bloggerinnen zu Hause leichter und besser als in einer Kita. Im Elternhaus könnten demnach die Interessen des Kindes individuell angemessen aufgegriffen und gefördert werden (vgl. Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a; Unverbogen Kind Sein o. D.). Hierzu eine Bloggerin: „Ich empfinde einen Kindergarten nicht als Mehrwert für die Entwicklung von Kindern“ (Unverbogen Kind Sein, o.D.). In jungen Jahren sei die Entwicklung noch nicht weit ausgereift, der Kindergarten führe zur Überforderung (vgl. Unverbogen Kind Sein o. D.). Entwicklung und frühkindliche Bildung geschehen demgegenüber v.a. in der Familie, denn diese sei besonders bedürfnisorientiert und achte auf die Interessen des Kindes und seine Wünsche beim Lernen (vgl. Familien Garten, 2018b; Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a; Unverbogen Kind Sein o. D.). Die zusätzliche Kategorie Bedürfnisorientierung ergänzt weitere Elemente dieses Motivs – in einem Blog heißt es hierzu: „Ich möchte nicht das er in einer Fremdbetreuung ist solange er mir nicht ganz deutlich sagen kann was dort passiert und er dort sagen kann was er möchte oder nicht möchte“ (Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a).

  • Mangelndes Vertrauen gegenüber pädagogischem Personal und der Einrichtung

Aus Sicht der Blogger*innen scheint es demnach nicht erforderlich oder wünschenswert zu sein, Kinder an ‚fremde‘ Personen ‚abzugeben‘ (vgl. Familien Garten, 2018b; Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a; Unverbogen Kind Sein o. D.). Problematisiert wird die Privatsphäre des Kindes: Das Entkleiden, wie es etwa in einer Wickelsituation vorkommt, sollten v.a. Eltern und dem Kind nahestehende Personen übernehmen, keine ‚Fremden‘ (vgl. Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a). Es scheint bei den bloggenden Eltern wenig Vertrauen gegenüber den Einrichtungen zu bestehen (vgl. Unverbogen Kind Sein o. D.), auch da die Kita v.a. für Eltern fungiere, damit diese arbeiten gehen können (vgl. Familien Garten, 2018b).

Was kann das für Praxis bedeuten?

Die herausgearbeiteten Motive der bloggenden Mütter sind vielfältig. Durch negativ in Erinnerung gebliebene Erfahrungen aus der eigenen Kindheit oder im Rahmen von Eingewöhnungen des eigenen Kindes scheint eine deutliche Entscheidung gegen Kitas entstanden zu sein. Für frühpädagogische Fachkräfte ergibt sich daraus u.E. die Aufgabe, die Unterschiede einer Kindertagesbetreuung im 21. Jahrhundert gegenüber der Kita-Arbeit der vergangenen Jahrzehnte hervorzuheben – schließlich hat sich das Arbeitsfeld inzwischen verändert: es hat sich stark professionalisiert, eine hohe konzeptuelle Vielfalt erreicht und nicht zuletzt durch die Bildungspläne im Hinblick auf ein neues Kindbild und partnerschaftliche Erziehungs- und Bildungsvorstellungen grundlegend weiterentwickelt. Gerade dies sollte bereits beim Erstkontakt mit Eltern, die eine Kita in Anspruch nehmen möchten, und auch in Internetauftritten und Informationsbroschüren von Einrichtungen hervorgehoben werden. Eine fachlich informierte Kommunikation mit Eltern kann auch verdeutlichen, dass die Vorstellungen einer entwicklungsangemessenen Bildung des Kindes in der Kita zwischen Eltern und pädagogischen Fachkräften in der Einrichtung u.U. gar nicht so weit auseinander liegen, wie es einige der untersuchten Blogs in generalisierten Aussagen unterstellen. Eine aktuelle empirische Studie (2021) zeigt zumindest, „dass Erzieherinnen und Kindheitspädagoginnen den Handlungskonzepten Ko-Konstruktion und Selbstbildung deutlich stärker zustimmen als instruktiven Förderorientierungen“ (Schmidt & Smidt, 2021, S. 267).

Der Wunsch der Eltern nach Selbstbetreuung und das mangelnde Vertrauen gegenüber frühpädagogischem Personal sind u.E. ernst zu nehmen. Einer solchen Forderung lässt sich ggf. über eine stärkere Elternpartizipation (vgl. auch Stoeck, 2021) nachkommen: Eine Einbindung in den Kita-Alltag, etwa über Projektarbeit, Elterncafés und andere niedrigschwellige Angebote ermöglicht einen regelmäßigen Kontakt mit Eltern, auch unter Beisein der Kinder. Durch eine solch unmittelbare Zusammenarbeit können Vorurteile gegenüber frühpädagogischen Fachkräften abgebaut, aber auch berechtigte Kritikpunkte vonseiten der Eltern offen angesprochen werden.

Die hier aufgeführten Motive aus einem kleinen und selektiven Sample an Blogs bilden jedoch nur einen Baustein, das Phänomen ‚Kindergartenfrei‘ zu begreifen. Um ein genaueres Bild zu erhalten und auch um die Frage klären zu können, ob es sich dabei um eine eigene soziale Bewegung handelt (z.B. ähnlich der so genannten ‚Anti-Pädagogik‘ aus den 1970er und 1980er Jahren, die sich ebenfalls als ‚erziehungsfrei‘ verstand, vgl. Winkler, 1982), bedarf es künftig allerdings weiterer Forschung. Spannend erscheint auch die Frage, inwieweit sich der Blick auf gute Elternschaft durch das Lesen solcher Blogs verändert (vgl. Knauf, 2019).

Literaturverweise (inkl. Blogs)

Bollig, S. (2018). Kindergarten. In: Hasse, J. & Schreiber V. (Hrsg.): Räume der Kindheit: EIN GLOSSAR. Bielefeld: transcript-Verlag; S. 160-165.

Familien Garten (2018a). Ohne Fremdbetreuung? Über die Vorteile kitafrei zu leben. Abgerufen am 20.06.2021 von URL: https://www.familiengarten.org/ohnefremdbetreuung-ueber-die-vorteile-kitafrei-zu-leben

Familien Garten (2018b). Unser Weg zu Kindergartenfrei. Abgerufen am 20.06.2021von URL: https://www.familiengarten.org/ohne-fremdbetreuung-unser-weg-zukindergartenfrei

Familien Garten (2021). Selbstbestimmtes Lernen-ein Überblick. Abgerufen am 22.06.2021 von URL: https://www.familiengarten.org/selbstbestimmtes-lernen-ein-ueberblick

Gerstenberg, F. & Gerstenberg, C. (2018). Die Blogsphäre: Ein ganzes Universum. In: Gerstenberg, F. & Gerstenberg, C. (Hrsg.): Quick Guide Social Relations: PR Arbeit mit Bloggern und anderen Influencern in social Web. Wiesbaden: Springer VS, S. 17-33.

Hoffmann, N. (2018). Dokumentenanalyse in der Bildungs- und Sozialforschung: Überblick und Einführung. Weinheim: Belz Juventa.

Kindergartenfrei-Toolkit (2020a). Kindergartenfrei? Ich diskutiere nicht! Ich schon! Abgerufen am 15.06.2021 von URL: https://www.kindergartenfreitoolkit.de/index.php?p=blog&post=l6M0ANzP&filterActiv/

Kindergartenfrei-Toolkit (2020b). Erfahrungsbericht Kindergartenfreigruppe. Abgerufen am 20.06.2021 von URL: https://www.kindergartenfreitoolkit.de/index.php?p=blog&post=wd5S39wo&filterActive/

Knauf, H. (2019): Disenchantment of the Family. Mediatisation of Parenthood in Family Blogs, in: MedienPädagogik (Dezember), S. 156-173. DOI: https://doi.org/10.21240/mpaed/00/2019.12.03.X

Knauf, H. (2020): Familienblogs – Suche nach Gemeinschaft und Selbstinszenierung. Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung.

Löhmann, B. (2007). Blogs sind? Blogs Sind! In: Lehmann, K. & Schetsche, M. (Hrsg.): Die Google- Geselschaft: vom digitalen Wandel des Wissens. Bielfeld: transcript-Verlag, S. 221-228.

Mayring, P. (2015). Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken. Weinheim: Belz Juventa.

Mikosch, S. (2018). Kindergartenfrei in der Praxis: Wie du als Mutter Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung unter einem Hut bekommst. Leipzig: tologo Verlag.

Rennefanz, S. (2018): Anti-Kita-Bewegung: „Keiner kennt meinen Sohn so gut wie ich“. In: Berliner Zeitung. URL: https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/anti-kita-bewegung-keiner-kennt-meinen-sohn-so-gut-wie-ich-li.18610?pid=true

Statistisches Bundesamt (2020). Kindertagesförderung. Abgerufen am 12.08.2021 von URL: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Kindertagesbetreuung/Tabellen/betreuungsquote-2018.html?nn=211240

Schmidt, T., Smidt, W. (2021): Selbstbildung, Ko-Konstruktion oder Instruktion? Orientierungen von Erzieherinnen und Kindheitspädagoginnen zur Förderung von Kindern im Kindergarten, in: Zeitschrift für Pädagogik, 67(2), S. 251-274.

Stoeck, J. (2021). Eine Kindheit ohne Kindergarten: Eine empirische Studie zu Eltern und ihren Kindern. Wiesbaden: Springer VS.

Unverbogen Kind sein (o.D.). Abgerufen am 17.06.2021 von URL: https://unverbogenkindsein.de

Unverbogen Kind sein. Fünf Gründe gegen Fremdbetreuung. Abgerufen am 20.06.2021 von URL: https://unverbogenkindsein.de/2018/09/14/kindergartenfrei-fuenf-gruendegegen-fremdbetreuung

Winkler, M. (1982): Stichworte zur Antipädagogik. Elemente einer historisch-systematischen Kritik, Stuttgart: Klett-Cotta.

Ansprechpersonen

Alina Ort, B.A. ist Kindheitspädagogin und studiert seit dem Wintersemester 2021/22 den Masterstudiengang Wissenschaft Soziale Arbeit an der Hochschule Neubrandenburg.

Prof. Dr. Ulf Sauerbrey ist Erziehungswissenschaftler und lehrt an der Hochschule Neubrandenburg.


Fußnoten

[1] Fehlerhafte Rechtschreibung und Grammatik aus den Blogs wurden in den direkten Zitaten in diesem Kapitel beibehalten.

[2] Der Begriff Kindertageseinrichtung wird in den Weblogs kaum verwendet, es werden überwiegend die Begriffe Kindergarten und ‚Fremdbetreuung‘ (vgl. dazu auch Fußn. 4) genutzt.

[3] In den Blogs sind keine Seitenzahlen enthalten, daher fehlen diese in der Zitation.

[4] Die Formulierung ‚Fremdbetreuung‘, die in der Kindheitspädagogik kein eigener Fachbegriff ist, ist in den Blogs wiederholt zu lesen. Fachlich hat diese Formulierung allerdings keine Substanz, da es ja gerade das Ziel von Eingewöhnung ist, dass die pädagogischen Fachkräfte zu vertrauten Personen werden.

[5] In vielen ‚Kindergartenfrei‘-Blogs ist kaum ersichtlich, ob beide Elternteile an der Selbstbetreuung beteiligt sind. Es hat jedoch den Anschein, als ob die Mutter einen Großteil der Betreuung ausüben. Zudem sind fast alle Blogs gegenwärtig von Frauen verfasst.

Der Umgang mit Besonderheit: Wie Kinder mit und ohne sog. Behinderung in der Kita gefördert werden

| Katja Zehbe |

Alle Kinder gelten als besonders und doch werden einige von ihnen als besonders besonders markiert. Das liegt zum einen an festgestellten Diagnosen einer sog. Beeinträchtigung, aber auch an impliziten Adressierungen der Kinder durch die Erwachsenen, also wie pädagogische Fachkräfte die Kinder ansprechen und (un-)gleich behandeln bzw. über sie sprechen.

In meiner Dissertation

  • habe ich mit pädagogischen Fachkräften darüber gesprochen, wie sie Kinder mit und ohne sog. Behinderung in der Kindertageseinrichtung fördern,
  • habe mir die Kita-Konzeptionen von den Einrichtungen dazu angeschaut.

Die Arbeit untersucht damit ein Grunddilemma der Pädagogik und der Umsetzung von Inklusion genauer und nimmt dafür das Handlungsfeld Kindertageseinrichtung konkret in den Blick. Der Umgang resp. die Verhandlung von individueller Besonderheit und kollektiver Norm gilt als genuines pädagogisches Spannungsfeld (vgl. Prengel 2010, S. 45; vgl. Redlich et al. 2015, S. 10). Die Forderungen zur Umsetzung von Inklusion beleuchtet dieses Spannungsfeld nun noch einmal ganz spezifisch: Wenn Individualität und Vielfalt geachtet, anerkannt und gefördert werden sollen, so müsste eine kompensatorisch-angleichende Förderung von Kindern quasi obsolet oder zumindest diskussionswürdig werden. Dies widerspräche jedoch dem an die Kindertageseinrichtungen ebenfalls gesetzlich formulierten Auftrag, die Kinder auf die Schule vorzubereiten und im Sinne von Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit familienergänzende und familienunterstützende Bildungsaufgaben zu übernehmen. Pädagogische Fachkräfte stehen damit vor der Herausforderung, zugleich präventiv und inklusiv Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten (Zehbe 2021).

Was will das Projekt/Was ist das Phänomen?

Das Dissertationsprojekt (im Folgenden: Zehbe 2021) hat herausgearbeitet, warum welche Kinder wie und mit welchem Ziel in der Kita gefördert werden. Der Fokus der Arbeit lag dabei auf der Bedeutung der Kompetenz(weiter)entwicklung der Kinder in der Förderung.  Es geht um eine Klärung, was individuelle und/oder individualisierte Förderung als spezifischer Teil der pädagogischen Adressierung von Kindern in der Kindertageseinrichtung aus Sicht der pädagogischen Fachkräfte ist, was sie ausmacht und wie sie umgesetzt wird.

Es war ein Anliegen, genau zu beleuchten, inwiefern die pädagogischen Fachkräfte in ihren Erzählungen und Beschreibungen von Förderung sich an der Individualität der Kinder, ihren Themen, Interessen, Bedürfnissen und Wohlbefinden und/oder an individuellen Bedarfen, die von Professionellen festgestellt wurden, orientieren. Erfolgt (individuelle) Förderung also vor dem Hintergrund einer standardisierten Entwicklungsnorm und/oder einer individuellen Entwicklungsnorm? Und wie legitimieren die Fachkräfte ihr Handeln, womit begründen sie die (individuelle) Förderung? Inwiefern gibt es hier Unterschiede zwischen Kindern mit und ohne sog. Behinderung? Und welche Orientierungen sind in der jeweiligen einrichtungsspezifischen Kita-Konzeption zu finden? Welche Zusammenhänge gibt es hier?

Aus diesen Entwürfen von und Orientierungen zu (individueller) Förderung lässt sich dann berechtigt fragen: (Wie) Wird Inklusion hier sichtbar? Wie werden Inklusion und Förderung von pädagogischen Fachkräften verstanden?

Wie bin ich vorgegangen?

Dafür wurde mit 21 pädagogischen Fachkräften ohne Zusatzqualifikation für Integration oder Inklusion in insgesamt vier öffentlichen Kindertagesstätten in Berlin und Brandenburg in jeweils unterschiedlicher Trägerschaft gesprochen. Mit der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2014) habe ich die volltranskribierten leitfadengestützten Expert_inneninterviews mehrschrittig ausgewertet. Bei der Rekonstruktion der Orientierungen aus dem Interviewmaterial und auch den Kita-Konzeptionen bin ich explorativ vorgegangen, d.h. ich habe nicht geschaut, inwiefern aus der Theorie stammende Definitionen von Förderung und Inklusion hier auftauchen, sondern was das Material selbst als Förderung und Inklusion setzt und entwirft.

Was ist das Ergebnis?

Individuelle Förderung wird von den pädagogischen Fachkräften in einem Spannungsfeld entworfen (im Folgenden: Zehbe 2021): Die Fachkräfte stehen vor der Herausforderung, den Umgang mit Individualität und Normen in der Förderung der Kinder selbst aushandeln zu müssen. Die Vorgaben vom Bund, den Ländern sowie der Träger und Kita selbst beinhalten einen doppelten Auftrag: nämlich inklusiv wie präventiv Kinder individuell zu fördern. Darin liegt jedoch ein nicht auflösbarer Widerspruch. Die pädagogischen Fachkräfte können damit dieses Spannungsfeld nicht auflösen, jedoch bearbeiten. Sie tun dies  auf unterschiedliche Weise (detailliert: ebd., S. 173-199).

Im Typ „Inklusive Individualisierung“ ist ein reflexives Element in der Förderung enthalten, d.h. die Fachkräfte entwickeln aus den beobachteten Bedürfnissen, Themen und Interessen des Kindes eine auf sie abgestimmte individualisierte Förderung, mitunter alltagsintegriert, segregativ, in Kleingruppen oder in einem Eins-zu-Eins-Setting. Sie sehen sich in einer begleitenden Rolle und achten die Vielfalt in der Entwicklung der Kinder. Im Hinterkopf haben sie jedoch auch normative Entwicklungsmaßstäbe, um ggf. auf mögliche Entwicklungsaufgaben bestmöglich reagieren zu können. Dabei machen sie in der Förderung von Kindern mit und ohne sog. Behinderung keinen Unterschied. In diesem Typ besteht die Gefahr, dass mögliche Bedarfe des Kindes in einer langfristigen Entwicklungsperspektive zu wenig Beachtung erhalten. Inklusion erscheint als Projekt von Anerkennung.

Im Typ „Inklusive Normierung“ orientieren sich die pädagogischen Fachkräfte vor allem an standardisierten Entwicklungserwartungen und statistischen Durchschnittswerten für die kindliche Entwicklung. Ziel der Förderung ist es, dass alle Kinder auf den gleichen Entwicklungsstand kommen. Hierfür werden die Kinder als Kollektiv angesprochen, alle bekommen die gleiche Aufgabe, der Weg zur Bearbeitung von Aufgaben und Projekten wird von den Fachkräften vorgegeben, die Kinder sollen die ‚richtige‘ Antwort herausfinden. Kinder mit sog. Behinderung oder Entwicklungsauffälligkeiten werden interdisziplinär im Team gefördert. I.d.R. erhält das Kind dann in einer leistungshomogenen Kleingruppe zusätzliche Förderung durch eine spezifisch geschulte Fachkraft, den Kindern wird hier kaum Raum zur Mitbestimmung gegeben. In diesem Typ könnte die Sorge in den Raum gestellt werden, dass die Kinder nicht genug in ihrer Individualität gesehen werden. Inklusion wird hier als Normalisierungsprojekt sichtbar.

Im Typ „Inklusives Miteinander“ geht es in der (individuellen) Förderung weder um interessengeleitete noch normativ-orientierte Förderung. Die Maxime des Handelns lautet hier für die Förderung von Kindern mit und ohne sog. Behinderung: ‚Wenn ich dich liebe und dir vertraue, dass wirst du deinen Weg gehen.‘ Es zeigen sich vor allem an der mütterlichen Rolle orientierte Werte. In diesem Typ droht professionelles Handeln in den Hintergrund zu treten, zugunsten von grundlegendem Vertrauen und Zuversicht in ein ‚Verwachsen‘ möglicher Entwicklungsprobleme. Inklusion wird hier vor allem als Projekt der Teilhabe sichtbar.

Interessant ist nun, dass sich die Typen in allen vier untersuchten Einrichtungen finden lassen. Es zeigt sich demnach eine Zufälligkeit und vor allem eine Subjektivität in der Förderung von Kindern mit und ohne Behinderung. Zwar weisen die einrichtungsspezifischen Kita-Konzeptionen auf ein eher normorientiertes bzw. ein eher an der Individualität orientiertes Bildungsverständnis hin, doch in jeder Einrichtung ist jeder der oben genannten drei Typen zu finden. Der Umgang mit Norm und Individualität in der individuellen Förderung wird demnach von den Fachkräften nicht nur unterschiedlich bearbeitet.

Diese Unterschiedlichkeit, Zufälligkeit und potenzielle Subjektivität pädagogischen Handelns in der Förderung verweist nun auf eine Illusion: Aus den unterschiedlichen Vorstellungen von Förderung lässt sich kein einheitliches Konzept einer chancengerechten, diversitätssensiblen, individuellen und individualisierten Förderung für alle Kinder ableiten. Im Gegenteil ist zu erwarten, dass sich die unterschiedlichen Orientierungen in der Förderung in Kindertageseinrichtungen auch in einer unterschiedlichen pädagogischen Begleitung zeigen würde, was Aspekte der Ungleichheit und Chancengerechtigkeit weiter bestärken bzw. (re-)produzieren könnte. Die Förderung eines Kindes wäre demnach überwiegend abhängig von der pädagogischen Fachkraft, und unterliegt damit eher dem Zufall. Dementsprechend würde dies bedeuten, dass Faktoren der Professionalisierung hier entgrenzt werden, weil die Fachkräfte individuell die Förderung gestalten, anstatt sich auf eine gemeinsame professionelle Basis wie die Vermeidung sozialer Ungleichheit rückzubeziehen.

Und was kann das für Praxis bedeuten?

Für die pädagogische Praxis bedeutet dies vor allem, die Organisationsentwicklung in Bezug auf Förderung und Inklusion in den Blick zu nehmen. Bedeutsam ist hierbei, dass Träger, Einrichtungen und das Personal in den Dialog treten, ihre Arbeit und Werte reflektieren und gemeinsam getragene Orientierungen entwickeln und umsetzen (z.B. mit Hilfe von Teamentwicklungstagen, Supervision oder Fortbildungen zu Fallverstehen).

Darüber hinaus sind Theorie und Praxis aufgefordert zunehmend interdisziplinär auf kindliche Bildungsprozesse von Kindern mit und ohne sog. Behinderung zu schauen. Kinder dürfen nicht zu Fällen einer eindimensionalen Förderung gemacht werden, sondern müssen mehrperspektivisch und ganzheitlich mit allen Beteiligten begleitet werden. Eine kindorientierte und diversitätssensible Perspektive ist dabei zentral. Erreicht werden kann dies durch die Implementation von Fallkonferenzen nach methodischen Vorbildern. Auch Video-Interaktions-Analysen im pädagogischen Handeln können einen Gegenstand bieten, über den die Fachkräfte in den Dialog kommen können. Ein gemeinsames Verständnis von Förderung bedingt eine gemeinsame Teamentwicklung und damit Arbeit an einem professionellen Verständnis, das auf wissenschaftlichen Ergebnissen beruht.

Literaturverweise

Bohnsack, Ralf (2014): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 9. Aufl. Opladen/Toronto: Barbara Budrich.

Prengel, Annedore (2010): Inklusion der Frühpädagogik. Bildungstheoretische, empirische und pädagogische Grundlagen. Expertise für das Projekt Weiterbildungsinitiative Frühpädagogischer Fachkräfte (WiFF). München: DJI.

Redlich, Hubertus/Schäfer, Lea/Wachtel, Grit/Zehbe, Katja/Moser, Vera (2015): Einleitung. In: Redlich, Hubertus/Schäfer, Lea/Wachtel, Grit/Zehbe, Katja/Moser, Vera (Hrsg.): Veränderung und Beständigkeit in Zeiten der Inklusion. Perspektiven sonderpädagogischer Professionalisierung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S. 9–15.

Zehbe, Katja (2021): Individuelle Förderung als pädagogisches Programm der frühkindlichen institutionellen und inklusiven Bildung. Eine rekonstruktive Studie zu Orientierungen von pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Ansprechperson

Dr. Katja Zehbe, zehbe@hs-nb.de
Vertretungsprofessorin für Kindheit und Sozialisation an der Hochschule Neubrandenburg, Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung