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Antisemitismus in der Kita? Einblicke in ein Forschungsprojekt zu Differenzkonstruktionen unter jungen Kindern

| Benjamin Rensch-Kruse, Saba-Nur Cheema & Yasmine Goldhorn |

Einleitung

Antisemitismus ist in Deutschland ein gesellschaftlich breit debattiertes und empirisch gut erforschtes Phänomen. Insbesondere in den letzten Jahren sind zahlreiche Studien und Beiträge entstanden, die Judenfeindschaft im Erziehungs- und Bildungssektor untersuchen bzw. problematisieren (vgl. exempl. Bernstein/Grimm/Müller 2022; Bernstein 2020; Grimm/Müller 2020). Im Bereich der frühen Kindheit wurde Antisemitismus als Forschungsgegenstand bisher jedoch schlichtweg ausgespart. Während unlängst pädagogisch-programmatische Arbeiten erschienen sind, die Antisemitismus in Kindertagesstätten thematisieren und die Notwendigkeit einer frühestmöglichen Prävention diskutieren (vgl. Kölsch-Bunzen 2023, 2022), existieren in Bezug auf die Frage, wie und inwiefern Antisemitismen in der frühen Kindheit eine Rolle spielen, noch keine empirischen Erkenntnisse. Hier klafft eine beachtliche Forschungslücke (vgl. Rensch-Kruse et al. 2023).

Dies ist aus zweierlei Gründen erstaunlich: Einerseits gilt die frühe Kindheit als basale Lebensphase für spätere Entwicklungen, in der erzieherische Einwirkungen als richtungsweisend betrachtet werden (vgl. exempl. Fried et al. 2003, S. 7 f.). Andererseits kann diskriminierenden bzw. Differenz herstellenden Verhaltensweisen in pädagogischen Verhältnissen nur dann frühzeitig begegnet werden, wenn sie als solche erkannt und verstanden werden. Hierzu bedarf es der Forschung, d.h. der Beobachtung, Beschreibung, Interpretation und Kritik der vorhandenen (pädagogischen) Diskurse und Praktiken sowie der Einschätzung ihrer Effekte (vgl. Diehm/Radtke 1999, S. 14). Ohne grundlegende Forschung in Einrichtungen der frühen Kindheit gibt es mit Blick auf Antisemitismusprävention praktisch keine Anhaltspunkte, an die pädagogisches Handeln anschließen könnte.

Das an der Goethe-Universität Frankfurt angesiedelte und unter der Leitung von Isabell Diehm († 2023) begonnene Teilprojekt ‚Antisemitismus unter jungen Kindern. Differenzkonstruktionen im Vor- und Grundschulalter (Relcodiff_ungesteuert)‘[1] stößt in die genannte Forschungslücke vor und untersucht antisemitische Differenzierungspraktiken unter jungen Kindern in Kindertagesstätten (Kita). Der folgende Beitrag gibt temporäre Einblicke in das Forschungsprojekt und präsentiert kursorisch erste Felderkenntnisse.

Vorgeschichte

Das Anliegen, Antisemitismus unter jungen Kindern zu untersuchen, hat eine längere Vorgeschichte. Isabell Diehm hat in ihrer umfassenden Forschung zu Differenzkonstruktionen im Kontext der frühen Kindheit immer wieder festgestellt, dass das Thema ‚Antisemitismus‘ weder in der sozialwissenschaftlichen noch in der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung vorkommt. Aus dieser ersten Feststellung sind über einen längeren Zeitraum das Interesse und der Wunsch erwachsen, eingehender der Frage nachzugehen, wie Antisemitismen im elementarpädagogischen Bereich zu erforschen wären und inwieweit Judenfeindschaft dort überhaupt vorkommt. Genauer gefragt: Inwiefern eignen sich Kinder antisemitische Haltungen und Anschauungen an und wie gebrauchen sie diese in ihrem Alltag?

Diese Frage hat Isabell Diehm nicht losgelassen und ihr empirisch beizukommen war ihr eine Herzensangelegenheit. Auf der Grundlage ihrer Beobachtungen, ihres Engagements und ihrer Initiative ist schließlich u.a. das hier zur Präsentation stehende Teilprojekt hervorgegangen, in dem wir mit Isabell Diehm bis zuletzt geforscht haben und in dem wir nun in ihrem Andenken weiterforschen.

Was will das Projekt/ Was ist das Phänomen?

Im Mittelpunkt der Forschung stehen (antisemitische) Differenzkonstruktionen unter Kindern in der Kita und die Frage, inwiefern sie auf judenfeindliche Unterscheidungsweisen Bezug nehmen, wie sie diese (re)produzieren und in alltäglichen Interaktionen anwenden. Von Interesse sind damit kindliche (diskursive) Praktiken des Differenzierens, die auf eine „antisemitische Semantik“ (Holz/Haury 2021, S. 21) hin untersucht werden. Antisemitismus[2] erfüllt eine das Wissen ordnende und damit die Wahrnehmung der Welt strukturierende Funktion. Antisemitische Wissensordnungen[3] beeinflussen, wie wir die Welt sehen, d.h. wie wir denken, sprechen und handeln.

Antisemitismus als Differenzkonstruktion zeigt sich wandelbar und die Frage, wie antisemitische Wissensordnungen unter jungen Kindern verhandelt und angewandt werden, kann insofern nur kontextabhängig und situationsspezifisch rekonstruiert werden (vgl. Rensch-Kruse et al. 2023). Da sich aufgeführte Praktiken des Unterscheidens i.d.R. nicht auf eine bestimmte Differenzkategorie beschränken lassen, sondern mehrere Differenzkonstruktionen im Spiel sind, wird der Fokus nicht ausschließlich auf antisemitische Unterscheidungsweisen gerichtet. Stattdessen wird ein offener Ansatz verfolgt, der von einer grundsätzlichen Wechselwirkung bzw. Intersektionalität im Kontext von Differenzkonstruktionen unter jungen Kindern ausgeht (vgl. Bak/Machold 2022).

Kurz gesagt: Es werden zwar ausdrücklich antisemitische Wissensordnungen und ihre Aufführung in (diskursiven) Praktiken in den Blick genommen, aber auch weitere Konstruktionen, die bspw. rassialisierende, religionsbegründete, kulturelle und nationale Unterscheidungen betreffen, können vom Datenmaterial ausgehend Gegenstand der Untersuchung sein.

Wie sind wir vorgegangen?

Um Zugang zu möglichen (antisemitischen) Praktiken des Differenzierens in Kitas[4] zu bekommen, haben wir uns für ein ethnographisches Vorgehen entschieden, das sich im Kitakontext bereits als fruchtbare Herangehensweise erwiesen hat (vgl. exempl. Machold 2015; Kuhn 2013). Dabei greifen wir auf Arbeiten der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung zurück, die wichtige Erkenntnisse für die Erforschung antisemitischer Unterscheidungspraktiken bereitstellen (vgl. Rensch-Kruse et al. 2023). Neben teilnehmenden Beobachtungen veranstalten wir videogestützte Gruppengespräche[5] mit Kindern zwischen vier und acht Jahren. Darüber hinaus führen wir leitfadengestützte Interviews mit pädagogischen Fachkräften, Kitaleitungen und Eltern.[6] Während uns die teilnehmenden Beobachtungen und Gruppengespräche Einblicke in interaktive kindliche Verhaltens- und Sprechweisen geben, ermöglichen uns die Interviews kontrastive Eindrücke in Erwachsenensichtweisen. Von der so herbeigeführten Möglichkeit, kindliche Praktiken des Differenzierens mit Erwachsenenperspektiven in Relation zu setzten, versprechen wir uns aufschlussreiche Erkenntnisse über die Art und Weise der Wahrnehmung und Zirkulation antisemitischer Wissensordnungen im jeweiligen Kitakontext.

Im Gegensatz zu den Erwachseneninterviews, wird das Thema Judenfeindschaft im Kontext der teilnehmenden Beobachtungen und Gruppengespräche von unserer Seite nicht explizit gemacht. Im Kontakt mit den Kindern kommen Kinderbücher, Bilder und Handpuppen zum Einsatz, die religiöse Symbole, wie bspw. eine Synagoge, einen Davidsstern oder eine Kippa zeigen bzw. tragen. In den Gruppengesprächen werden die Kinder zunächst aufgefordert zu beschreiben, was sie sehen. Erst auf dieser Grundlage werden sodann Gespräche initiiert. Mit diesem Vorgehen soll einerseits erreicht werden, dass Aussagen und Handlungen nicht durch eine direkte Konfrontation mit dem Forschungsthema hervorgelockt werden, sondern dass es vielmehr den Kindern überlassen bleibt, welche Assoziationen die präsentierten Materialien bei ihnen hervorrufen. Andererseits soll damit berücksichtigt werden, dass eine zu starke thematische Setzung eine Reifizierung von Differenz begünstigt (vgl. Diehm/Kuhn/Machold 2010).

Wird Judenfeindschaft offensiv thematisiert, so kann das bedeuten, die Kinder aus einer Erwachsenenperspektive mit etwas zu konfrontieren, dass sie selbst noch gar nicht kennen bzw. dessen Bedeutung ihnen noch gar nicht bewusst ist. Es geht uns darum, antisemitischen Differenzkonstruktionen unter Kindern nachzuspüren und dabei zu reflektieren, dass dieses Nachspüren-Wollen selbst Differenz(ierung)en hervorbringt. Die Arbeit mit den genannten Materialien bietet eine Möglichkeit, von den Vorstellungen der Kinder ausgehend den Forscher:innenblick auf entsprechende Unterscheidungen zu richten.

Was sind bisherige Ergebnisse?

Eine erste Durchsicht der leitfadengestützten Interviews fördert zutage, dass pädagogische Fachkräfte, Kitaleitungen und Eltern das Thema ‚Antisemitismus‘ prinzipiell nicht im Kitakontext verorten und entsprechend auch nicht über judenfeindliche Vorkommnisse in der Kita berichten. Neben Aussagen, die darauf hinweisen, dass Antisemitismus unter jungen Kindern kaum bis gar nicht vorstellbar ist („Kinder grenzen noch nicht so aus; Kinder sind eher offen“) bzw. schlichtweg nicht vorkommt („Gar nicht. Also, da habe ich nichts von gehört“; „Ist überhaupt kein Thema hier“; „Ne, fällt mir jetzt direkt nicht ein“) lassen sich Bemerkungen finden, die die Abwesenheit judenfeindlicher Vorkommnisse an das vermeintlich fehlende Vorhandensein jüdischer Kinder knüpfen („Jüdische Kinder haben wir glaube ich gar nicht“).

Dabei fällt auf, dass viele der Interviewten nicht sicher sagen können, ob es überhaupt jüdische Kinder in der jeweiligen Einrichtung gibt. Hier lässt sich Unsichtbarkeit auf Seiten der Kinder und Unsicherheit auf Seiten der Erwachsenen feststellen. Während die Vorstellung, dass Antisemitismus in der Kita aufgrund des jungen Alters der Kinder nicht vorkäme, auf den Topos des ‚unschuldigen Kindes‘ (vgl. Bühler-Niederberger 2005) verweist, kann die gängige Praktik, Judenfeindschaft an jüdische Präsenz zu binden, auf fehlendes Wissen über Antisemitismus zurückgeführt werden.[7] Ohne an dieser Stelle genauer auf die Ergebnisse eingehen zu können, kann in Bezug auf die Frage, wie Antisemitismus im Kitakontext von Seiten der Erwachsenen thematisiert wird, von einer ‚Dethematisierung‘ gesprochen werden. Die überwiegende Zahl der Interviewten geht davon aus, dass Kinder weder über antisemitisches Wissen verfügen, noch dass Judenfeindschaft in der Kita vorkommt.

Dies steht in einem eklatanten Widerspruch zu den Erkenntnissen, die wir während der teilnehmenden Beobachtungen und Gruppengespräche unter den Kindern gemacht haben. So hat sich gezeigt, dass bereits junge Kinder Jüdinnen und Juden als solche identifizieren und in einzelnen Fällen mit Begriffen beschreiben, die antisemitischen Wissensordnungen entstammen. In der Auseinandersetzung mit den Kinderbüchern, Bildern und Handpuppen sind Jüdinnen und Juden von manchen Kindern als ‚reich‘, ‚wohlhabend‘ und ‚böse‘ adressiert worden. Auch phänotypische Merkmale, wie bspw. die Zuschreibung einer ‚großen Nase‘, wurden benannt.

Dabei ist es wichtig hervorzuheben, dass die Kinder die von ihnen getätigten Aussagen i.d.R. nicht begründen können und offenbar nur über wenig bis gar kein Kontextwissen verfügen. So inkonsistent und unvermittelt, wie die Aussagen kommen, so sprunghaft und aus dem Zusammenhang gerissen erscheint die Argumentation. Einen siebenjährigen Jungen gefragt, woher er wisse, dass Jüdinnen und Juden „ekelhaft“ und „gefährlich“ seien, gibt uns dieser zur Antwort: „ich weiß es selbst einfach. Ich hab nur nachgedacht“. Junge Kinder verfügen noch nicht über ein gefestigtes weltanschauliches Repertoire, auf das sie bewusst zurückgreifen. Sie sprechen aus, was ihnen in den Sinn kommt, was ihnen in der jeweiligen Situation nutzt, womit sie Aufmerksamkeit erregen und zeigen können, was sie wissen. Obgleich sie die Herkunft und Bedeutung einer getätigten Aussage nicht immer erklären können, verstehen sie doch sehr gut, dass ihr Handeln etwas bewirkt.

Was kann das für die pädagogische Praxis bedeuten?

Das vorgestellte Forschungsprojekt untersucht Antisemitismus in Einrichtungen der frühen Kindheit und stößt damit in eine sowohl in der Antisemitismusforschung als auch der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung klaffende Forschungslücke vor. Die bisherigen empirischen Erkenntnisse verweisen auf eine Dethematisierung von Antisemitismus im Kitakontext, die in deutlichem Widerspruch zu den im Feld beobachteten kindlichen Praktiken des Unterscheidens stehen. Antisemitische Wissensordnungen werden von Kindern in der Kita (re)produziert und angewandt. Mit Blick auf die pädagogische Praxis stellen sich u.E. damit folgende Fragen:

  • Inwiefern handelt es sich bzgl. der genannten Dethematisierung um ein strukturelles Problem, das auf fehlende Professionalisierungsformate und institutionelle Mechanismen zurückzuführen ist? Nur wenn über das individuelle Engagement einzelner Pädagog:innen hinaus auch auf institutioneller Ebene durchdringt, dass Judenfeindschaft bereits in der frühen Kindheit virulent ist, können weitreichende Maßnahmen ergriffen werden, die Antisemitismusprävention in Einrichtungen der frühen Kindheit fördern.
  • Wie lässt sich mit antisemitischen Differenzierungspraktiken unter jungen Kindern adäquat umgehen, wenn sie die inhaltliche Tragweite ihres Handelns noch nicht begreifen? Genauer gefragt: Wie kann mit jungen Kindern über Antisemitismus auf eine Weise gesprochen werden, die (be)schützt, erklärtund wenn nötig auch deutliche Grenzen aufzeigt?

Mit unserem Forschungsprojekt hoffen wir nicht zuletzt dazu beizutragen, dass diese und weitere Fragen Eingang in die pädagogische Praxis finden.

Literatur

Bak, R., Machold, C. (2022): Kindheit und Kindheitsforschung intersektional denken. Eine Suchbewegung. In: R. Bak & C. Machold (Hrsg.): Kindheit und Kindheitsforschung intersektional denken. Theoretische, empirische und praktische Zugänge im Kontext von Bildung und Erziehung. Wiesbaden: Springer VS, S. 1-19.

Bernstein, J. (2020): Antisemitismus an Schulen in Deutschland: Befunde – Analysen – Handlungsoptionen. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Bernstein, J., Grimm, M., Müller, S. (Hrsg.) (2022): Schule als Spiegel der Gesellschaft. Antisemitismen erkennen und handeln. Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag.

Bühler-Niederberger, D. (Hrsg.) (2005): Macht der Unschuld: Das Kind als Chiffre. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Diehm, I., Kuhn, M., Machold, C. (2010): Die Schwierigkeit, ethnische Differenz durch Forschung nicht zu reifizieren – Ethnographie im Kindergarten. In: A. Panagiotopoulou & F. Heinzel (Hrsg.): Qualitative Bildungsforschung im Elementar- und Primarbereich. Bedingungen und Kontexte kindlicher Lern- und Entwicklungsprozesse. Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 78-92.

Diehm, I., Radtke, F.-O. (1999): Erziehung und Migration. Eine Einführung. Stuttgart. Kohlhammer.

Fried, L., Dippelhofer-Stiem, B., Honig, M.-S., Liegle, L. (2003): Einleitung. In: L. Fried, B. Dippelhofer-Stiem, M.-S. Honig & L. Liegle (Hrsg.): Einführung in die Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim, Basel & Berlin: Beltz, S. 7-13.

Grimm, M., Müller, S. (Hrsg.) (2020): Bildung gegen Antisemitismus. Spannungsfelder der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag.

Holz, K., Haury, T. (2021): Antisemitismus gegen Israel. Hamburg: Hamburger Edition.

Kölsch-Bunzen, N. (2023): Kindertageseinrichtungen gegen Antisemitismus. Aus guten Geschichten lernen. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Kölsch-Bunzen, N. (2022): Gut aufgestellt gegen Antisemitismus? Die Förderung von Antisemitismusprävention in Kindertagesstätten und Schulen durch Kinderbibeln, Kinderkorane und Schulbücher. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Kuhn, M. (2013): Professionalität im Kindergarten. Eine ethnographische Studie zur Elementarpädagogik in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS.

Lendvai, P (1972): Antisemitismus ohne Juden. Entwicklungen und Tendenzen in Osteuropa. Wien. Europaverlag.

Machold, C. (2015): Kinder und Differenz. Eine ethnografische Studie im elementarpädagogischen Kontext. Wiesbaden: Springer VS.

Rensch-Kruse, B., Cheema, S.-N., Goldhorn, Y., Diehm, I. (2023): Antisemitismus unter jungen Kindern. Forschungsgrundlagen und -reflexionen im Kontext einer Differenzforschung in Einrichtungen der frühen Kindheit. In: E. Ilgün-Birhimeoğlu & S. Bostancı (Hrsg.): Elementarpädagogik in der Migrationsgesellschaft. Theoretische und empirische Zugänge zu einer rassismuskritischen Pädagogik. Weinheim & Basel: Beltz Juventa. i.E.

Reckwitz, A. (2012): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.


[1] Das Teilprojekt ist eines von drei Teilprojekten des vom BMBF geförderten Verbundprojekts ‚Antisemitismus in pädagogischen Kontexten. Religiös codierte Differenzkonstruktionen in der frühen und mittleren Kindheit (RelcoDiff)‘. Genauere Infos unter www.relcodiff.uni-frankfurt.de

[2] Ohne den Begriff und seine unterschiedlichen Definitionen und Ausprägungen an dieser Stelle eingehend diskutieren zu können, verstehen wir unter ‚Antisemitismus‘ eine Sammelbezeichnung für Diskurse und Praktiken, die als ‚Juden‘ bzw. ‚jüdisch‘ wahrgenommene Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen aufgrund eines mit bestimmten negativen Eigenschaften festgeschriebenen ‚jüdisch-Seins‘ abwerten und/oder anfeinden.

[3] ‚Wissensordnungen‘ werden im Anschluss an Andreas Reckwitz (2012, S. 146) als kollektive „Sinnmuster“ verstanden, die „das ‚Verstehen‘ der Umwelt und Welt anleiten“.

[4] Wir forschen in insgesamt vier Kindertagesstätten einer deutschen Großstadt.

[5] Wir sprechen bewusst nicht von Gruppendiskussionen, weil unter den Kindern zumeist kein wechselseitiger Austausch von Argumenten über ein bestimmtes Thema stattfindet, sondern ein offener mitunter sprunghafter Gedankenaustausch, in den die Forscher:innen nolens volens involviert sind, und der durch (Nach-)Fragen, Erklärungen, Behauptungen, inhaltliche Abschweifungen und kindliche Impulsivität gekennzeichnet ist.

[6] Bisher haben wir 19 Interviews geführt.

[7] Paul Lendvai (1972) hat bereits Anfang der 1970er Jahre auf das Phänomen eines „Antisemitismus ohne Juden“ aufmerksam gemacht.

„Ich spüre, dass diese Beobachtung eigene biografische Erlebnisse hervorruft…“ (Auto)Ethnografische Reflexionspotenziale am Beispiel neu-materialistischer Kindheitsforschung zu Akteur:innenschaft und Partizipation

| Jan-Niclas Peeters |

Einleitung

Verbunden mit dem Anliegen einer Exploration frühpädagogischer Felder konstatiert Neumann (2013) bereits vor einem Jahrzehnt einen Bedeutungszuwachs ethnografischer Zugänge innerhalb der Kindheitsforschung. Konstitutives Merkmal der Ethnografie ist das (teilnehmende) Forschen am ‚Ort des Geschehens‘, ebenjenen sogenannten Feldern. Frühpädagogische Felder wie Kindertageseinrichtungen werden in den entsprechenden Studien zunehmend aber nicht nur als Ort der Forschung, sondern zugleich als deren Gegenstand definiert (exemplarisch Göbel, 2018). Die von Neumann (2013) einst aufgeworfene Frage, „[w]enn ethnografische Forschung im Feld der Frühpädagogik beobachtet, macht sie es dann auch zum Gegenstand?“ (S.12; Herv. i. Orig.), behält jedoch ihre Relevanz. Denn ungeachtet einer Betrachtung des Feldes ‚Kindertageseinrichtung‘ als Gegenstand impliziert dies die weitergehende Frage: Inwiefern macht sie es dann auch zum Gegenstand?

Bailey (2020) folgend zeigt sich das Feld eng mit sozialen (z.B. durch Interaktionen) bzw. materiellen Praktiken (z.B. durch die Nutzung von Gegenständen) verwoben. Mit dem Entstehen von Praktiken im Feld als Ort gestaltet sich dieses zugleich und wird somit veränderlich hervorgebracht. Damit scheint ein Verständnis vom Feld als ausschließlicher Ort von Forschung also auch dann verkürzt, wenn ein scheinbar feldunabhängiges Gegenstandsinteresse vorausgesetzt wird. Vielmehr tritt das jeweilige Feld als Gegenstand immer schon dadurch in Erscheinung, da es eben nicht nur als Produzentin, sondern zugleich als Produkt sozialer bzw. materieller Praktiken verstanden werden kann. Fokussiert man auf die an den Praktiken beteiligten Akteur:innen, so muss explizit auch die Rolle von Forschenden in den Blick genommen werden – auch sie bewegen sich im Feld.

Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Beitrag im Spezifischen für die Konstitution des Feldes Kindertageseinrichtung durch die (eigene) Rolle als Forscher:in sensibilisieren. Zwar hat Clifford Geertz bereits um 1970 im Rahmen der sogenannten Krise der ethnografischen Repräsentation auf die Involviertheit von Forschenden in der ethnografischen Wissensproduktion aufmerksam gemacht (Gottowik, 1997). Doch gleichwohl dies inzwischen als ethnografisches Selbstverständnis bezeichnet werden kann, beschreibt Anderson (2006) die anhaltende „tendency to downplay or obscure the researcher as a social actor in the settings or groups“ (p. 376). Anstelle dieses Herunterspielens und Verschleierns des Einflusses von Forschenden als Akteur:innen lässt sich vielmehr vergegenwärtigen, dass das von Forscher:innen hervorgebrachte Wissen „is situated by what they ‚see‘ in the field, which in turn is situated by what they ‚look‘ for and/or are given ‚access‘ to“ (Bailey, 2020, p. 734). Das Bewusstsein um ein durch Zugang und eigener Perspektive selektives Wissen gewinnt gerade auch dann an Bedeutung, wenn verschiedentlich Befremdungsstrategien in der Hinwendung zum ‚Eigenen‘ unter dem Aspekt einer Objektivierung diskutiert werden (exemplarisch Kuhn & Neumann, 2015). Damit verdichten sich die bisherigen Darlegungen in der für diesen Beitrag zentralen Frage: Inwiefern und mit welchen Implikationen sind Forschende als Akteur:innen in die Konstitution des Feldes involviert?

Was will das Projekt/ Was ist das Phänomen?

Entlang der thematischen Fokussierung des seit 2021 laufenden Dissertationsprojekts „Partizipation als un-bestimmtes Phänomen“[1] hat sich beim Forschenden eine zunehmende Sensibilisierung für das Thema von Involviertheit eingestellt. Zuvorderst ursächlich hierfür ist der inhaltliche Rekurs auf das um 1980 im Kontext der New Social Childhood Studies (NSCS)entstandene und bis heute wirkmächtige Paradigma von Kindern als kompetente Akteur:innen (Mierendorff, 2018). Dieses Paradigma verleiht sich im Rahmen frühpädagogischer Theorie und Praxis deutlich im Partizipationsbegriff Ausdruck und misst Involviertheit damit zentrale Bedeutung bei (König, 2021). Kritisch blickt das Dissertationsprojekt dabei auf eine entlang der NSCS aufgerufenen Heuristik, die als eine Art vereinfachter Denkansatz selbstreferenziell die romantisierende Vorstellung eines a priori kompetenten Kindes (re-)produziert. Durch eine derart vorgefasste Annahme kann übersehen werden, inwiefern und durch wen oder was die im Partizipationsbegriff verankerte Involviertheit als Akteur:in in situ hervorgebracht wird (Balzer & Huf, 2019). Weiterhin berücksichtigt werden empirische Befunde, die überdies bereits eine in Bezug auf Partizipation häufig vorzufindende Engführung auf formalisierte Verfahren wie Kinderparlamente oder Abstimmungsverfahren kritisieren (Höke, 2016;  Neumann et al., 2019). Somit wird insgesamt eine vorgefasste Fokussierung auf ‚das kompetente Kind‘ sowie ein vermeintliches Wissen über spezifische Partizipationskontexte kritisch hinterfragt. In diesem Zusammenhang verschreibt sich das Dissertationsprojekt der Forderung einer Dezentrierung des Kindes innerhalb der Kindheitsforschung (Spyrou, 2018) und perspektiviert dies auf der Grundlage posthumanistischer Theorieangebote des sogenannten Neuen Materialismus. Unter Rückgriff auf die wohl prominenteste Vertreterin des Neuen Materialismus, Karen Barad (2007), wird Partizipation demnach als zunächst unbestimmtes Phänomen verstanden, das erst im Rahmen sogenannter Intra-aktionen materiell-diskursiver Praktiken partielle Bestimmtheit erlangt. Im Gegensatz zur Interaktion sind Akteur:innen im Rahmen der Intra-Aktionen nicht prädeterminiert; wer oder was als Subjekt bzw. Objekt involviert wird, (re-)konstituiert sich also erst im Geschehen selbst (Garske, 2014). Hinsichtlich der Frage nach Akteur:innenschaft und Involviertheit wird damit einerseits eine anthropozentrische Ontologie, die den Menschen in den Mittelpunkt des Seins stellt und die Umwelt vernachlässigt, grundlegend in Frage gestellt. Anerkannt wird stattdessen eine Lebendigkeit der ‚Dinge‘ (Tesar & Arndt, 2016), die in der Verbindung mit Kindern, aber auch für sich genommen, einen Subjektstatus einnehmen können. Die sich darin widerspiegelnde posthumanistische[2] Grundannahme einer aktiven ‚Welt‘, bei der Grenzen zwischen humanen und nicht-humanen Entitäten wie Menschen und Dingen fluide erscheinen, hat andererseits relevante Konsequenzen auf die einleitend gestellte zentrale Frage, inwiefern und mit welchen Implikationen auch Forschende selbst als Akteur:innen in die Konstitution des Feldes involviert sind. Barad (2007) folgend können Forschende nicht als neutrale Instanz einer vermeintlich objektiv zugänglichen und außerhalbliegenden Welt verstanden werden. Im Gegenteil: sie sind selbst Teil der Welt, die sie beforschen und somit aktiv an der Hervorbringung dieser bzw. das ‚Wissen‘ über sie beteiligt. Ontologische Fragestellungen, die die Frage nach dem ‚Seienden‘ stellen, sowie epistemologische Fragestellungen, die sich mit dem Aspekt der diesbezüglichen Wissensproduktion befassen, sind in diesem Sinne untrennbar miteinander verwoben. Forschende sind dabei nicht nur gefordert, die Art und Weise, wie sie in die Wissensproduktion involviert sind, permanent zu reflektieren. Vielmehr geht es in diesem Verständnis um eine produktive Wendung, bei der die eigene Involviertheit ebenso einer analytischen Betrachtung unterliegt.

Wie bin ich vorgegangen?

Als methodologische[3] ‚Antwort‘ auf die zur Involviertheit skizzierten Implikationen wurde sich der sogenannten Analytischen (Auto)Ethnografie (AAE) nach Anderson (2006) angeschlossen. Die Umsetzung fordert die Berücksichtigung fünf sogenannter „key features“ (p. 378) ein: Grundvoraussetzung ist (1) die Akzeptanz, dass Forscher:innen selbst Teil des von ihnen beforschten Feldes sind. Eine Fokussierung auf die eigene Person sowie das übrige Geschehen ist daher im gesamten Forschungsprozess angezeigt. Beidem möglichst gerecht zu werden, kann aber nur dann gelingen, wenn (2) eine analytische Reflexivität eingenommen wird, vor deren Hintergrund die (eigenen) komplexen Verstrickungen im Beobachtungsprozess sowie die daraus resultierenden Forschungsdaten betrachtet werden. Ein solches Bewusstsein allein reicht allerdings nicht aus. Vielmehr bedarf es (3) einer Sichtbarkeit von Forschenden in den zugehörigen Dokumenten. Im Rahmen des Dissertationsprojektes werden daher auch Beobachtungen, die auf den Forschenden rekurrieren, in Form von Feldnotizen, dichten Beschreibungen sowie der Berichtlegung analytisch aufgenommen und expliziert. Entgegen einer Überbetonung der eigenen Person gilt dabei (4) der Anspruch, das Feld in seiner Gesamtheit nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn auch wenn Forschende involviert sind, sind sie eben nur ein Teil des Feldes. Eine (5) Verpflichtung zu einer analytischen Agenda soll schließlich sicherstellen, dass diese Balance auch vor dem Hintergrund der Forschungsfrage gewahrt bleibt und die so gewonnen Forschungsdaten zielorientiert analysiert werden können.

Zur konkreten Veranschaulichung dieser Perspektive wird exemplarisch eine kurze Beobachtungssequenz aus einer Kindertageseinrichtung präsentiert, die im Rahmen einer ersten Feldphase (August-Oktober 2022) in Anlehnung an Anderson (2006) qua teilnehmender Beobachtung erhoben sowie mit Blick auf die unter Punkt (5) benannte analytische Agenda im Zusammenspiel mit der konstruktivistischen Grounded Theory nach Charmaz (2014) analysiert wurde.

Was ist das Ergebnis?

Die nachfolgende Sequenz hat sich während einer Freispielphase im Außenbereich der Kindertageseinrichtung zugetragen. Der Forschende richtet seine Aufmerksamkeit auf sechs beieinanderstehende sowie ein leicht abseitsstehendes Kind und versucht, die Bedeutung der beobachteten Positionierungen der Kinder zu ergründen.

Ich denke darüber nach, dass mir Marius schon häufiger in einer eher abseitigen Position aufgefallen ist, wenngleich er sich immer wieder aktiv in etwaige (Gruppen)Geschehen einzubringen versucht. Ich spüre, dass diese Beobachtung eigene biografische Erlebnisse hervorruft und sich eine Art Solidarisierungsempfinden gegenüber Marius einstellt. Ich schaue Marius genauer an. Sein Blick ist in Richtung der anderen Kinder gerichtet, die einen Kreis bilden, der in Richtung Marius leicht geöffnet ist. Erst in diesem direkten Vergleich fällt mir auf, dass alle unmittelbar im Kreis befindlichen Kinder einen Stock in der Hand halten, während Marius selbst keinen Stock in der Hand hält.

Mit der gedanklichen Fokussierung auf die abseitige Position von Marius wird dieser nicht nur im lokalen Geschehen, sondern auch im analytischen Zugriff durch den Forschenden separiert von jeweils unterschiedlichen Kindergruppen verortet. Dies kann insofern als eine zweifache Exklusivität beschrieben werden, als sich hier einerseits eine Ausgrenzung von Marius gegenüber den „anderen Kinder[n]“ manifestiert, Marius jedoch andererseits zugleich eine besondere Aufmerksamkeit des Forschenden zu Teil wird. Der Ursprung dieser Aufmerksamkeit hängt augenscheinlich mit der retrospektiven Einordnung der Kind(er)positionierungen zusammen. Dass der Forschende die gegenüber anderen Kindern separierte Positionierung von Marius bereits „häufiger“ wahrgenommen hat, verweist dabei auf ein iteratives, also sich wiederholendes Geschehen, das sich unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen auch dann einzustellen scheint, wenn Marius sich aktiv gegen die separierende Positionierung wendet und um Partizipation bemüht. Die dichte Beschreibung offenbart, dass der Forschende die Beobachtungen um Marius mit eigenen biografischen Erlebnissen verknüpft. Zwar werden die Evokationen im Sinne eines bewussten Hervorrufens von Erinnerungen mit Ausnahme des Solidarisierungsaspektes nicht weiter expliziert, doch lässt allein ihr bewusstes Aufkommen und die nachhaltige Materialisierung im Rahmen der dichten Beschreibung eine besondere Bedeutung des Geschehens für den Forschenden annehmen. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus plausibel, dass die Aufmerksamkeit für die Positionierung von Marius und den mithin involvierten Kindern in dieser sowie in den erinnerten Situationen ursprünglich nicht allein in den Beobachtungen vor Ort liegt. Weitergehend scheint sie auch in der spezifischen Biografie des Forschenden begründet zu sein. Die einleitend benannte Konstitution des Feldes kann demnach nicht nur allgemein mit der Involviertheit des Forschenden in situ gefasst werden. Konkreter erweitert sich das Feld in seiner vermeintlich räumlich-zeitlichen Begrenzung auf die (Beobachtung in der) Kita um die (zurückliegende) Lebenswelt des Forschenden. Gegenstandsbezogen führt die daraus resultierende Aufmerksamkeit für das Geschehen schließlich zu einer konzentrierten und vergleichenden Betrachtung der beschriebenen Kind(er)positionierungen. Bei dieser rückt über die Kinder hinaus auch ein Besitz von Stöcken in den Fokus. Die dadurch wahrgenommenen materiellen Bezugnahmen, ließen sich sich im weiteren Verlauf des Forschungsprojektes immer wieder beobachten. Mit Blick auf das Forschungsinteresse konnten sie schließlich zu der vorläufigen Kategorie einer „Partizipation durch (nicht-)humane Verschränkungen“ verdichtet werden.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Mit der AAE wurde sich um die von Anderson (2006) postulierte Anerkennung von Forschenden als involvierte Akteur:innen in der Konstitution des Feldes bemüht. Die exemplarisch dargestellte biografisch begründete Fokussierung des Forschenden veranschaulicht, dass das, was wir beobachten, eng mit der betrachtenden Person in Verbindung steht (Bailey, 2020). Allgemeiner formuliert lässt sich somit nicht nur für die Forschung, sondern auch für die pädagogische Praxis bzw. die in ihr tätigen Fachkräfte für eine reflexive Anerkennung der eigenen Involviertheit plädieren. Am dargestellten Beispiel kann zwar kritisch angemerkt werden, dass die Beobachtung um die Stöcke und die damit thematisierte Dezentrierung des Kindes (Spyrou, 2018) im Sinne einer „Partizipation durch (nicht-)humane Verschränkungen“ etwaig auch ohne eine Auseinandersetzung mit der Fokussierung auf die eigene Person entstanden wäre. Doch gerade diese Auseinandersetzung hält Antworten auf weitergehende Fragen zum eingangs aufgerufenen Aspekt, inwiefern und mit welchen Implikationen Forschende als Akteur:innen das Feld konstituieren, bereit: Wen oder was (und warum) nehme ich insbesondere wahr? Wer oder was (und warum) gerät weniger bzw. gar nicht in meinen Blick? Welche Perspektivveränderungen kann ich vornehmen und zulassen? Kurzum: Es geht um ebenjene produktive Wendung einer immer schon subjektiven Involviertheit als (forschende:r) Akteur:in in die Konstitution des Feldes.

Zwei abschließende Gedanken zu Limitationen und Weiterentwicklung:

  • Auch wenn sich in der geforderten Reflexivität der AAE gerade nicht der Anspruch einer vermeintlichen Objektivierung ausdrückt, wird Reflexivität nicht selten damit verbunden. Dies aufgreifend schlägt Barad (2007) stattdessen den Begriff der Diffraktion vor und konzeptualisiert ihn im Sinne der AAE als eine bewusste Anerkennung der jeweils unterschiedlichen Involviertheit. So gewendet wird das Ziel einer Authentizität – statt Objektivität – des Wissens über die pädagogische Praxis ggf. unmissverständlicher zum Ausdruck gebracht.
  • Trotz aller Reflexion/ Diffraktion werden blinde Flecken verbleiben. Die kurze Sequenz zeigt, dass dies auch dann gelten kann, wenn die eigene Involviertheit (an)erkannt wird. So hat der Forschende nur andeutungsweise auf eigene Ausgrenzungserfahrungen rekurriert. Die fehlende Explikation verweist auf die herausfordernde Frage, was Forschende selbst von sich preisgeben wollen. Relativierend hat das Beispiel jedoch gezeigt, dass sich der produktive Einfluss bereits bei einer geringen Preisgabe ergeben kann.

Relevant erscheint vor diesem Hintergrund vor allem eine Haltung, bei der die eigene subjektive Involviertheit überhaupt anerkannt und ernstgenommen wird.

Literatur

Anderson, L. (2006). Analytic Autoethnography. Journal of Contemporary Ethnography, 35 (4), 373-395. https://doi.org/10.1177/0891241605280449

Bailey, S. (2020). Ethnography. In D. Cook (Hrsg.), The sage encyclopedia of children and      childhood studies (S. 734-735). London: SAGE Publications.

Balzer, N., Huf, C. (2019). Kindheitsforschung und ›Neuer Materialismus‹. In J. Drerup & G.     Schweiger (Hrsg.), Handbuch Philosophie der Kindheit (S. 50-58). Stuttgart: J.B. Metzler.

Barad, K. (2007). Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham: Duke University Press.

Charmaz, K. (2014). Constructing Grounded Theory. London: Sage.

Garske, P. (2014). What’s the „matter“? Der Materialitätsbegriff des „New Materialism“ und dessen Konsequenzen für feministisch-politische Handlungsfähigkeit. Prokla 44 (174). https://www.prokla.de/index.php/PROKLA/issue/view/17

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[1] Vollständiger Titel des Dissertationsprojekt: „Partizipation als un-bestimmtes Phänomen“ –(Auto)Ethnografische Befunde zur Re-Konstitution von Akteur:innenschaft durch materiell-diskursive Intra-aktionen“

[2] Posthumanistische Perspektiven bemühen sich um eine Überwindung traditioneller Vorstellungen von Menschlichkeit und sensibilisieren für eine Fluidität vermeintlicher Grenzen zwischen menschlichen und nicht menschlichen Elementen.

[3] Der Begriff Methodologie bezieht sich auf die systematische Vorgehensweise und die Grundsätze, die bei der Durchführung von wissenschaftlichen oder analytischen Untersuchungen verwendet werden.

Sprach(en)bewusste Pädagogik in Kindertageseinrichtungen unter Berücksichtigung geflüchteter Kinder aus der Ukraine

| Elisa Tessmer |

Einleitung

Das Thema der alltagsintegrierten Sprach(en)bildung in Kindertageseinrichtungen hat in den letzten fünfzehn Jahren einen bedeutenden Relevanzzuwachs erfahren. Dieser zeigt sich unter anderem durch hohe Investitionen aus der Politik sowie einem höheren Stellenwert in den Bildungs- und Orientierungsplänen, die eine Grundlage für die pädagogische Arbeit schaffen. Die spezifischen Bedürfnisse geflüchteter Kinder sind seit 2015 zunehmend in die Diskussion eingeflossen. Durch die aktuelle Zuwanderung ukrainischer Geflüchteter müssen die damit einhergehenden spezifischen Bedürfnisse der Kinder sowie die Anforderungen für die pädagogische Arbeit neu gedacht werden. Dabei stehen die professionellen Ansprüche aktuell in einem Spannungsfeld zu den ohnehin schon angespannten Arbeitsbedingungen, die insbesondere durch einen hohen Fachkräftemangel bei zugleich steigenden Erwartungen an die pädagogischen Fachkräfte bestimmt sind.

Das Phänomen: Monolingualer Habitus als bestehendes Element pädagogischer Haltungen

Eine Fokussierung des Erwerbs sowie der Kompetenzerweiterung der deutschen Sprache ist innerhalb des Kita- und Schulsystems nach wie vor vorzufinden. Gogolin (2008) und Dirim (1998) kritisieren diese Sichtweise, die im Kontext der Kindertageseinrichtungen insbesondere durch das Konzept der Schulfähigkeit getragen wird, mit der Bezeichnung des ‚monilingualen Habitus‘. Dem gegenüber steht die Perspektive, eine vorhandene Mehrsprachigkeit als besondere Ressource wahrzunehmen und zu unterstützen (vgl. u. a. Fleckenstein et al. 2017, S. 97ff.; Roth 2006, S. 11ff.).

Seit Kriegsbeginn befinden sich über 20 Millionen ukrainische Menschen auf der Flucht, von denen im Jahr 2022 über eine Millionen Zugänge in Deutschland registriert wurden (vgl. destatis 2023). Die Anzahl ukrainisch geflüchteter Kinder in Kindertageseinrichtungen ist nicht systematisch erhoben. Der Anteil der Säuglinge und Kleinkinder ist jedoch verhältnismäßig hoch und nach der Zuweisung zu einer Kommune besteht ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ein Rechtsanspruch auf Betreuung (vgl. Deutscher Bildungsserver 2022), sodass hieraus ein hoher Bedarf abgeleitet werden kann. Dieser Effekt verstärkt die ohnehin bestehende Heterogenität im Kitaalltag. Der prozentuale Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund lag in den Kindertageseinrichtungen vor Kriegsbeginn bereits bei knapp 30 % (vgl. bpb 2021). An dieser Stelle sei explizit darauf hingewiesen, dass zwischen einem Migrationshintergrund und einem sprachlichen Förderbedarf kein kausaler Zusammenhang hergestellt werden darf. Insbesondere Kinder mit nur einem ausländischen Elternteil, die multilingual erzogen werden, können von dem Beherrschen mehrerer Sprachen profitieren und daher äußerst sprachbegabt sein. Der Anteil der Kinder, die im Elternhaus kein Deutsch sprechen, nimmt jedoch zu und bei diesen Kindern ist häufig von einem besonderen sprachlichen Unterstützungsbedarf auszugehen, da die Sprachkontakte zur deutschen Sprache bis zum Eintritt in die Kindertageseinrichtung in diesem Fall als gering einzuschätzen sind.

Die damit verbundenen steigenden Anforderungen an Fachkräfte treffen auf zunehmende qualitative Forderungen an die pädagogische Arbeit sowie einen kontinuierlich steigenden Fachkräftemangel. Dieser ist im Feld der Elementarpädagogik im Wesentlichen bestimmt durch eine sukzessive Ausweitung des Rechtsanspruches auf frühkindliche Betreuung, steigenden Geburtenraten in den letzten Jahren und eine Ausweitung der Ganztagsbetreuung auch im Bereich der Primarstufe (vgl. u.a. Bock-Famulla et al. 2020, S. 7ff.).

Wie wurde das Phänomen untersucht?

Im Rahmen eines Dissertationsprojektes wurden pädagogische Fachkräfte mithilfe eines Fragebogens sowie anhand von Gruppendiskussionen zum Thema der alltagsintegrierten Sprach(en)bildung befragt. Die Erhebung mittels Fragebogen fand im Jahr 2016 statt. Hierzu wurden Fragebögen in Printform an niedersächsische Kindertageseinrichtungen verteilt. Die Kontaktaufnahme erfolgte per E-Mail sowie über den Kontakt von Supervisorinnen. Insgesamt beteiligten sich 345 pädagogische Fachkräfte aus 90 Kindertageseinrichtungen. Die Rücklaufquote lag damit bei 44,8 %. Von den teilnehmenden Einrichtungen beteiligten sich wiederum neun Kindertagesstätten im Anschluss an Gruppendiskussionen, in denen insgesamt 50 pädagogische Fachkräfte involviert waren. Des Weiteren stellten pädagogische Fachkräfte aus drei Einrichtungen Videoaufnahmen zur Verfügung, die von ihnen für Supervisionszwecke angefertigt wurden (vgl. Tessmer 2021, S. 167ff.).

In den 90 befragten Einrichtungen wurden insgesamt 7.769 Kinder betreut. Zur damaligen Zeit waren hierunter 2,45% geflüchtete Kinder inkludiert. Es zeigte sich jedoch zwischen den Einrichtungen eine hohe Varianz – gut ein Drittel der Einrichtungen betreute zum Erhebungszeitpunkt keine Kinder mit Fluchterfahrung, einzelne Einrichtungen wiesen hingegen einen hohen Anteil an Kindern mit Fluchterfahrung auf. Bei den Kindern mit Migrationshintergrund ohne eigener Fluchterfahrung konnten Russisch (23,3%), Polnisch (14,9%) und Türkisch (14,0%) als meist gesprochene Erstsprachen konstatiert werden. Insgesamt wurden 31 unterschiedliche Erstsprachen aufgeführt, bei den Kindern mit Fluchterfahrung wurden 18 verschiedene Herkunftssprachen genannt (vgl. ebd. S. 173f.). Dieses Sample veranschaulicht damit beispielhaft den großen Sprachreichtum, der in Bildungsinstitutionen existiert und als Ressource genutzt werden kann.

Wie sind die Ergebnisse?

Obgleich einige Fachkräfte die Mehrsprachigkeit der Kinder positiv bewerten und teilweise explizit in den Alltag einbeziehen, existieren auch Ressentiments der pädagogischen Fachkräfte gegenüber des Gebrauchs anderer Erstsprachen als der deutschen Sprache, die insbesondere innerhalb durchgeführter Gruppeninterviews deutlich werden. Hierbei zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Erstsprachen, die zum Teil mit dem Konzept des Sprachprestige (vgl. u.a. Haarmann 1990) zu erklären sind. So wird beispielsweise ein Junge mit thailändischer Erstsprache als sehr motiviert beschrieben und die Schnelligkeit des Spracherwerbs der deutschen Sprache positiv hervorgehoben. Die geflüchteten Kinder werden von den pädagogischen Fachkräften innerhalb mehrerer Gruppeninterviews als sehr bemüht dargestellt, die deutsche Sprache zu erlernen und ihnen wird ein Verständnis für Verständigungsprobleme entgegengebracht. In der Kommunikation mit den Eltern wird dabei auf Übersetzungstools oder Ähnliches zurückgegriffen. Demnach greift das Konzept des Sprachprestige als Erklärungsmodell für die Haltungen der pädagogischen Fachkräfte an dieser Stelle nicht. In Studien zum Sprachprestige einzelner Sprachen konnte gezeigt werden, dass Sprachen wie Russisch, Arabisch und Türkisch als ‚eher unsympathisch‘ empfunden werden, im Vergleich zu Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch als ‚eher sympathische‘ Sprachen (vgl. Adler/Silveira 2021, S. 4). In den Gruppeninterviews waren hingegen vor allem die Kinder mit russischer oder polnischer Erstsprache mit Ressentiments konfrontiert. Mehrere Fachkräfte vermuten, dass die russische oder polnische Sprache von den Kindern bewusst verwendet wird, um beispielsweise Schimpfwörter zu äußern. Dieses Argument dient dabei teilweise auch für das Erteilen von Verboten, sich in anderen Erstsprachen als der deutschen Sprache zu unterhalten. Die negative Sichtweise begründet sich daraus, dass die Kinder in der deutschen Sprache ebenfalls über ausreichende Sprachkompetenzen verfügen, sodass sie sich in beiden Sprachen verständigen können. Dass das Code-Switching – also der Wechsel zwischen den unterschiedlichen Sprachen – jedoch ein normales Sprechverhalten bei mehrsprachigen Sprecher:innen darstellt und zum Teil unbewusst oder adressaten- bzw. themenorientiert erfolgt (vgl. u.a. Müller 2017), wird von den pädagogischen Fachkräften nicht gesehen. Das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen wären weitere pädagogische Argumente dafür, Kindertageseinrichtungen als mehrsprachigen Sprachraum zu gestalten, die insbesondere bei Kindern mit Fluchterfahrung von besonderer Bedeutung sind. Die Kinder werden damit zudem in ihrer Lebenswelt und mit ihren Erfahrungen ernstgenommen, was gleichzeitig positive Effekte auf die Beziehungsgestaltung haben kann.

Was kann das für die Praxis in Kindertageseinrichtungen bedeuten?

In mehreren Untersuchungen (vgl. u.a. Müller-Using/Speidel 2015; Wertfein/Wirts/Wildgruber 2015; Fried 2013) konnte gezeigt werden, dass sprachunterstützende Situationen, wie das Sustained Shared Thinking, innerhalb des pädagogischen Alltags verhältnismäßig selten vorkommen. Hierbei wird ein problemlösendes Denken und Weiterentwickeln forciert, welches von einer intensiven dialogischen Interaktion geprägt ist (vgl. Siraj-Blatchford et al. 2010, S. 21ff.). Die Interaktionen im pädagogischen Alltag sind hingegen häufig beeinflusst von Unterbrechungen sowie Störungen. Diese Tatsache wurde ebenfalls im Rahmen der Gruppeninterviews innerhalb des Dissertationsprojektes angeführt (vgl. Tessmer 2021, S. 206ff.). Ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, feste Bezugspersonen sowie möglichst störungsfreie Interaktionen sind Rahmenbedingungen, die bei geflüchteten Kindern von besonderer Relevanz sind. Für jene Formen bedarf es jedoch gleichwohl Rahmenbedingungen, die ein intensives Einlassen auf einzelne Kinder ermöglichen. Die aktuellen Rahmenbedingungen unter dem Einfluss des Fachkräftemangels machen es für pädagogische Fachkräfte immer schwieriger, jene unterstützenden Verhaltensweisen zu gestalten.

Die Datenerhebung innerhalb des Dissertationsvorhabens fand vor dem Ukrainekrieg statt. Hier zeigten sich deutliche Unterschiede in der Haltung der pädagogischen Fachkräfte zwischen geflüchteten Kindern und russisch oder polnischsprachigen Kindern. Daher kann keine valide Aussage darüber getroffen werden, inwieweit sich die Einstellungen der Fachkräfte diesbezüglich geändert haben. Dies betrifft vor allem die Vorbehalte gegenüber des Gebrauchs anderer Erstsprachen als der deutschen Sprache im pädagogischen Alltag. Vorhandene Sprachfähigkeiten der Kinder, die neben dem Deutschen auch Russisch, Polnisch oder Ukrainisch darstellen, könnten nun als besondere Ressource wahrgenommen werden. Die Kinder könnten gerade zur Anfangszeit, als Übersetzer:innen fungieren. Hierbei sind jedoch weitere pädagogische Aspekte zu berücksichtigen. Hierunter zählen insbesondere die Verantwortung, die den Kindern damit zugemutet wird, aber auch gruppendynamische Fragen von Inklusion und Exklusion. Zugleich könnte der Aspekt des Sicherheitsgefühls für die geflüchteten Kinder, welches durch den Gebrauch der Herkunftssprachen unterstützt werden kann, stärker ins Bewusstsein der pädagogischen Fachkräfte geraten. Ein weiterer Aspekt, der sich insbesondere innerhalb der Gruppeninterviews gezeigt hat, bildet die Homogenisierung der ‚Gruppe geflüchteter Kinder‘. Es zeigte sich beispielsweise, dass die pädagogischen Fachkräfte teilweise nicht genau differenzieren konnten, welche Herkunftssprachen die geflüchteten Kinder sprechen. Diese homogene Betrachtungsweise differenziert sich durch die zunehmende Anzahl geflüchteter ukrainischer Kinder vermutlich zumindest zu einer Dualität. Inwieweit die damit verbundene steigende Heterogenität innerhalb der geflüchteten Kinder zu einer grundsätzlich differenzierteren Wahrnehmung der pädagogischen Fachkräfte beiträgt, könnte ebenfalls in weiteren Untersuchungen erforscht werden. Ein weiteres Forschungsdesiderat entsteht in dem Spannungsfeld von zunehmender Zuwanderung und einem steigenden Fachkräftemangel. Kinder, die ohne (oder mit sehr geringen) Kenntnissen in der deutschen Sprache in eine Einrichtung aufgenommen werden, benötigen eine besondere Aufmerksamkeit seitens der pädagogischen Fachkräfte. Bei geflüchteten Kindern ist dies aufgrund der Erfahrungen vor und während der Flucht in besonderem Maße relevant, gleichzeitig machen die Entwicklungen des Feldes – bedingt durch den stetig steigenden Fachkräftemangel – es für die pädagogischen Fachkräfte immer schwerer, diesen individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden.

Literatur

Adler, A.; Silveira M. R. (2021): Einstellungen zu Sprachen und mehrsprachigen Kindergärten. Sprache in Zahlen. Folge 5. In: Sprachreport Jg. 37 (2021) Nr. 4, S. 4-9.

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Interaktion in frühpädagogischen Einrichtungen als Choreografie von Inklusion und Exklusion

| Laura von Albedyhll |

Was will das Projekt/Was ist das Phänomen?

Die frühpädagogische Praxis ist geprägt von Interaktionen: Kinder, pädagogische Fachkräfte, Erziehungsberechtigte und Trägerverantwortliche sind nur einzelne Akteur:innen, die in verschiedenen Situationen miteinander interagieren. Dabei wird hier „Interaktionen als konkrete unmittelbare Begegnungen zwischen zwei (oder mehreren) Menschen verstanden (…), welche direkt beobachtbar sind.“ (Weltzien, Fröhlich-Gildhoff, Wadepohl & Mackowiak, 2016, S.7). Interaktion in frühpädagogischen Settings wird im wissenschaftlichen Kontext häufig unter einen normativen Fokus gesetzt: Was ist „gute“ Interaktionsgestaltung? Wie kann in Interaktion Bildung maximal gefördert werden? Spezifischer spielt Interaktion bei zentralen frühpädagogischen Konzepten wie beispielsweise Sustained-Shared-Thinking (Siraj-Blatchford, 2009) eine Rolle. Die Frage der Qualität solcher Interaktionen ist von so großer Bedeutung, dass mindestens ein standardisiertes Tool zu ihrer Messung entwickelt wurde (CLASS, vgl. Weltzien et.al., 2016), auf das in Forschungskontexten zurückgegriffen wird.

Das vorgestellte Projekt geht einen Schritt zurück. Statt unter normativem Blick Gelingensbedingungen von Fachkraft-Kind-Interaktionen zu untersuchen, wird der Blick auf das gerichtet, was tatsächlich stattfindet. In der Rekonstruktion der Handlungen aller Akteur:innen einer Kleingruppe soll eine Theorie der Interaktion in der Frühpädagogik entwickelt werden, die über die Frage der guten Praxis hinaus geht. Vielmehr wird danach gefragt, wie die an der Interaktion beteiligten Akteur:innen wechselseitig das Interaktionsgeschehen beeinflussen und welche Verhältnisse der Akteur:innen untereinander sichtbar werden. Dabei ist es auch das Ziel, den Blick für Akteur:innen zu weiten, die nicht-menschlich sind. Die Relevanz der Dinge in frühpädagogischen Einrichtungen ist kein neuer Blickwinkel (Cloos, Bensel, Haug-Schnabel, Wadepohl & Weltzien, 2018, S. 13). Dinge rahmen zum einen Interaktionsgeschehen, zum anderen interagieren wir mit und an ihnen. Sie begrenzen Handlungsräume, können uns auffordern oder Normen transportieren. An Dinge können bestimmte Regeln für den Umgang mit ihnen geknüpft sein, durch die Rückschlüsse möglich sind auf Machtverhältnisse in den Räumen, für die die Regeln gelten. So ist beispielsweise die Kreide im schulischen Kontext ein Ding, mit dem vorrangig lehrende Personen agieren oder Personen, die von lehrenden Personen geprüft werden. Sie transportiert in diesem Setting die Rolle der zeigenden Person.  Zu jedem Zeitpunkt sind wir umgeben von Dingen, in deren Gebrauch wir hineinsozialisiert wurden, mit denen wir Ideen verbinden, an die wir Handlungsroutinen knüpfen, mit denen wir in Interaktion treten (Stieve, 2008). Die Fachkraft-Kind-Interaktion in der Frühpädagogik zu betrachten heißt also auch, die Dinge zu betrachten, die mit den Akteur:innen gemeinsam die Situation gestalten.

Wie sind wir vorgegangen?

Um sog. „Fachkraft-Kind-Ding-Interaktionen“ in frühpädagogischen Einrichtungen zu untersuchen, wurden Videografien des frühpädagogischen Alltags genutzt. Das Datenmaterial wurde im Projekt „SpriKIDS – Sprachförderung im Kindergartenalltag in Dialekt und Standardsprache im Kontext von Mehrsprachigkeit“ (https://www.sprikids.org/) aufgenommen und stammt aus Einrichtungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. SpriKIDS ist ein von Interreg finanziertes Forschungsprojekt der PH Weingarten, PH St. Gallen, SHLR, PH Graubünden und PH Vorarlberg unter der Leitung von Prof. Dr. Cordula Löffler, Prof. Dr. Franziska Vogt und Dr. Eva Frick, das von 2016 bis 2019 Kinder am Übergang vom Kindergarten zur Grundschule begleitete. Neben der Sprachförderung der Kinder im Kita-Alltag, waren auch der Schriftspracherwerb oder die Einstellung der pädagogischen Fachkräfte zum Dialekt leitende Fragestellungen.
Während der Aufnahmen war die Kamera beweglich, um der pädagogischen Fachkraft in der Einrichtung zu folgen. Daraus ergibt sich, dass die Aufnahmen einen starken Fachkraftfokus aufweisen, Kinderhandeln untereinander oder ohne Beteiligung der Fachkraft höchstens am Rand sichtbar wird. Das videografische Material wurde zunächst transkribiert. Diese Kombinationstranskripte aus klassischen und Grafiktranskripten sind schematisch angelegt und erlauben einen strukturierten Vergleich unterschiedlicher Interaktionsverläufe. Sie machen besonders deutlich, wann Personen und Dinge von Aktant:innen zu Akteur:innen werden, sich bestehenden Handlungsnetzwerken anschließen oder daraus zurückziehen. Ohne den Rückgriff auf ebenfalls vorhandene Transkripte sprachlicher Äußerungen, ist es der analysierenden Person so leichter möglich, sich von thematischen Bezügen zu lösen und lediglich auf das Handlungsnetzwerk der beobachteten Personen zu fokussieren.

Konkret wurde für die Analyse der Videos im Kleinen die Mikroethnografie (Herrle, 2020), für das Entwickeln von Zusammenhängen innerhalb einer Sequenz, aber auch über Sequenzen hinweg, die Grounded Theory Method (im Folgenden GTM) (Dietrich & Mey, 2018) verwendet. Die Situationen wurden zunächst mit mikroethnografischen Methoden aufgebrochen und sequenziert. So wurde die Schwierigkeit bearbeitet, dass die GTM keine dezidierten Vorgaben für den Umgang mit Videomaterial macht und im Zuge dessen die Komplexität des Datenmaterials für eine strukturierte Analyse nicht hinreichend reduziert wird. Anders gesagt: Interaktion als komplexes Geschehen nicht nur beobachtend zu beschreiben, sondern darüber hinaus ausgehend von ihren kleinsten Einheiten (bspw. Blickrichtung, deiktische Gesten[1]) Bedeutung zu rekonstruieren, muss strukturiert, nachvollziehbar und transparent erfolgen.

Was ist das Ergebnis?

Das folgende Auswertungsbeispiel verdeutlicht, wie sich das Handlungsnetzwerk der Akteur:innen in einer Interaktion entwickelt. Der gewählte Ausschnitt umfasst 17 Sekunden einer Situation des frühpädagogischen Alltags. In der vorgestellten Sequenz sitzt die pädagogische Fachkraft an einem Tisch direkt neben einem Bereich unter einem Podest. Der höhlenartige Bereich hat eine relativ niedrige Decke, was den Zugang für erwachsene Personen erschwert. Die vergleichsweise dunkle Fläche – eine Lampe wird auf dem Video nicht sichtbar – beinhaltet die Nachbildung eines Herds aus Holz in niedriger Höhe. Räumlich dem Herd zugeordnet sind kleine Nachbildungen von Geschirr und Nahrungsmitteln aus Holz und Plastik. Darüber hinaus holen die Kinder, die in diesem Raum handeln, immer wieder Puppen in den Videoausschnitt.

Die Abgrenzung des Bereichs vom Rest des Raums wird einerseits verstärkt durch einen Holzpfosten, der das Podest stützt, andererseits durch den Teppich, der mit dem Rand des Podests abschließt. Gleichzeitig steht der Tisch vor diesem Posten und kontrastiert stark mit der Dingvielfalt im kindlichen Handlungsbereich: Der niedrige Tisch ist leer und wird nur punktuell mit unterschiedlichen Dingen gefüllt. Der Tisch wird zum Grenzraum zwischen dem kindlichen Spielraum und dem restlichen Gruppenraum, mit einer Fachkraft die in ihrer Positionierung wie eine Wächterin der Grenze wirkt. Immer wieder wird die Fachkraft von den im Spielbereich tätigen Kindern angesprochen, bewegt sich aber selbst nie in den Raum unter dem Podest. Ob es bei den Prozessen des Herstellens von Innen und Außen um die Bereiche Kind-Fachkraft, definierter Spielraum – multifunktioneller Gruppenraum oder Kleingruppe – Gesamtgruppe geht, bleibt offen.

Mit der Begrenzung auf ein Grafiktranskript wird die verbale Ebene ausgeblendet, um sich in der Analyse nur auf die Handlungsnetzwerke (Albedyhll, 2021) fokussieren zu können. Dabei sind Kreise Kinder (K1 – K4), das Dreieck ist die Fachkraft (FK) und Rechtecke sind Dinge. Punktlinien zeigen Blickrichtungen, Strichlinien verbale Äußerungen und Volllinien raumgreifende Handlungen. Dabei werden Netzwerke sichtbar: Die Akteur:innen sind mit einander über ihre Handlungen verbunden oder grenzen sich durch das Fehlen derartiger Handlungsbeziehungen voneinander ab. So sind sie eingebunden in Netzwerke, die sie selbst generieren. Durch Pfeile wird die Gerichtetheit der Handlungen sichtbar, sofern sie nicht wechselseitig oder eindeutig ist. In der konkreten Situation hat ein Kind (K1) im Bereich unter dem Podest eine Puppe gefunden. Sie macht Geräusche, die ein Baby imitieren sollen und reagiert auf Lagewechsel oder das Einführen einer Flasche in ihren Mund. K1 bringt die Puppe zur Fachkraft (FK), die feststellt, dass die Puppe vielleicht neue Batterien benötigt. Während FK die Puppe aufschraubt, beteiligen sich wechselnde Kinder an der Situation.

Im dargestellten Verlauf kommt K4 aus dem Spielraum und hält einen Rock um seine Hüfte. Er würde rutschen, wenn K4 ihn nicht festhielte. K4 tritt zur Puppen-Tisch-Situation, ohne sich verbal zu äußern (Abbildung 1). Ihr Blick bleibt auf dem Rock, während sie von K1 und FK angesprochen wird. Der Versuch sowohl von K1 als auch von FK, K4 hier zu einer Selbst-Inklusion in das Netzwerk zu bewegen, bleibt ohne Erfolg. Die verbalen Äußerungen von K1 und FK zielen darauf ab, dass K4 sich ebenfalls an den Handlungen mit dem Ding auf dem Tisch beteiligt.  K4 reagiert nicht auf die Ansprache, sondern verbleibt im eigenen Handlungsnetzwerk zwischen sich und dem Rock. Als K3 aus dem Spielraum heraus in die Interaktion eintritt und K4 ebenfalls anspricht (Abbildung 2), wendet K4 den Blick K3 zu – der Blickkontakt zwischen K3 und K4 wird reziprok. Obgleich K1 K4 wiederholt anspricht und den Blick ebenfalls dem Rock zuwendet, entfaltet sich das dichte Handlungsnetz zwischen K4 und K3. K4, beziehungsweise das Gefüge aus K4 und dem Rock, ist das Zentrum verschiedener Handlungsvektoren.

Als sich K4 neu orientiert (Abbildung 3), nämlich zurück in den abgegrenzten Spielraum, zeigt sich seine zentrale Stellung innerhalb der Vektoren[2] besonders deutlich. K1 und K4 richten ihr verbalsprachliches Handeln weiter an K4 aus, auch wenn dieses sich bereits aus dem Handlungsnetzwerk „Tisch“ zurückzieht. Der Einfluss der Neuorientierung von K4 ist so groß, dass sich K4 und K3 wieder in den Spielraum bewegen und K1 mit FK am Tisch zurückbleibt. Die fehlende Aufnahme von K1 in das Handlungsnetzwerk mit K4 im Zentrum, sorgt nun für die Wiederaufnahme des Handlungsnetzwerks mit FK. FK spricht dabei K1 direkt an, während K1 den Blick auf die Puppe richtet. K1 bringt sich selbst aktiv in die Triade Puppe-FK-Kind ein, gleichzeitig wird er durch FK einbezogen.

Hier zeigen sich Dynamiken in Prozessen von Ex- und Inklusion mit verschiedenen Akteur:innen. K4 bildet mit dem Rock ein so dichtes Handlungsnetzwerk, dass K4 zum Zentrum der Interaktion wird. Die Fokussierung auf den Rock ermöglicht dem Kind, die Teilnahme anderer Akteur:innen am Handlungsnetzwerk zu entscheiden. K4 in- beziehungsweise exkludiert qua Handlung und Blickrichtung die anderen Personen. Gerade K1 erfährt hier Exklusion. FK geht, als ihr verbales Handeln keine Resonanz erfährt, zurück in ihr enges Handlungsnetzwerk mit der Puppe. K1 verbleibt in der Inklusionsbemühung, bis K4 sich mit K3 vom Puppe-Tisch-Gefüge löst und K1 sich wieder auf FK und ihr Handlungsnetzwerk fokussiert. Hier gelingt der erneute Zugang zum Handlungsnetzwerk auch durch Ansprache der FK leicht.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Inklusion und Exklusion geschehen nicht nur in großen Handlungszusammenhängen. In kleinen Interaktionseinheiten zeigen sich Mechanismen aller Akteur:innen, sich selbst und andere ein- oder auszuschließen. Inklusion und Exklusion sind in diesem Verständnis keine wertenden Begriffe, in dem Sinn, dass wir zu jedem Zeitpunkt auf eine alle Akteur:innen inkludierende Situation hinwirken müssen. Ein:e Akteur:in, der:die sich von einer Interaktion abwendet, sich dem Kontakt entzieht, sich nicht beteiligt, kann so Handlungsmacht zeigen. Mit einem Gegenstand ein eigenes Handlungsnetzwerk zu bilden, in der das Kind versunken und selbsttätig ein Ding und dessen Zusammenhänge erkundet, ist ein ebenso bedeutsamer Schritt der Interaktionschoreografie, wie die gemeinsame Abstimmung mit anderen auf einen Gegenstand hin.

Mikroprozesse der Interaktion im materiellen Raum in den Blick zu nehmen, ist ein wertvoller Reflexionsmoment: Welche Dinge laden zur Interaktion ein? Von welchen hätten wir es vielleicht nicht erwartet? Welche Handlungen werden durch die Anordnung der Dinge im Raum ermöglicht oder erschwert? Gelingt es Fachkräften, sich auf Ideen der Kinder zu den Dingen einzulassen? Wie oft führt die Fachkraft in der Interaktion, gibt Dinge vor – und wie oft folgt sie? Wer oder was steht wann im Zentrum einer Interaktion und wer oder was vielleicht nie?
In den Antworten auf diese Fragen finden sich Hinweise darauf, wie die Idee einer „guten“ pädagogischen Praxis in den Handlungen zum Ausdruck kommt. Teil der Vorstellung eines „guten“ Kindergartenkind, einer „guten“ pädagogischen Fachkraft und einer daraus folgenden „guten“ pädagogischen Interaktion, ist das eigenaktive, handlungsmächtige Kind, dessen Impulsen gefolgt und auf denen aufgebaut wird. Wenn sich die Handlungsmacht des Kindes so äußert, dass sie der Idee der „guten“ pädagogischen Praxis – einer gemeinsam zwischen Kind und Fachkraft ko-konstruktiv gestalteten, an Zonen der nächsten Entwicklung und inhaltlichen Bildungszielen ausgerichteten nämlich (KMK, 2022, S. 8-10)  –  zuwiderhandelt, finden Aushandlungsprozesse um die Grenzen des Nutzens solcher normativer Setzungen statt. Das eigenmächtige Kind kann als solches gleichzeitig normgerecht und normwidrig sein. Es schließt (sich) aus, statt (sich) zu inkludieren.

Das Aufbrechen pädagogischer Situationen in kleinste Einheiten ermöglicht durch die Verfremdung der Situation einen neuen Blick auf das Geschehen in der Einrichtung zu gewinnen und so Interaktionskulturen und die eigene Einstellung zu ihnen zu ergründen.

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[1] Zeigegeste, um die Aufmerksamkeit von Interaktionspartner:innen auf einen realen oder virtuellen Gegenstand zu lenken. Typischerweise wird ein ausgestreckter Finger verwendet, jüngere Kinder nutzen auch den Körper oder die ganze Hand (Weidinger, 2011).

[2] Die Handlungspfeile innerhalb der Netzwerke werden hier Vektoren genannt, weil sie auf Kräfte hinweisen, die zwischen den Akteur:innen wirken. Handlungen haben das Potential, die Handlungen des Gegenübers zu beeinflussen und so das Handlungsnetzwerk zu verändern.

Inklusion und Diversität aus Sicht von Kita-Leitungen

| Nina Hogrebe, Valerie Bergmann & Madita Timmermann |

An Kindertageseinrichtungen (Kitas) wird die Erwartung herangetragen, zum Abbau von Bildungsungleichheit beizutragen, Heterogenität anzuerkennen und Inklusion zu fördern (vgl. Betz & Bischoff 2017). Der Elementarbereich bietet dabei grundsätzlich gute Voraussetzungen für Inklusion, denn hier werden bereits ein Großteil der Kinder mit Behinderungen, mit Migrationshintergrund, aus unterschiedlichen sozioökonomischen Kontexten sowie Mädchen und Jungen gemeinsam betreut. Zugleich gibt es hinsichtlich der Verteilung von Kindern mit Diversitätsmerkmalen auf die einzelnen Bildungseinrichtungen große Unterschiede. Entmischungsprozesse, die in unterschiedlichen Zusammensetzungen der Kitas zum Ausdruck kommen, verweisen darauf, dass Bildungszugänge nach wie vor nicht gleichermaßen gewährt werden (vgl. Hogrebe et al. 2021a).

Was will das Projekt? Was ist das Phänomen?

Prengel (2016) formuliert „Desegregation in der Lebensumwelt“ (S. 63) als einen Auftrag an institutionelle Bildungseinrichtungen. Neben der Anforderung, den unterschiedlichen Lebenshintergründen, Bildungsvoraussetzungen und Bildungsbedürfnissen von Kindern in einer Kita Rechnung zu tragen (vgl. Gomolla 2010, S. 8f.), geht es dabei auch darum, die gesellschaftliche Vielfalt in den Organisationen abzubilden (vgl. Toepfer 2020). Kita-Leitungen kommt dabei eine entscheidende Schlüsselposition zu, denn sie tragen nicht nur eine Mitverantwortung für die Herstellung einer Passung von institutionellen Rahmenbedingungen und individuellen Bedürfnissen der Kinder im Hinblick auf die Anerkennung von Diversität (vgl. Kron 2010), sondern sind auch in Platzvergabeprozesse eingebunden, die zum Ausschluss bestimmter Familien und Kinder führen können (vgl. Hogrebe et al. 2021b; Mierendorff & Nebe 2022). Bislang ist allerdings wenig darüber bekannt, welche Perspektive Kita-Leitungen auf die damit verbundenen Anforderungen haben.

Wie sind wir vorgegangen?

Studierende des Bachelorstudiengangs „Bildung und Erziehung in der Kindheit“ an der HAW Hamburg haben im Wintersemester 2021/22 im Rahmen des Wahlpflichtseminars „Diversität und Vielfalt im Elementarbereich“ leitfadengestützte Experteninterviews mit Praxisvertreter:innen geführt, um empirische Einblicke in deren Wahrnehmung der mit Inklusion verbundenen Anforderungen im Feld, Begriffsverständnisse und Praktiken zu gewinnen (vgl. Meuser & Nagel 2013). Als offenes und rekonstruktives Verfahren erfasst diese Interviewform mithilfe von erzählgenerierenden Fragen und Raum für freie Erzählpassagen mit eigener Relevanzsetzung die Wissensbestände von Expert:innen (vgl. Liebold & Trinczek, 2009). Die Expert:innen sind in diesem Fall Kita-Leitungen oder mit Leitungsaufgaben beauftragte Fachkräfte, die über ein spezifisches Wissen zu Umgangsstrategien mit Inklusion und Diversität in Kitas verfügen. Die Interviewpartner:innen wurden im Rahmen der studienbegleitenden Praktika durch die Studierenden selbst akquiriert. Den Leitfaden haben die Lehrenden konzipiert und die Studierenden haben jeweils unter Anleitung ein Interview geführt. Alle Interviews wurden aufgezeichnet und nach den Regeln von Kuckartz (2016) transkribiert. Auf Basis der Transkripte wurden die Interviews durch die Lehrenden und eine studentische Hilfskraft nach Kuckartz et al. (2008) ausgewertet. Insgesamt gehen in die Analysen Interviews mit zehn Fachkräften in Kitas ein, die eine Tätigkeit mit Leitungsfunktion inne hatten.

Was ist das Ergebnis?

Ebenso wie im wissenschaftlichen Diskurs lässt sich auch innerhalb der im Seminar geführten Interviews mit Kita-Leitungen keine einheitlichen Verständnisse der Begriffe Diversität, Inklusion, Vielfalt und Heterogenität finden. Das Interviewmaterial lässt erkennen, dass die Begriffe nicht trennscharf gebraucht werden. Einige Begriffe werden synonym verwendet bzw. von den Befragten explizit gleichgesetzt. So werden insbesondere keine Unterschiede zwischen den Begriffen „Diversität“ und „Vielfalt“ gemacht:

„[I]ch finde Diversität ist einfach, dass man unterschiedlich sein kann und Vielfalt auch, dass es viele verschiedene Menschen mit vielen verschiedenen Hintergründen gibt, und dass alle aber gleichwertig sind.“ (Interview 8, Absatz 33).

Neben Äußerungen, denen ein auf Behinderung bezogenes Inklusionsverständnis zugrunde liegt, , zeigt sich insgesamt ein eher breites Verständnis von Inklusion, das sich auf jegliche Diversitätsmerkmale bezieht (vgl. Lindmeier & Lütje-Klose 2015). Damit verbunden ist meist eine positive Sichtweise auf die Unterschiedlichkeit der Menschen, die wertgeschätzt, beziehungsweise als explizit erwünscht und wichtig angesehen wird. Mitunter wird diese Sichtweise durch Beschreibungen über das zugrundeliegende Bild vom Kind untermauert:

„Jedes von uns anvertraute Kind ist ein einzigartiger, wertvoller Teil des Ganzen. Dies gilt unabhängig von körperlichen, geistigen, sozialen, kulturellen oder sonstigen Voraussetzungen“ (Interview 2, Absatz 11).

Diese Einstellung gegenüber allen Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft, werde oftmals von den Kindern vorgelebt:

„aber den Kindern ist es eigentlich relativ egal, wo sie herkommen, wichtig ist für uns immer, dass wir eine Gemeinschaft sind und alle so annehmen und aufnehmen, wie sie halt so sind.“ (Interview 4, Absatz 10).

Der Begriff der Inklusion ist zudem häufig mit einem Fokus auf Chancengleichheit und -gerechtigkeit assoziiert, der die „bestmögliche individuelle Förderung“ (Interview 2, Absatz 11) aller Kinder impliziert und fordert, diese „und ihre Familien dort abzuholen, wo sie gerade stehen“ (Interview 12, Absatz 12). Die Kinder, die auf besondere Fördermaßnahmen angewiesen sind, sollen die nötige Unterstützung erhalten. Hierzu wird vermehrt die Zusammenarbeit mit Externen (z.B. Heilpädagog:innen oder Psycholog:innen) und den Eltern der Kinder betont. Zugleich wird ein Spannungsfeld deutlich, dass die Unterschiede der Kinder einerseits in der pädagogischen Arbeit berücksichtigt werden müssen, hierdurch aber andererseits auch wieder bestimmte Differenzen konstruiert werden können:

„Um mich damit auseinandergesetzt und halt festgestellt, dass es wirklich/ es ist ein Thema, das man nicht zum Thema machen sollte, wenn es nicht ein Thema ist. […]. Also wenn wir anfangen darüber zu sprechen, wieso du anders aussiehst als du, dann erschaffst du das Problem ja schon nur. Also es ist mehr man muss es leben.“ (Interview 3, Absatz 19).

Die aktuelle Situation von Kitas in Bezug auf damit verbundene Anforderungen für die eigene Arbeit wird unterschiedlich wahrgenommen. Neben einer grundsätzlich positiven Einstellung hinsichtlich Diversität als wünschenswertes Ziel innerhalb der Gesellschaft oder ihrer Einrichtungen benennen die Befragten auch Herausforderungen, die hierdurch entstehen. Zum einen äußern einzelne Befragte Bedenken in Bezug auf Kinder mit zum Beispiel körperlichen Beeinträchtigungen und sind unsicher, ob sie mit dieser Art von Anforderungen in ihrer Einrichtung umgehen könnten:

„Also, wir hatten noch kein Kind mit einer schwereren Behinderung, ich weiß auch nicht, ob wir das leisten könnten. Ich glaube nicht.“ (Interview 8, Absatz 26)

Vereinzelt werden Probleme in Bezug auf die Kommunikation und Verständigung bei unterschiedlichen Herkunftsländern und Kulturen angeführt. Hinzu kommen fehlende personelle Voraussetzungen, die den Umgang mit heterogenen Gruppen und Kindern, die besondere Fördermaßnahmen benötigen, erschweren können. Den gestiegenen Anforderungen und Erwartungen stehen laut der Befragten unzureichende personelle Mittel sowie fehlende Unterstützung durch die Politik gegenüber:

„[I]ch würde mir wünschen, dass das Thema nicht nur auf die Kitas abgewälzt wird, sondern auch die nötige, und das ist tatsächlich auch eine finanzielle Unterstützung, dass diese auch von der Politik getragen wird“ (Transkript 11, Absatz 41).

Neben dem Umgang mit unterschiedlichen Lebenshintergründen, Bildungsvoraussetzungen und Bildungsbedürfnissen von Kindern in einer Kindertageseinrichtung stellt sich darüber hinaus die Frage, ob und wie Leitungen die Zusammensetzung ihrer Einrichtungen beeinflussen. Manche Befragte äußern, dass sie gerne etwas durchmischter wären, und bedauern fehlende Handlungsspielräume:

„Wir hätten gerne ausländische Familien natürlich, weil das die kulturelle Vielfalt bereichert und wir sind immer froh, wenn wir mal eine haben, aber in der Regel wollen die nicht zu uns kommen. Ich weiß nicht, warum nicht.“ (Interview 8, Absatz 18)

Ein von den Leitungen genannter Grund dafür ist die Lokalität des Einzugsbereichs sowie die damit verbundene Sozialstruktur des Stadtteils. Aber auch die konzeptionelle Ausrichtung der Einrichtungen beeinflusse die Zusammensetzung der Kita, da sie bestimmte Familien mehr oder weniger ansprechen bzw. abschrecken würden:

„Nein, ich glaube, das liegt daran, dass die ein anderes Konzept haben und dass, ja, wie soll ich es sagen, ich weiß nicht so genau, warum sich zum Beispiel ausländische Familien hier nicht anmelden. Keine Ahnung. Möglicherweise, weil sie nicht so viel Interesse an der Gemeinschaft haben, so, also, keine Ahnung“ (Interview 8, Absatz 56)

Dabei ist auffällig, dass diesbezüglich eine einseitige Zuschreibung von Verantwortung erfolgt, die ausschließlich auf Seiten der Eltern verortet wird, während die Kitas als eher passiv und machtlos bezüglich der elterlichen Bildungswahlentscheidungen bzw. der sie umgebenden Sozialstruktur erscheinen. Eine Eigenverantwortung auf Seiten der Einrichtungen, aktiv bestimmte Familien zu rekrutieren oder ein Konzept zu erstellen, dass auch für andere Adressat:innen zugänglich ist, kommt hier nicht zum Ausdruck.

Darüber hinaus spielen unterschiedliche Verfahren der Anmelde- und Platzvergabeprozesse eine Rolle. Diese können niedrigschwellig sein oder durch komplexe Anforderungen Zugangsbarrieren darstellen. Als eine mögliche Barriere wird diesbezüglich die Sprache genannt, die eine Bewerbung um einen Kitaplatz erschweren kann:

„[D]as kann natürlich (.) auch ein (..) Hindernis sein für Familien die, die Eltern, die vielleicht nicht lesen können oder kein Deutsch sprechen. Ja (lacht), dass fällt mir jetzt erst auf, dass es dann natürlich schwierig ist, sich da um einen Kitaplatz zu kümmern“ (Interview 3, Absatz 49)

Exklusion kann auch über die Vergabe der Betreuungsplätze stattfinden: Bei zu geringer Verfügbarkeit und zu hoher Nachfrage regeln manche Einrichtungen die Vergabe über eine Warteliste und/oder nach Anmeldezeitpunkten. Die Vergabe von zur Verfügung stehenden Plätzen kann aber auch entlang bestimmter Kriterien wie dem Alter oder dem Geschlecht sowie ihrer Passung in die jeweils bereits vorhandene Gruppenstruktur erfolgen. In mehreren Interviews verweisen die Leitungskräfte auf die Stundenanzahl der in Hamburg bestehenden Kita-Gutscheine: Kinder mit einer hohen Anzahl an zu betreuenden Stunden werden dabei bevorzugt aufgenommen. Eine Rolle würden auch Geschwisterkinder spielen, die die Einrichtung bereits besuchen. Manche der Einrichtungen würden besonders auf eine Passung zwischen Kita und Eltern achten. Insbesondere Leitungen von Elterninitiativen beschreiben, dass sie auf Unterstützung und Hilfe durch die Eltern zum Erhalt der Kita angewiesen sind und deshalb aufwändigere Aufnahmeverfahren mit intensiven Vorgesprächen umsetzen:

„Wir würden wahrscheinlich keinen Platz vergeben an Eltern, die ihr Kind einfach nur betreut haben wollen und sich nicht einbringen wollen, weil dann wird niemand froh.“ (Interview 8, Absatz 46)

Problematisiert werden in diesem Kontext zudem die sprachlichen Fähigkeiten von Eltern als ein relevanter Faktor, der das Engagement von Eltern in der Elterninitiative beeinflusse.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Die Anerkennung von und der kompetente Umgang mit Diversität ist ein relevanter Aspekt eines entwicklungsförderlichen Umfelds für Kinder in Kitas (vgl. Spensberger & Taube 2022 S. 235). Die von den Studierenden geführten Interviews mit Leitungskräften lassen erkennen, dass diese eine positive Grundhaltung der Thematik gegenüber aufweisen. Hinsichtlich des Umgangs mit den damit verbundenen Herausforderungen deutet sich demgegenüber an, dass die Umsetzung entsprechender inklusiver und diversitätssensibler Praktiken auf strukturelle Herausforderungen trifft und die Leitungskräfte sich hier mehr Ressourcen und Unterstützung wünschen. Insbesondere auch mit Blick auf die aktive Herstellung einer diversen Kita-Zusammensetzungen ist zu erkennen, dass die Befragten sich eher zurückhaltend äußern und entweder nur wenig Handlungsspielraum sehen oder Zugangsbarrieren thematisieren, die aufgrund externer Strukturen oder Annahmen über und Zuschreibungen an bestimmte Familien bestehen und nicht im Verantwortungsbereich der Kitas verortet werden. Dies wäre im Hinblick auf den gesellschaftlichen Auftrag von Kitas zu diskutieren.

Literaturverweise

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Inklusion als Integration von Kindern mit Behinderung? Ein Blick auf die Perspektive pädagogischer Fachkräfte integrativer Kindertageseinrichtungen

| Samuel Kähler |

In den letzten Jahren ist ein Zuwachs der Betreuung von Kindern mit »besonderen Förderbedarfen« in Kindertageseinrichtungen zu verzeichnen: Mittlerweile begleiten 38% der Regeleinrichtungen mindestens ein Kind mit diagnostizierter oder drohender Behinderung (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2021). Die Hintergründe dieser Entwicklung sind vielfältig, ein Erklärungsansatz liefert die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention und deren Inkrafttreten am 3. Mai 2008, durch welche sich Deutschland zur Schaffung eines inklusiven Betreuungssystems verpflichtet. Dass Inklusion also umgesetzt werden soll, ist klar, unklar ist jedoch, wie diese Umsetzung aussehen soll. Dies liegt u.a. an einer fehlenden Einigkeit dahingehend, was unter Inklusion überhaupt zu verstehen ist (Tures 2022).

In der aktuellen frühpädagogischen Praxis dominiert oftmals ein enges, auf die Integration von Kindern mit Behinderung verkürztes Inklusionsverständnis (Knauf & Graffe 2016). Dies ist durchaus nachvollziehbar: Frühpädagogische Fachkräfte begegnen diesem Thema insbesondere dann, wenn Kinder mit diagnostizierter oder drohenden Behinderung in der Einrichtung betreut werden sollen. Der erste Schritt hierfür ist eine Bedarfsermittlung nach dem Bundesteilhabegesetz, wonach zu prüfen ist, inwiefern eine Behinderung vorliegt, welche Auswirkungen diese hat und welche Unterstützung notwendig ist (s. BTHG vom 23.12.2016, § 13). Diese defizitorientierte Bedarfsermittlung ist sodann Grundlage für die Zuweisung zeitlicher und ökonomischer Ressourcen der Betreuung von Kindern mit besonderem Förderbedarf (z.B. Seitz 2012). Diese Kinder kommen dann als sogenannte Integrationskinder in den Regeleinrichtungen an.

Zwei Aspekte werden hier deutlich: Es zeigt sich eine strukturell-gesetzliche Verankerung der geforderten Inklusion als Integration. Der Fokus wird auf das einzelne (behinderte) Kind gerichtet, welches vor dem Hintergrund einer defizitär ausgerichteten Bedarfsbestimmung eine besondere Förderung erhält. Mit dieser verschwimmenden Differenz von Inklusion und Integration einhergehend wird eine Notwendigkeit der Etikettierung der Kinder als behindert (oder von einer Behinderung bedroht) erzeugt. Erst die Zuordnung eines Kindes in diesem zweiteiligen System Behindert-Nichtbehindert ermöglicht die Zuweisung wichtiger Ressourcen. Dieser strukturelle Zusammenhang wird unter dem Begriff des Etikettierungs-Ressourcen-Dilemmas kritisch diskutiert (z.B. Kornmann 1994).

Was will das Projekt?

Die von mir gestellte Frage ist, welches Bild die pädagogischen Fachkräfte von den sogenannten »I-Kindern« haben. Ich möchte also wissen, welche Vorstellungen über diese Kinder vorliegen und wie diese das Handeln orientieren. Grundlage für die Bearbeitung dieser Frage ist mein Dissertationsprojekt. In diesem beforsche ich Kindbilder frühpädagogischer Fachkräfte, wobei ich mit Bezug auf die Praxeologische Wissenssoziologie (Bohnsack 2017) zwischen expliziten Bildern vom Kind und impliziten Kindbildern differenziere:

  • Explizite Bilder vom Kind können von den von mir befragten AkteurInnen klar benannt werden, diese zeigen sich insbesondere in einem Sprechen über die Praxis, also in Bewertungen und Argumentationen.
  • Implizite Kindbilder sind stärker erfahrungsbezogen; sie werden durch Erfahrungen mit Kindern erworben und sind somit gebunden an ein handlungsleitendes Wissen, weshalb sie nicht direkt formuliert werden können, sondern insbesondere über Erzählungen und Beschreibungen zu rekonstruieren sind. Eben diese impliziten Kindbilder stehen hier im Fokus, wobei der Blick auf das Bild vom »I-Kind« gerichtet wird.

Wie bin ich vorgegangen?

Die zwei für diesen Beitrag herangezogenen Interviews stammen aus Gesprächen mit Fachkräften aus zwei unterschiedlichen Einrichtungen aus Mittelhessen, die sich über den Namen als integrativ ausweisen. Darüber hinaus wurden in dem Zeitraum 2020-2022 14 weitere Interviews geführt, die hier jedoch nicht miteinbezogen werden.

Die Datenerhebung erfolgte mittels Leitfadeninterviews (Helfferich 2011). In diesen erhalten die pädagogischen Fachkräfte vorrangig über erzählgenerierende Fragen den Raum, die eigene Perspektive auf Kinder zu entfalten. Ausgewertet wird das Material mit der Dokumentarischen Methode (Nohl 2017).

Was ist das Ergebnis?

Im Folgenden zeige ich, welches Bild vom »I-Kind« zwei pädagogische Fachkräfte haben, indem ich auf die Art und Weise schaue, wie sie über diese Kinder sprechen. Einsteigen möchte ich mit einem exemplarischen Auszug aus dem Interview mit Diana Dörfling.[1] Diana erzählte von einem Jungen, der etwas mehr „Begleitung“ braucht, woraufhin ich sie gebeten hatte, noch mehr von diesem Jungen zu erzählen:

„ja also ist auch mein I also ist auch n I-Kind der hat- aber so jetzt der hat zwar motorisch dadurch ähm ei- is er ein bisschen eingeschränkt da entwicklungsverzögert weil er ne (2) oh wie heißt des? ähm also offener Rücken nennt man das“ (Interview Diana)

Zunächst scheint eine starke Verbundenheit zu dem Kind auf, wenn die Akteurin von »ihrem« Integrationskind spricht. Im weiteren Verlauf steht sodann der Status »I-Kind« im Fokus. Dieser Relevanzsetzung folgend wird der Junge über seine abweichende Entwicklung beschrieben. Dem Jungen wird also eine von der Norm abweichende und defizitäre Entwicklung attestiert, die sodann wiederum mit einer angeborenen Behinderung begründet wird. Die Ursache der Behinderung läge dem folgend in dem Jungen, beziehungsweise in der Krankheit des Jungens, die als Teil des Jungens verstanden wird. Zudem fallen weitere Eigenschaften des Jungens hinter dem Status »I-Kind« und den damit einhergehenden Limitationen zurück. Im Folgenden richtet Diana den Blick auf die Fortschritte:

„er kann auch mittlerweile laufen er braucht zwar Orthesen damit die Füße ähm (.) ähm stabilisiert sind und er nicht wegknickt aber ansonsten, er kann auch ähm (.) greifen richtig (.) zwar nicht so wie die andern Kinder“ (Interview Diana)

Die defizitäre Besonderung wird weitergeführt: Gerade in der Beschreibung seiner Lern- und Entwicklungsfortschritte bleibt der ungleiche Status bestehen, wenn Diana zum einen auf die notwendige mechanische Unterstützung während des Laufens verweist und zum anderen, wenn sie die Fähigkeiten des Jungens mit denen der anderen Kinder vergleicht. Diese dienen hier als Hintergrundfolie, vor dem die Fähigkeit des Jungens eingeordnet und sodann als abweichend konstruiert wird. Diese Weise des Sprechens über Integrationskinder findet sich auch in weiteren Fällen. So erzählt beispielsweise Karin Kraus[2] ebenfalls von ihrem „I-Kind“, welches sich zwar entwickelt, aber nach wie vor „sprachliche Probleme“ hat.

Konsequenz dieser defizitären Besonderung der Kinder ist zumeist eine gezielte Einzelförderung: Exemplarisch hierzu ein Auszug aus dem Interview mit Karin:

„ja wir waren letzte Woche auch zusammen im Sprachraum dann haben wir zusammen ähm so Zungengymnastik gemacht […] das hab ich in so lustige Geschichte verpackt […] haben zusammen Wörter geklatscht, was ich immer ganz wichtig find so für die ähm die Sprache; und ähm haben dann auch noch zusammen ein Bilderbuch betrachtet wo sie mir ein bisschen was erzählen konnte so weit wie sie das schafft“ (Interview Karin)

Im Kontext der Fördermaßnahme wird das Kind nicht nur über den Status des »I-Kindes«, sondern nun auch räumlich aus der Gruppe hervorgehoben. Zu beobachten ist also eine doppelte Besonderung über den Status und der zeitlich limitierten räumlichen Abgrenzung. In eben diese Rahmung eingebettet wird nun gezielt an den ausgemachten Defiziten des Kindes gearbeitet, wobei Karin die Sitzung inhaltlich steuert.

Zusammenfassung:

  1. Das Bild vom »I-Kind« ist strukturiert durch eine Konstruktion einer defizitären Andersartigkeit. Krähnert, Zehbe und Cloos (2022) sprechen mit Blick auf diese Weise der Hervorhebung treffend von einer „negativen Verbesonderung“. Die Kinder werden über ihre entwicklungsbezogenen Abweichungen und den hiermit einhergehenden Status sowie über die gezielten Fördermaßnahmen von dem Rest der Gruppe abgegrenzt. Die jeweiligen Defizite werden dabei als wesentlicher Teil der Kinder verstanden. Konsequenz hieraus ist zumeist die Förderung der Kinder, also das gezielte Bearbeitung von ausgewiesenen Defiziten und eine Normalisierung der Entwicklung.
  2. Mit Blick auf die eingangs skizzierten und notwendigen Etikettierungs-Prozesse erscheint dieses Bild vom »I-Kind« als eine Bearbeitung des zugrundeliegenden Spannungsfeldes: Bereits über den für die Ressourcenzuweisung notwendigen Status des »I-Kindes« tritt das Kind als besonders aus der Gruppe hervor. Somit ist die negative Besonderung der Kinder sowie eine Reduzierung von Inklusion auf die Integration einzelner (behinderter) Kinder bereits strukturell angelegt und durchaus sinnhaft sowie funktional. Pädagogische Fachkräfte bewegen sich also in Strukturen, die das hier aufgezeigte Bild miterzeugen, zugleich erhalten sie diese Strukturen durch ihr Handeln aufrecht und stellen diese immer wieder neu her.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Wenn es das Ziel sein soll, Inklusion nicht auf die Integration von Kindern mit Behinderung zu begrenzen, ist über die folgenden Aspekte nachzudenken:

  1. Integration oder Inklusion: Erster Ansatzpunkt wäre eine klare begriffliche und inhaltliche Unterscheidung zwischen Integration und Inklusion. Wie die Benennungen »Integrationskinder« und »integrative Einrichtungen« aufzeigen, ist der Integrationsbegriff nach wie vor von zentraler Bedeutsamkeit. Ist Inklusion das Ziel, muss geklärt werden, was hierunter verstanden wird und Inklusion als Ziel sodann auch benannt werden.
  2. Inklusion und Behinderung: Inklusion als Integration von Kindern mit Behinderung verkürzt den inklusiven Gedanken nicht nur auf das Ziel der Integration, sondern ebenso auf die Vielfaltsdimension Behinderung. Ein weites Inklusionsverständnis geht hierüber hinaus und impliziert den Anspruch, Kinder in ihren Mehrfachzugehörigkeiten wahrzunehmen: Nicht nur eine Behinderung, sondern auch andere Zugehörigkeiten wie Geschlecht oder Herkunft können Teilhabebarrieren zur Konsequenz haben, die es zu beachten gilt. Kinder tragen also viele Eigenschaften in sich, über die sie beschrieben werden können. Inklusion wird dann zu einem Konzept für alle Kinder, wie es beispielsweis im Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung (Wagner 2017a) vertreten wird.
  3. Etikettierungen: Auf der einen Seite sind Etikettierungen pädagogisch relevant, wie Dederich (2017) aufzeigt. Auf bestimmte Etikette zu verzichten würde bedeuten, hieran anschließendes Wissen zu ignorieren – zum Beispiel im Bereich der Förderung der motorischen Entwicklung – und also eine „Unschärfe pädagogischer Interventionen“ in Kauf zu nehmen. Auf der anderen Seite befördern Etikettierungen Stigmatisierungen und Veränderungen des Selbstbildes betroffener Personen (Wagner 2017b). Dieses Dilemma ist nicht aufzulösen, wichtig ist aber: Etikettierungen sollten mit dem Wissen um deren stigmatisierender Wirkung genutzt und nie auf eine Person als Ganzes bezogen werden. Ein Kind sollte immer mehr sein, als nur seine Behinderung. Zudem sind Etikettierungen auf deren pädagogische Relevanz zu befragen: So kann das Etikett der motorischen Entwicklungsverzögerung durchaus wichtig sein, um präziser fördern zu können, während das formal notwendige aber zugleich sehr undifferenzierte Etikett des »I-Kindes« das Kind primär als defizitär-anders von den anderen Kindern abhebt. Das Sprechen über Kinder (z.B. mit Eltern oder KollegInnen) und auch mit Kindern ist demnach auf Etikettierungen zu hinterfragen, die pädagogisch irrelevant sind und zugleich Diskriminierung und Barrieren erzeugen können.
  4. Barrieren: Ein zentraler Mehrwert einer inklusionstheoretischen Perspektive ist der Fokus auf behindernde Strukturen, mit der Intention, diese abzuschwächen oder gar zu entfernen. Diese Barrieren können materielle Barrieren sein (z.B. Treppen und geschlossene Türen), die zu erkennen und beseitigen sind, oder aber auch Barrieren, die durch Diskriminierung und Ausgrenzung erzeugt werden (z.B. Vorurteile und stigmatisierende Etikettierungen), welche nur reflexiv aufgelöst werden können. Nicht nur das Kind, sondern auch die Umwelt und die Erwachsenen als Teil dieser Umwelt sollten Ansatzpunkt für Intervention sein. (Beher et al. 2021)

Pädagogischen Fachkräften kommt eine sehr herausfordernde Aufgabe zu: Obwohl Inklusion rechtlich vorausgesetzt wird, arbeiten sie in Strukturen, die eine Reduzierung von Inklusion auf eine Integration von Kindern mit Behinderung begünstigen und sind zugleich Teil der Aufrechterhaltung dieser Strukturen. Die hier vorliegenden Spannungsfelder können die pädagogischen Fachkräfte nicht in Gänze auflösen – dennoch sind sie zentrale Akteure, ohne die eine inklusive Betreuung nicht umgesetzt werden kann. Eine kritische Reflexion vorliegender Strukturen, Barrieren und der eigenen Perspektive auf das Kind können hierfür erste, wichtige Ansatzpunkte sein.

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Seitz, S. (2012). Frühförderung inklusive – Inklusive Pädagogik in Kindertageseinrichtungen mit Kindern bis zu drei Jahren. In B. Gebhard & B. Hennig (Hrsg.), Interdisziplinäre Frühförderung. Exklusiv – kooperativ – inklusiv (S. 315–322). Stuttgart: Kohlhammer.

Tures, A. (2022). Inklusion und Diversität: soziale Vielfalt im Blick. In N. Neuß & S. Kähler (Hrsg.), Grundwissen Kindheitspädagogik. Eine Einführung in Perspektiven, Begriffe und Handlungsfelder (S. 237–248). Berlin: Cornelsen; Verlag an der Ruhr.

Wagner, P. (Hrsg.). (2017). Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder.

Wagner, P. (2017). Vielfalt und Diskriminierung im Erleben von Kindern. In P. Wagner (Hrsg.), Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung (S. 87–106). Freiburg im Breisgau: Verlag Herder.


[1] Diana ist eine Erzieherin in einer integrativen Einrichtung und hier vorrangig im Krippenbereich tätig. Alle personenbezogenen Angaben sind anonymisiert.

[2] Karin ist ebenfalls eine Erzieherin in einer integrativen Einrichtung, hat jedoch zusätzlich eine Heilpädagogikausbildung absolviert und arbeitet im Ü3 Bereich.

Elterngespräche als vulnerante Settings in inklusiven Kontexten

| Katja Zehbe |

Elterngespräche sind ein Kernbestandteil kindheitspädagogischer Settings und stellen als Teil der Kommunikation zwischen Kindertageseinrichtungen und Erziehungs- und Sorgeberechtigten ein Bindeglied zwischen diesen beiden dar.

„Diese spezifische Form des regulären Austauschs ist institutionell gerahmt: So findet das Elterngespräch in der Kindertageseinrichtung statt, liegt in der Pflicht und Zuständigkeit der pädagogischen Fachkräfte, diese laden in der Regel zu diesen Gesprächen ein und bereiten sie gewöhnlich auch vor“ (Zehbe/Krähnert/Cloos 2021, S. 10).

Elterngespräche werden damit als Teil der zu etablierenden und zu pflegenden Erziehungs- und Bildungspartnerschaft angesehen und gehen häufig mit hohen Erwartungen und Hoffnungen, (ausführlich Betz 2015), aber auch spezifischen Herausforderungen und Ressourcen einher. So ist etwa davon auszugehen, dass die Gesprächsbeteiligten in Elterngesprächen unterschiedliche Perspektiven auf die verschiedenen Gesprächsthemen einbringen können (Zehbe/Krähnert/Cloos 2021). Die damit potenziell einhergehenden Widersprüche, Uneindeutigkeiten und Missverständnisse in Elterngesprächen müssen hier als grundlegende Herausforderung und Ressource verstanden werden, die in einem ebenbürtigen Dialog bearbeitet – aber nicht aufgelöst werden können (ebd.).

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte Projekt „Begleitung von inklusiven Übergangsprozessen in Elterngesprächen“ (BeikE) unter der Leitung von Prof. Dr. Peter Cloos mit Isabell Krähnert und Katja Zehbe als Projektmitarbeitende hat sich daher von 2017-2021 (Förderkennzeichen: 01NV1716) mit Fragestellungen rund um Inklusion, Übergangsgestaltung und Elterngesprächen beschäftigt.

Was will das Projekt/Was ist das Phänomen?

Gegenstand unserer Untersuchung waren Elterngespräche in Kindertageseinrichtungen, die sich selbst als „integrativ“ oder „inklusiv“ bezeichnen (bspw. in ihren Internetauftritten oder Einrichtungskonzeptionen). Dabei lag der Fokus auf der Erhebung von Gesprächen über Kinder mit sog. Integrationsstatus, die möglichst an formalen Übergängen stattfanden (Übergang von der Familie in die Einrichtung, Wechsel innerhalb der Einrichtung, aus der Einrichtung hinaus) (Im Folgenden Krähnert/Zehbe/Cloos 2021). Wir haben untersucht, ob und wie in Elterngesprächen Inklusion und Übergänge gestaltet werden. Im Detail haben wir u.a. rekonstruiert, welche Formen der Zusammenarbeit sich zwischen Erziehungs- und Sorgeberechtigten und Pädagog*innen identifizieren lassen.

Es wurden folglich drei Perspektiven

  • Inklusion
  • Transition
  • Erziehungs- und Bildungspartnerschaft

miteinander verquickt und auf die diskursive Herstellung in Elterngesprächen fokussiert:

  • Wie ist das ‚Gebilde‘ Elterngespräch beschaffen? Wie sind Elterngespräche beschaffen?
  • Welche Modi des Sprechens und damit der Zusammenarbeit lassen sich rekonstruieren?
  • Wie wird dabei Inklusion entworfen und wenn ja, in welcher Weise?
  • Welche Formen von Transitionen lassen sich identifizieren?
  • Und was könnte dann als „inklusive Übergangsgestaltung“ gefasst werden?

Wie sind wir vorgegangen?

Für unsere Studie haben wir ein längsschnittliches Design gewählt. Dazu haben wir in 10 Einrichtungen in verschiedenen Bundesländern insgesamt 29 Elterngespräche über 15 Kinder in drei Erhebungsphasen erhoben. Auf diese Weise haben wir mehrere, aufeinander folgende Elterngespräche über das gleiche Kind begleitet.

Die Elterngespräche wurden auditiv aufgezeichnet, Beobachtungsprotokolle wurden flankierend angefertigt. Die Transkripte der Elterngespräche wurden mit der Gesprächsanalyse der Dokumentarischen Methode (Przyborski 2004; Cloos/Gerstenberg/Krähnert 2019) analysiert.

Was ist das Ergebnis?

Die Forschungsergebnisse unserer Studie können an dieser Stelle nur knapp skizziert werden (ausführlich in Krähnert/Zehbe/Cloos 2022). Wir konnten dabei eine Typologie von Elterngesprächen entwickeln, die wir im Folgenden kurz vorstellen möchten.

Ein zentraler Befund ist zunächst die hochvariable Gestalt der Elterngespräche. So haben wir enorme Unterschiede in der Art und Weise der Ausgestaltung der Gespräche über sog. Integrationskinder gefunden. Basistypisch – also das, was alle Elterngespräche miteinander verbindet – ist jedoch, dass sich in diesen Kommunikationen an zwei konstitutiven Bezugsproblemen abgearbeitet wird (ebd., S. 80ff):

  1. Der Vulnerabilität der Eltern hinsichtlich einer „negativen Verbesonderung“
  2. Der Herstellung einer stabilen Interaktionsorganisation mit einer höchst heterogenen Elternschaft

Das erste Bezugsproblem, die elterliche Verletzlichkeit, speist sich dabei aus der Etikettierung ihrer Kinder. Das bedeutet, dass diese Elterngespräche über Kinder mit sog. Integrationsstatus in besonderer Weise ein Potential elterlicher Verletzlichkeit bergen, da ihrem Kind – ob berechtigterweise oder nicht sei hier offen gelassen – ein Defizit, ein Mangel oder ein konkreter Förderbedarf zugeschrieben wird.

Das zweite Bezugsproblem speist sich aus der Heterogenität der Elternschaft: So sind Elterngespräche zum einen Teil der Kommunikation von Akteur*innen verschiedener Institutionen – Kindertageseinrichtungen und Familie – und damit Teil der Kommunikation an der Schnittstelle von Institutionen. Damit unterschieden sie sich deutlich von bspw. internen Teamgesprächen, in denen eine gemeinsame Perspektive und Haltung häufig bereits erarbeitet wurde. Zum anderen sind Eltern nicht nur Organisationsexterne und damit nicht mit gängigen organisationsinternen Themen, Perspektiven, Instrumentarien etc. vertraut, sondern sie sind zugleich selbst als höchst heterogene Gruppe zu verstehen. Ob eine Fachkraft einem Vater im Asylverfahren gegenübersitzt, dessen Sprache sie nicht spricht, oder einem akademisch geprägten Elternpaar macht einen deutlichen Unterschied für die Gesprächsgestaltung.

Die Bearbeitung dieser beiden Bezugsprobleme, oder Handlungsherausforderungen für alle Gesprächsteilnehmenden, wird auf drei verschiedene Weisen geleistet, die wir zu Typen kondensieren konnten (im Folgenden: Zehbe/Krähnert/Cloos 2021, S. 27).

Und was kann das für Praxis bedeuten?

In unserem Projekt BeikE wollen wir im Transferbereich ein Fallverstehen in der kindheitspädagogischen Qualifizierung in Hochschulen, Universitäten und Weiterbildung unterstützen. Fallverstehen kann als „purely professional act“ (Abbott 1988, S. 40) verstanden werden. In diesem Sinne werden gezielte Methoden benötigt, um Fallverstehen in der (Weiter-)Qualifizierung von pädagogischen Fachkräften anzubahnen. Wir denken, dass hier neben dem Forschenden Lernen die Kasuistik eine gute Möglichkeit darstellt, dies anzubahnen. Denn: Kasuistik zielt darauf ab zu verstehen, wie etwas in einer pädagogischen Praxis zum Fall wird. Wenn zum Beispiel in einem Elterngespräch begonnen wird über ein Kind zu sprechen, indem zunächst alle problematischen Aspekte zusammengetragen werden, dann wird der Fall – als ein problematischer – potenziell auch sonderpädagogischer Fall zugerichtet.

Kasuistik versucht Blicke auf Fälle zu ermöglichen mit dem Ziel zu irritieren, neue Perspektiven zu entwickeln und eigene Positionen zu Fällen herzustellen. Kasuistik ermöglicht darüber nachzudenken, ob ich etwas, das als Fall entworfen ist, ganz anders denken würde. Kasuistik stößt so deutlich ein Nachdenken über Handlungsoptionen an. Wie würde ich in dieser Situation handeln?

Für die oben in aller Kürze dargestellten Forschungserkenntnisse aus dem BeikE-Projekt haben wir daher eine Arbeitsbroschüre v.a. für Lehrende und Lernende in sozial- und kindheitspädagogischen sowie erziehungswissenschaftlichen Studien- und Ausbildungsgängen an Fach- und Hochschulen bzw. Universitäten sowie Interessierte in Aus-, Fort- und Weiterbildung entwickelt. In dieser wird theoretisch in Elterngespräche eingeführt und anhand von 14 Vignetten – als Vignette bezeichnen wir ein verdichtetes, exemplarisches Praxisbeispiel, das sich auf typische Handlungsherausforderungen bezieht – die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit konkreten Situationen aus Elterngesprächen geschaffen. Über die Arbeit mit der Broschüre wollen wir damit einen reflexiven Blick auf Elterngespräche als vulnerante Settings schärfen, indem wir zu jeder Vignette Impulsfragen und ein Angebot zur Kurzinterpretation eingefügt haben. Damit geht es darum,

  • Für was Allgemeines steht der Fall?
  • In welcher Weise helfen mir die Theorien, einen Fall zu verstehen?
  • die eigenen Orientierungen und praktischen Erfahrungen mit dem empirischen Fall und den daraus abgeleiteten Ergebnissen in Beziehung zu setzen.
  • Fälle zu kontrastieren.

Unsere Broschüre „Elterngespräche und die Gestaltung von (inklusionsorientierten) Übergängen in Kindertageseinrichtungen“ steht kostenfrei auf der Online-Plattform Plattform für Forschungs- und Fallorientiertes Lernen | Fallzentrale | https://doi.org/10.18442/pforle zur Verfügung und kann als Download vor allem für die hochschulische Lehre in der Kindheitspädagogik, aber auch der Aus-, Fort- und Weiterbildung und von alle Interessierten genutzt werden.

https://hildok.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/1205

Die Ergebnisse unseres Projekts können ausführlich und kostenfrei hier nachgelesen werden:

Krähnert, I./Zehbe, K./Cloos, P. (2022): Polyvalenz und Vulneranz: Empirische Perspektiven auf inklusionsorientierte Übergangsgestaltung in Elterngesprächen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/produkte/details/47425-polyvalenz-und-vulneranz.html

Literaturverweise

Abbott, A. (1988). The System of Profession. Chicago: University of Chicago Press.

Betz, T. (2015). Das Ideal der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft. Kritische Fragen an eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtungen, Grundschulen und Familien. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Cloos, P.,/Gerstenberg, F.  & Krähnert, I. (2019). Kind – Organisation – Feld. Komparative Perspektiven auf kindheitspädagogische Teamgespräche. Weinheim: Beltz Juventa.

Krähnert, I./Zehbe, K./Cloos, P. (2022): Polyvalenz und Vulneranz: Empirische Perspektiven auf inklusionsorientierte Übergangsgestaltung in Elterngesprächen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/produkte/details/47425-polyvalenz-und-vulneranz.html

Przyborski, A. (2004). Gesprächsanalyse und dokumentarische Methode. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Zehbe, K., Krähnert, I. & Cloos, P. (2021). Elterngespräche und die Gestaltung von (inklusionsorientierten) Übergängen in Kindertageseinrichtungen. Arbeitsmaterialien für die fallorientierte Lehre. Hildesheim: Universitätsverlag. https://dx.doi.org/10.18442/pforle-1.

Ansprechperson

Dr. Katja Zehbe, zehbe@hs-nb.de
Vertretung der Professur für Kindheit und Sozialisation mit Schwerpunkt struktur- und prozessbezogene Steuerung an der Hochschule Neubrandenburg, Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung

Geschlecht und die Pädagogische Irrelevanzdemonstration in Krippen

| Svenja Garbade |

Diskussionen um Gender und Geschlecht sind vor dem Hintergrund der Vermeidung sozialer Ungleichheit in der Praxis der Kindertageseinrichtungen präsent (Kubandt, 2019). Vor allem die Diskussion um das Geschlecht der Fachkräfte und die Förderung von Kindern unterschiedlichen Geschlechts wird immer wieder geführt (Rose & Stibane, 2013). Forschungsergebnisse darüber, welche Deutungsmuster die pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen zu Geschlecht haben, gibt es aber bisher nicht (Brandes et al., 2016; Kuger et al., 2014). Somit war dies das Thema meines Dissertationsprojekts, um die Forschungslücke zu schließen, welche Deutungen überhaupt zu Geschlecht in der Kindertagesstätte vorhanden sind.

In meiner Dissertation

  • habe ich pädagogische Fachkräfte im Krippenalltag mit der Kamera begleitet und sie beobachtet.
  • habe ich Interviews auf Basis der erstellen Videoszenen mit den Fachkräften geführt.

Da die Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen durch die Bildungs- und Orientierungspläne dazu aufgefordert sind, geschlechtergerecht zu arbeiten (Meyer, 2018), stellt sich die Frage, wie diese selbst das bewerten und wo sie diese Anforderung ggf. bereits umsetzen. Wie Geschlechtergerechtigkeit verstanden wird, ist dabei keinesfalls vorherzusehen, sondern wird je nach Forschung unterschiedlich betrachtet (Kubandt, 2016; Kubandt & Meyer, 2012). Die Forschung hatte dabei nicht zum Zweck zu beurteilen, ob die Fachkräfte sich richtig oder falsch verhalten. Vielmehr stand im Mittelpunkt, wie sie die Anforderung nach Geschlechtergerechtigkeit bewerten und von welchen Umgangsweisen sie im Interview berichten, damit folgt die Untersuchung einem anti-normativen Zugang (Kuhn, 2013).

Was will das Projekt? Was ist das Phänomen?

Geschlecht als Strukturkategorie[1] zu fassen bedeutet anzuerkennen, dass soziale Ungleichheit auch durch Geschlecht ausgelöst und mitbestimmt wird (Butler, 2014). Dabei wird anhand der biologischen Zuordnung bestimmt, welche Person welches Geschlecht (weiblich*, männlich*, divers*)[2] zugeordnet bekommt. Die viel weitreichendere Konsequenz ergibt sich im Sozialen durch diese Zuordnungen, da Geschlecht immer auch mit (Rollen-)Erwartungen und (Interessens-)Zuschreibungen verbunden ist. Diese können im Falle einer Nicht-Erfüllung von stereotypen Erwartungen zu sozialer Ungleichheit führen und Ausgrenzungsprozesse zur Folge haben (Bereswill, 2014). Auch können die Subjekte sich aufgrund dieser Erwartungen, die bereits in sehr früher Kindheit unbewusst oder bewusst an sie herangetragen werden, sich unter Umständen nicht völlig frei nach ihren Persönlichkeitsmerkmalen und Interessen entfalten. Diese Wirkweise von Geschlecht als Strukturkategorie ist vielfach erforscht und im wissenschaftlichen Diskurs wenig umstritten (Diehm et al., 2017).

In der Kindheitspädagogik werden Kinder in sozialen Einrichtungen von ausgebildetem Fachpersonal betreut. Die Bildungs- und Orientierungspläne, wie auch die Berufsbezeichnungen gehen davon aus, dass pädagogische Fachkräfte und die zugehörigen Kindertageseinrichtungen eine kompensatorische Wirkung gegenüber sozialen Ungleichheiten einnehmen sollen: sie sollen sich also gegen soziale Ungleichheit einsetzen (Betz, 2010). Nun sind Geschlechterstereotype ein Thema, das alle Personen betrifft und die gesellschaftlichen Strukturen sind fest verankert. Um herauszufinden, welche Deutungsmuster die pädagogischen Fachkräfte zu Geschlecht haben und welche Bedeutung sie dem in ihrem pädagogischen Alltag zuschreiben, bin ich in den Krippenalltag gegangen und habe danach gefragt.

Wie bin ich vorgegangen?

Dafür habe ich 12 Stimulated-Recall-Interviews mit pädagogischen Fachkräften unterschiedlicher Qualifikation in fünf unterschiedlichen Krippen geführt. Stimulated-Recall-Interviews (Dempsey, 2010) zeichnen sich dadurch aus, dass sie Videos der Interviewten als Auftakt für das Interview nutzen und damit eine Reflexionsebene am eigenen Handeln ermöglichen. Ursprünglich kommt diese Technik aus der Unterrichtsforschung. Die Videos dienen zum Gespräch über das eigene pädagogische Tun und die Interviews wurden durch einen Leitfaden strukturiert. Die Auswertung erfolgt über die Konstruktivistische Grounded Theory (Charmaz, 2014). Ziel war es herauszufinden, wie die pädagogischen Fachkräfte Geschlecht als relevante Kategorie in ihrem Alltag bewerten und welchen Umgang sie damit schildern. Zusätzlich habe ich nach Werten und Einstellungen gegenüber Geschlecht geschaut und diese in vier maximal kontrastierende Fälle gegenüber gestellt und ein Deutungsmuster als Kernkategorie herausgearbeitet.

Was ist das Ergebnis?

Die Kernkategorie ist das Deutungsmuster der pädagogischen Irrlevanzdemonstration. Es ließ sich zeigen, dass die Interviewten zwischen Relevanz und Irrelevanz von Geschlecht immer wieder wechselten: sie legten sich also nicht fest, ob Geschlecht für sie wichtig oder unwichtig in der pädagogischen Praxis war. Ich fragte mich, warum das so sei und stellte fest: immer wenn es um Erwachsene ging, wurde Geschlecht wichtig: in der Art der Zusammenarbeit zwischen Männern* und Frauen*, in der Arbeit mit den Sorgetragenden ist Geschlecht als Kategorie der Abgrenzung und der Ähnlichkeit für die Fachkräfte wichtig. Bei den Kindern wurde Geschlecht als nicht wichtig erachtet, weil dort Geschlecht als pädagogische Aufgabe entweder als

  1. pädagogisch bereits bearbeitet erachtet wurde oder
  2. pädagogisch als nicht bearbeitungsnotwendig hergestellt wird.

Das hat große Konsequenzen, denn es bedeutet, dass Geschlecht zu keinem Zeitpunkt bei der Akteur*innengruppe der Kinder relevant für die Fachkräfte wird. Sie müssen es also pädagogisch nicht berücksichtigen. In den geführten Interviews wird diese Perspektive gut sichtbar. Es konnten drei Strategien des Umgangs rekonstruiert werden:

a. individualisierende Strategie
b. affirmativ-normalisierende Strategie
c. räumlich-egalisierende Strategie

Dabei werden alle drei Strategien von allen Fachkräften angewendet, sind also keine Typen von Personen, sondern stellen Typen von Deutungen dar, wie argumentiert werden kann. Mit Blick auf die Akteur*innengruppe der Kinder stelle ich die drei Strategien anhand exemplarischer Interviewausschnitte vor[3].

a. Individualisierende Strategie

In der individualisierenden Strategie beschreiben die Fachkräfte die Behandlung des Themas Geschlecht als nicht notwendig, WEIL diese die Kinder individuell betrachten würden. Im folgenden Ausschnitt wird Bettina[4] gefragt, warum sie vorher sagt, dass sie sich über Geschlecht keine Gedanken mache.

„I: was glaubst du, warum machst du dir keine Gedanken darüber?
E1: (3) ich seh das KIND, also ich seh in dem Moment nicht das Geschlecht, ich seh das Kind=das Kind braucht Hilfe beim Anziehen und ich helfe ihm. Und wenn es mir seine Haarspangen und seine Haargummis hinlegt dann, alles klar, ich mach da jetzt noch die Zöpfe oder ich bind die Haare zusammen oder, ähm (..) das witzige ist, bei Sam, der kam auch schon mit Haarspangen, ähm, und dann hab ich auch IHM die Haarspangen reingemacht und das ist mir dann- also ich find das dann nicht wichtig. Er fands schön (.) dann machen wir das (.) so (hm) hat er sich gefreut drüber ((lacht))“  (SRI Bettina Wiese)[5]

Sie antwortet damit, dass das Kind im Mittelpunkt stünde, sie auf die Bedürfnisse des Einzelnen achte, jedoch nicht nach Geschlecht einen Unterschied machen würde. Dies legitimiert sie auch damit, dass sie danach anführt, dass sie auch Sam – dem Kind aus dem Video – eine Haarspange ins Haar geklemmt hat, weil er es wünschte. Somit wird Geschlecht für diese Situation nicht als relevant und zu bearbeiten gerahmt.

Der Blick auf die individuelle Betrachtung wir höher priorisiert als die strukturellen Diskriminierungen, die für das Kind entstehen. An der strukturellen Diskriminierung durch die Zuordnung zu einem Geschlecht wird erst einmal nichts geändert. Zur Einordnung: Die individuelle Betrachtung gilt als der beste Weg dem Kind gerecht zu werden, da sie in vielen pädagogischen Bereichen als bester Weg des Umgangs mit Heterogenität gilt. Damit würde die Dimension Geschlecht als bereits bearbeitet gelten. Wenn jedoch die Konsequenz zu sein scheint, dass die individuelle Betrachtung das Wissen um strukturelle Diskriminierungen obsolet macht, ist die Konsequenz die Dethematisierung.

b. Die affirmativ-normalisierende Strategie

In der affirmativ-normalisierenden Strategie gehen die Fachkräfte davon aus, dass kein Handlungsbedarf besteht, weil die Unterschiedlichkeiten nicht benannt oder ausgeglichen werden müssten. Jungen* und Mädchen* mit ihren zugeschriebenen Eigenschaften werden als positive Bereicherung im Sinne eines kritiklosen Vielfaltsdiskurses bestimmt. Dabei wird die Differenz durch die Zuschreibung zu erst einmal stereotypen Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften selbst zur Benachteiligung. Im Fall von Elisas Interview wird dies deutlich, indem sie auf die natürlichen Unterschiede zwischen Mädchen* und Jungen* verweist.

„E10: Grundspezifische äh Verhaltensweisen und Spielverhalten gibt bei bei Jungs und bei Mädchen, und ähm ich weiß dass bei meinen Mädchen ähm, die sind grundverschieden und (.) natürlich haben die sicherlich bei dem einen andere Dinge gemacht als bei dem anderen, aber ähm ich weiß wenn ich meinen Kindern ein Auto hingestellt hab und ne Puppe, es war immer die Puppe. Also das soll jetzt nicht heißen dass das bei allen Mädchen so ist gibt sicherlich auch andere Mädchen, ähm (..) aber wenn ich mir das so angucke, grade hier auch in der Krabbelgruppe wenn die so anfangen, womit sie spielen und wo ihr INTERESSE liegt, dann gibt es schon Mädchen und Jungs (.) also ich finde, für mich gibt es da Unterschiede.“ (SRI Elisa Kanne)

Dabei bezieht sich Elisa auf ihre Erfahrungen zurück und verweist – auch an anderen Stellen im Interview – auf vorveranlagte Unterschiede in Interesse und Persönlichkeit, weil die Aufgabenspektren sich unterscheiden würden, wenn die Kinder groß seien. So würden Mädchen* auf die Care-Tätigkeit vorbereitet, während Jungen* im Wettbewerb und technischen Interessen stehen würden. Da Elisa davon ausgeht, dass dies eine Art natürlicher Ordnung darstellt, besteht für sie kein Handlungs- oder Interventionsbedarf dahingehend.

c. Die räumlich-egalisierende Strategie

In dieser Strategie wird Geschlecht als nicht bearbeitungsnotwendig markiert, weil in der Krippe keine Ungleichheit stattfinden kann. Dies wird begründet mit dem Zeichnen einer ungerechten Welt, die Menschen unterschiedlich behandelt und aus diskriminiert. In der Krippe jedoch würde eine Art Insel bestehen, die keine Ungleichheit ermögliche. Da an der äußeren Welt nichts geändert werden könne, und im Inneren keine Ungleichheit bestehe, erfolgt auch hier eine Dethematisierung. In Bettinas Interview wird dies besonders deutlich über Spielmaterial, was von außen an die Krippe herangetragen wird und welches in der Krippe vorhanden ist.

„E1: (.) also, es ist mit den Jungs wie mit den Mädchen, unsere Jungs bringen derzeit alle Autos mit, es ist kein einziges Mädchen dabei, was ein Auto mitbringt (.) also das macht sich zur Zeit grade ganz doll bemerkbar, die Mädchen bringen dann eher mal n Kuscheltier mit oder ne Puppe, aber die Jungs bringen grade die Matchboxautos mit (.) das ist grad so ne, so ne Jungsdomäne bei uns. Die Mädchen klinken sich da jetzt son bisschen mit ein, aber (.) es ist nicht so dass sie von zu Hause mal eins mitbringen
I: und da wird Geschlecht ja schon relevant im Alltag, oder?
E1: Ja, wenn mans so sieht ja. Also nicht von uns, also das ist jetzt nicht das was   wir so vorgeben, sondern es sind einfach die verschiedenen Materialien, die wir anbieten.“ (SRI Bettina Wiese)

Während die Kinder unterschiedliche Spielmaterialien in die Krippe bringen, wird deutlich, dass Bettina unterscheidet in der Zuständigkeit für Spielmaterial, je nachdem, ob die Kinder dies von zu Hause mitbringen oder sie und die Kolleg*innen dieses in der Krippe bereit stellen. Die geschlechtliche Konnotation im Spielen wird hier durch die unter Dreijährigen selbst in die Krippe gebracht. Das große Interesse wird wahrgenommen, jedoch pädagogisch darauf nicht reagiert, weil das Spielmaterial von außen durch die Kinder herangetragen wird. Somit wird keine pädagogische Intervention, wie die Bereitstellung von mehr Autos im Krippenraum, als relevant erachtet.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Die Strategien der pädagogischen Irrelevanzdemonstration zeigen auf, dass eine Dethematisierung der Relevanz von Geschlecht in pädagogischen Settings entstanden ist. Die Ursachen haben etwas mit dem gesellschaftlichen Bild von Geschlecht wie auch der Kindheitspädagogik zu tun (Garbade, 2021).

Konsequenzen für die pädagogische Praxis selbst kann es sein, sich zu fragen: wie kann ich Geschlechtergerechtigkeit in der Einrichtung erstens anerkennen und zweitens umsetzen? Wenn die Dethematisierung, also das unbewusste Bagatellisieren von Unterschieden bezüglich des Geschlechts, ein Deutungsmuster ist, betrifft dies höchstwahrscheinlich sehr viele pädagogische Fachkräfte, und auch einen selbst. Die Anerkennung, dass diskriminierende Denkstrukturen bei uns allen vorhanden sind, kann ein erster Schritt sein, um sich selbst auf bestimmte Verhaltensweisen, Aussprüche und Strukturen hinzuweisen. Hilfreich ist es dann, sich routiniert die Frage zu stellen: was hat diese Situation mit Geschlecht zu tun? Dabei ist es besonders erforderlich, fehlerfreundlich mit sich selbst zu sein. Diskriminierendes Denken aufzugeben, bedeutet einen lebenslangen Prozess und das ist okay. Die Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit in der Einrichtung selbst kann bei Kleinigkeiten anfangen:

  • Welches Spielmaterial setzen wir ein?
  • Wie wählen wir es aus?
  • Wie sprechen wir Eltern an? Sprechen wir Mütter* anders als Väter* an? Wenn ja, warum?
  • Wo kann ich Mädchen* ermöglichen nicht-stereotypes Spiel zu spielen? Wie kann ich Jungen* Gefühle zeigen und freien Kleidungsstil ermöglichen?
  • Warum fallen mir Stereotype leichter, als umzudenken?

Auch hier ist es relevant, Scheitern nicht als den Beweis für das eigene Unvermögen zu betrachten, sondern sich produktiv zu fragen, was das Scheitern mit Geschlechterstereotypen zu tun hat.

Literaturverweise

Bereswill, M. (2014): Geschlecht als Konfliktkategorie. In: Behnke, D./Lengersdorf, C./Scholz, S.(Hrsg.), Wissen – Methode – Geschlecht: Erfassen des fraglos Gegebenen. Wiesbaden: Springer VS. S. 189–199.

Betz, T. (2010): Kompensation ungleicher Startchancen: Erwartungen an institutionalisierte Bildung, Betreuung und Erziehung für Kinder im Vorschulalter. In: Cloos, P./Karner, B. (Hrsg.): Erziehung und Bildung von Kindern als gemeinsames Projekt: zum Verhältnis familialer Erziehung und öffentlicher Kinderbetreuung. Baltmannsweiler: Schneider. S. 113–134.

Brandes, H./Andrä, M./Röseler, W./Schneider-Andrich, P. (2016): Macht das Geschlecht einen Unterschied? Ergebnisse der „Tandem-Studie“ zu professionellem Erziehungsverhalten von Frauen und Männern. Opladen: Barbara Budrich.

Butler, J. (2014): Das Unbehagen der Geschlechter (16. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Charmaz, K. (2014): Constructing grounded theory (2. Aufl.). London: SAGE.

Dempsey, N. P. (2010): Stimulated Recall Interviews in Ethnography. Qual Socio, 2010(33), S. 349–367.

Diehm, I./Kuhn, M./Machold, C. (2017): Differenz und Ungleichheit in der Erziehungswissenschaft – einleitende Überlegungen. In: Diehm, I./Kuhn, M./Machold, C. (Hrsg.): Differenz – Ungleichheit – Erziehungswissenschaft: Verhältnisbestimmungen im (Inter-)Disziplinären. Wiesbaden: Springer VS. S. 1–26.

Garbade, S. (2021): Geschlecht aus Perspektive frühpädagogischer Fachkräfte: Pädagogische Irrelevanzdemonstration. Konsequenzen für eine Inklusive Bildungsforschung. In: Bätge, C./Cloos, P./Gerstenberg, F./Riechers, K. (Hrsg.): Kindheitspädagogische Beiträge. Inklusive Bildungsforschung der frühen Kindheit. Empirische Perspektiven und multidisziplinäre Zugänge. Weinheim: Beltz Juventa. S. 235–252.

Gildemeister, R. (2012): Soziale Konstruktion von Geschlecht: Theorieangebote und offene Fragen. Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online, 0(0), 1–45.

Kubandt, M. (2016): Geschlechterdifferenzierung in der Kindertageseinrichtung: Eine qualitativ-rekonstruktive Studie. Opladen: Barbara Budrich.

Kubandt, M. (2019): Ansprüche an ein geschlechtergerechtes, professionelles Handeln im Elementarbereich – ethnographische Perspektiven auf Ungewissheiten, Komplexitäten und Grenzen im pädagogischen Alltag. In: Baar, R./Hartmann, J./Kampshoff, M. (Hrsg.): Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft: Folge 15/2019. Geschlechterreflektierte Professionalisierung – Geschlecht und Professionalität in pädagogischen Berufen. Opladen: Barbara Budrich. S. 121–133.

Kubandt, M./Meyer, S. (2012): Gender im Feld der frühen Kindheit. Nifbe-Themenheft: Nr. 9. Osnabrück: Nifbe.

Kuger, S./Smidt, W./Sechtig, J. (2014): „Gender“ als Thema in der frühpädagogischen Professionalisierungsdiskussion. In: Betz, T./Cloos, P. (Hrsg.): Kindheitspädagogische Beiträge. Kindheit und Profession: Konturen und Befunde eines Forschungsfeldes. Weinheim: Beltz Juventa. S. 221–239.

Kuhn, M. (2013): Professionalität im Kindergarten: Eine ethnographische Studie zur Elementarpädagogik in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS.

Meyer, S. (2018): Soziale Differenz in Bildungsplänen für die Kindertagesbetreuung: Eine diskursiv gerahmte Dokumentenanalyse. Wiesbaden: Springer VS.

Rose, L./Stibane, F. (2013): Männliche Fachkräfte und Väter in Kitas: Eine Analyse der Debatte und Projektpraxis; eine Expertise der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) München: DJI. http://www.khsb-berlin.de/fileadmin/user_upload/Bibliothek/Ebooks/1%20frei/Exp_Rose.pdf (21.07.2021)


[1] Strukturkategorie meint, dass Geschlecht kein Merkmal einer Person ist, sondern eine Vorstellung von Normen beinhaltet, an die sich die Personen mit einem zugeordneten Geschlecht halten sollen (Gildemeister 2012).

[2] Ein Sternchen wird den Begriffen Frau*, Mann*, Mädchen*, Jungen*, weiblich*, männlich* und divers* angehängt, um darauf aufmerksam zu machen, dass diese lediglich Rollenkonzepte vor dem Hintergrund unserer Gesellschaft darstellen und keine Eigenschaften oder Interessen über diese Kategorien zuzuschreiben sind.

[3] Siehe zur detaillierten Darstellung der Ergebnisse gern Garbade (2021)

[4] Alle Namen von Kindern und Fachkräften sind für diesen Artikel anonymisiert.

[5] In der Forschung wird gesprochenes im Wortlaut transkribiert. Die Transkription folgt dabei anderen Regeln als die Rechtschreibung: GROß geschriebenes bedeutet ein ganz besonders betontes Wort, ein Punkt in der Klammer (.) bedeutet eine Sekunde Pause im Redefluss, zwei Punkte zwei Sekunden usw.

Diverse Sichtweisen von Kindern auf Alter

| Stephanie Simon, Agata Skalsa & Jessica Prigge |

Kindheiten heute sind nicht nur zeitlich und räumlich – etwa durch die Organisationen der Kindheitspädagogik – strukturiert, sondern ebenfalls von vielfältigen Differenzlinien durchzogen. Dazu zählen neben der Trias race, class, gender in unserer Gesellschaft weitere Aspekte, die auf die Diversitäten von Kindheiten hinweisen, wie Religionszugehörigkeit oder Behinderung und nicht selten werden dabei auch ungleiche Kindheiten thematisiert (Lareau 2011; Betz 2008). In der kindheitspädagogischen Praxis stellt sich die Herausforderung, diese Differenzlinien nicht als „naturgegeben“ sondern als gesellschaftlich erzeugte Strukturmerkmale von diversen Kindheiten zu begreifen (Simon, Kerle & Prigge 2022, i.E.). Welche Differenzlinien spielen wo und wieso eine Rolle in der Praxis und wie können die dahinter liegenden gesellschaftlichen Bedingungen auch im Pädagogischen mitberücksichtigt werden (Honig 2019; Bernfeld 2019[1925])?

Als eine auf den ersten Blick eher unscheinbare Differenzlinie möchten wir daher age oder generation einführen, die in der Kindheitsforschung über die Konzepte generationale Ordnung (Bühler-Niederberger 2020) zwischen Erwachsenen und Kindern sowie die damit verbundene relationale Agency der Kinder (Eßer 2014) betrachtet werden. In diesem Beitrag möchten wir empirisch zeigen, wie und in welchem Kontext Alter als Differenzlinie von Kindern in Kindertageseinrichtungen aufgerufen wird. Damit können wir argumentieren, dass Kinder ungleichheitsrelevante Strukturen auch in ihrem Alltag relevant setzen. Wieso dies für die kindheitspädagogische Praxis, abseits von „altersgerechten“ oder „altersdifferenzierten“ Konzepten und Angeboten zentral ist, werden wir anhand unseres Forschungsprojekts „KiSte“ verdeutlichen, welches vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird.

Was will das Projekt? Was ist das Phänomen?

Das Verbundprojekt Kinder als ‚Stakeholder‘ in Kindertageseinrichtungen (KiSte), das unter der Leitung von Werner Thole und Katja Gramelt an der Universität Kassel und der Hochschule Düsseldorf angebunden ist, fragt nach den Sichtweisen von Kindern auf institutionelle Arrangements und setzt die Perspektiven der Kinder auf ihre Kindertageseinrichtung in den Fokus. Dabei werden die Kinder nicht nur als Expert*innen ihrer Lebenswelt und zentrale Akteur*innen in Kindertageseinrichtungen adressiert, sondern auch als Anspruchsberechtigte, die ein Interesse an der Qualität pädagogischer Arrangements haben, anerkannt. Bedeutsam dafür ist, dass die Kinder in ihren Perspektiven und Ansprüchen wahrgenommen und dafür Formate der Artikulation gefunden werden (Witton et al. 2020), bei gleichzeitiger Berücksichtigung ihrer vielfältigen Ausdrucksformen und Kompetenzen (Gramelt & Skalska 2021). So soll empirisch fundiertes Wissen generiert und die Perspektiven der Kinder sichtbar gemacht werden. Dabei zeigt sich, dass Kinder durchaus unterschiedliche Relevanzsetzungen ausdrücken. Die Differenzlinie Alter wird von ihnen – wie sich zeigen wird – in unterschiedlicher Form aufgerufen und als generationales Arrangement hergestellt sowie reproduziert.

Wie macht es das?

Kinder werden folglich nicht nur als aktive Mitgestalter*innen von pädagogischen Arrangements anerkannt, sondern auch von Forschungssituationen. Diese grundlegende Haltung erfordert ein qualitativ-rekonstruktives Design mit einem von Kindern gestaltbaren Setting, um innerhalb der Forschungssituation sensibel auf generationale Differenzierungen eingehen zu können. Dafür wurde ein ethnografischer Zugang kombiniert mit von den Kindern gestalteten Begehungen durch die Einrichtungen, in denen sie Videokameras führen, die Kita zeigen und den Forschungsprozess darüber aktiv steuern können (Eide & Winger 2005) sowie dialogischen Interviews (Weltzien 2009). Der Datenkorpus umfasst von 109 Kindern erstellte Videobegehungen aus 14 Kitas in vier verschiedenen Städten. Für die Analysen wurde ein interaktionistischer (Strauss & Corbin 1996) sowie ein wissenssoziologisch-praxeologisch orientierter Zugang für feinsequentielle Rekonstruktionen (Bohnsack 2017) gewählt.

Was ist das Ergebnis?

Es zeichnet sich im empirischen Material ab, dass von den Kindern in ganz unterschiedlichen Kontexten Alter in unterschiedlichen Konturierungen als Differenzlinie aufgerufen wird. Eine detaillierte Rekonstruktion dessen steht noch aus, es lassen sich aber schlaglichtartig bereits „Blickschneisen“ ziehen, die wir an dieser Stelle mit Materialauszügen illustrieren möchten.

a. Differenz zu anderen Kindern/Kindergruppen

Auffällig im Material ist die über Alter aufgerufene Differenz zu anderen Kinder(gruppen). Diese bezieht sich über die Benennung von Gruppenzugehörigkeiten, etwa „die Hortis“ (10_Johannes Sterner[1]), „die kleinen Mäuse“ (12_Wanda, 196) oder „die Schlaukindern“ (4_Hund, 95) auf inhärent hierarchisierende Altersklassifizierungen. Dass diese Gruppenklassifizierungen auch aus der Perspektive von Kindern mit Alter verbunden sind, können wir nur in Spuren nachzeichnen – etwa wenn 5_Barbie erklärt, dass „die Logokids […] die Vorschulkinder“ sind, „die bald in die Schule gehen“ (4-10).

Was wir jedoch definitiv nachzeichnen können, ist, dass diese Klassifizierungen verwoben sind mit bestimmten Nutzungs- oder Zugangsregeln, so etwa der Hortraum („der ganze Raum gehört nur den Hortis“, 10_Johannes Sterner, 67) oder die unterschiedlich hohen und langen Rutschen, von denen nur die kleinere Rutsche für „die kleinen Mäuse“ vorgesehen ist, während die „Großen“ umgekehrt auch die Rutsche der Kleinen benutzen (12_Wanda, 195-199). Daran wird deutlich, dass die Altersdifferenzierung mit einer Hierarchisierung verbunden wird, die sich darin ausdrückt, dass es den „kleinen Mäusen“ nicht erlaubt ist, die große Rutsche zu nutzen, das umgekehrte jedoch für die „Großen“ nicht gilt, sie nehmen es sich heraus, die „Rutschen für die kleinen Mäuse“ zu nutzen. Damit deutet sich außerdem eine Verwobenheit von „Alter“ und „Größe“ an in Bezug auf die Nutzung von Spielgeräten v.a. im Außenbereich. So erläutert 12_Steve unterschiedliche Kletterstangen:

„das is für die Kleinen, das is zum Beispiel für mich für unseren Alter und das ist für die Großen. Kuck ich passe zum Beispiel hier dran [I: °Ja° (.) °cool°] Ich bin auch schon ein Meter fünfzehn (206-209).

Hier wird die Verwobenheit von Größe und Alter sehr plastisch, sowie die klare Differenzierung zwischen den Kindergruppen („für unser Alter“). Dass diese Differenzierung mit erweiterten Kompetenzen einhergeht, wird deutlich, wenn berichtet wird „Große dürfen das [die Rutsche runter rennen] auf jeden Fall“ (1_Lilly, 96) oder wenn erklärt wird, dass „die Schlaukinder“ die „allergrößten“ (4_Hund, 97) sind, die „Logokids“ auch auf der „Schaukel stehen dürfen“ (5_KaiPower, 80) oder einfach per Status „etwas ganz besonderes können“ (5_Pikachu, 2). Auch bestimmte Artefakte, also Spiel- oder Bastelmaterialien in den Innenräumen sind für die Kinder mit altersbezogenen Nutzungsbedingungen verbunden, so berichtet etwa 14_Zina dass, „alle die fünf sind [.] Filzstifte dürfen […] [aber] alle die vier oder einfach nur drei sind [..], dann die dürfen äh:m [I: ?Buntstifte?] (62-65).

Eine tatsächliche Begründung, etwa in Bezug auf die Nutzung der Spielgeräte, wie sie sich fantasieren lässt – etwa zum Minimieren von Unfallrisiken o.ä. – wird nicht entfaltet. Viel mehr geraten diese altersbezogenen Nutzungsregeln zu einer unhinterfragbaren Strukturierung des Alltags in der Kita.

b. Differenz zum eigenen Vergangenheits-Ich

Während Altersdifferenzierungen innerhalb der Kindergruppe als „feine Unterschiede“ eine Rolle spielen und damit gegebenenfalls auch Beziehungen innerhalb der Kindergruppe qua Zugehörigkeit vorstrukturiert werden, spielt Alter aus einer Entwicklungsperspektive auch eine Rolle für den Blick der Kinder auf sich Selbst. Vier Kinder aus unterschiedlichen Einrichtungen zeigen unaufgefordert und z.T. ausschließlich ihre Portfolios. Sie setzen sich in der Betrachtung dieser u.a. mit ihren Vergangenheits-Ich in Bezug („hier war ich noch kleiner“, 10_Sophie, 346). Sie vergegenwärtigen sich ihre „Entwicklungsfortschritte“, etwa indem sie ihre Handgrößen zu unterschiedlichen Zeitpunkten abgleichen. Sie vergleichen sich nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit anderen, so konstatiert etwa 10_Sophie: „ich hab schon‘ großen Portfolio aber Charlottehat ein dicken fetten Portfolio“ (318f.). Das Ich steht im Zentrum dieser Videobegehungen und auch wenn über die Portfolios bisweilen Freund*innen, Pädagog*innen, Familie und Erlebnisse aufgerufen werden, spielt die Gegenwart in der Einrichtung in diesen Videos keine Rolle. Der Rückblick auf sich selbst über die Portfolios wird von den Kindern als „toll, das is so eine Erinnerung“ (10_Sophie, 351) beschrieben, als Möglichkeit des Rückzugs und Alleine-Seins (11_Rio) oder dient der Selbstpräsentation in der Forschungssituation: „Und ich wollte dir mal was zeigen was ich sonst so noch alles so erlebt habe“ (12_Jessy, 80f.).

Aber auch in den dialoggestützten Begehungen geschieht die Bezugnahme zu sich Selbst als Entwicklungssubjekt, etwa, wenn 11_Maya in Reflexion auf sich selbst bemerkt: „als ich richtig klein war da mocht ich noch nicht die frische Luft so gerne“ (207f.) oder dass sie ihrer Mama jetzt sehr viel vom Kindergarten erzählt, denn „als ich vier und fünf und drei war, hatte ich es nicht erzählt, weil ich wollte nicht immer so viel reden und […] jetzt bin ich sechs und ich erzähl jetzt alles, was ich im Kindergarten mache“ (11_Maya, 290-293).

c. Differenz zu den Pädagog*innen

Dass das Ziehen von Altersklassifikationen nicht nur in Abgrenzung geschieht, sondern ebenso irritiert werden kann, wird deutlich bei der Thematisierung der Fachkräfte. Diese werden i.d.R. nicht in Bezug auf deren generationale Differenz aufgerufen, sondern über deren Status als „Erzieher*in“ markiert. In einer Einrichtung gibt es z.B. ein raumnutzungsbezogenes Belohnungssystem, bei dem „man sich auch wünschen [darf], […] dass man mal ein Tag Erzieher ist“ (12_Steve, 598-600), woraufhin jedoch Steve berichtet, dass er „auf die Kinder aufpassen“ würde, wenn er einen Tag Erzieher sein dürfte. Die Pädagog*innen sind für die Kinder verwoben mit den Regeln und Strukturen der Einrichtung, sie scheinen Teil des institutionellen Arrangements zu sein, denn „ohne Regeln bräuchten wir auch keine Erzieher“ (11_Caro, 214f). Kinder nehmen sensibel wahr, wenn sich Pädagog*innen herausnehmen, gegen bestimmte Verhaltenskodizes zu agieren, etwa indem sie „anlügen“ und „veräppeln, das darf man nicht“ (10_Charlotte, 95-98). Sie sind dann in der Lage, die von den Pädagog*innen eingenommene Positionierung anzufragen bzw. die Differenz gar zu minimieren, etwa wenn erklärt wird, dass sich Erzieher X „manchmal sich n bisschen wie ein Kind benimmt“, also „richtig albern“ (13_Liv) ist.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Vor allem die (Grund-)Schule wird als eine (kindheitspädagogische) Institution beobachtet, die über Altersdifferenzierung organisiert ist, über Altersklassen, denen bestimmte (homogene) Lernfähigkeiten und -fortschritte zugeschrieben werden und worin ein diskriminierendes Potential liegt (Gomolla/Radtke 2009). Die Einlassungen der Kinder über ihre Kindertageseinrichtungen machen deutlich, dass auch hier Altersdifferenzierungen bedeutsam werden. Diese zeigen sich v.a. in den Alltagsregeln, die je auf die Gegebenheiten vor Ort bezogen werden, wie die Nutzung einer Rutsche, Stiften oder Räumen, womit sie die Alltagspraktiken des Miteinanders der Kinder altersdifferenzierend mitstrukturieren, zuweilen hierarchisieren und damit für die Kinder nicht ohne weiteres hinterfragbar werden.

In den – auch durch das Forschungssetting selbst provozierten – Selbstpräsentationen der Kinder wird Alter insbesondere über das Medium des Portfolios auch verwoben mit Entwicklung und als Dimension des eigenen „Ichs“ gekennzeichnet. Kinder setzen sich zu ihrer Vergangenheit in ein „Noch-Nicht“ Verhältnis, beschreiben ihre Selbst-Beobachtungen jedoch auch deskriptiv. Alters(differenz)markierungen spielen also eine zentrale Rolle in dem von uns erhobenen Material. Daher nehmen wir an, dass dieses generationale Ordnen auch in der Kindergruppe eine zentrale Strukturierung des Alltags in Kindertageseinrichtungen darstellt. Dabei sind jedoch Kinder an der Herstellung dieses Arrangement aktiv beteiligt. Janusz Korczak (1997 [1921], S. 25) kritisiert in adultismuskritischer Haltung, dass Erwachsene Kinder aufgrund ihres Alters, ihrer Größe sowie ihres Wissenstandes diskriminieren. Daran schließt aktuell Sabine Bollig (2020) an, die dafür plädiert, Kinder stärker als human beings zu adressieren, nicht lediglich als human becomings. Damit lässt sich daran erinnern und hervorheben, dass Kinder nicht erst zu Menschen werden, sondern bereits welche sind und daher auch so zu behandeln sind. Überspitzt könnte formuliert werden, dass die Logik, unter die Kinder unterworfen werden, von ihnen verinnerlicht und so fortwährend auch im Alltag reproduziert wird.

Janusz Korczak fordert, nicht nur die Institutionen als Lebensräume der Kinder entsprechend zu gestalten, sondern entsprechend ihres Anteils in der Bevölkerung der Lebensraum auf Kinder und ihre Bedarfe ausgerichtet werden sollte, was in Deutschland aktuell 16,7% des öffentlichen und privaten Raums wären. Gewendet auf die kindheitspädagogischen Einrichtungen konkret sollten eigene Privilegien aufgrund von Alter, Größe oder Status (bspw. als Erzieher*in) nicht nur hinterfragt, sondern auch im Dialog miteinander transformiert werden. Altersstrukturierende Verhältnisse, wie bspw. der Status der Vorschulkinder und die damit verbundenen Entwicklungsnormen (Blaschke-Nacak & Thörner 2019, S. 40) reduzieren Kindertageseinrichtungen auf bloße Vorläuferinstitution von Schulen, in denen die bereits verinnerlichten und hierarchisierenden Differenzkategorien mit Legitimität ausgestattet reproduziert werden. Die auf verschiedenen Ebenen produzierten Hierarchien, die funktional für den Alltag in Kitas sind, werden in einem offenen Forschungssetting wie in KiSte, in dem Kinder die Gelegenheiten erhalten ihre Perspektiven zu entfalten, in ihrem macht- und ungleichheitsreproduzierenden Potential sichtbar gemacht. Eingesetzt als kurze „Vignetten“ in der Fort- & Weiterbildung werden diese in einer adultismuskritischen Haltung reflektierbar. Die Perspektive der Kinder auf vermeintlich Eindeutiges und Selbstverständliches lässt so den eigenen, den pädagogischen Blick auf die Welt irritieren und vervielfältigt Deutungsweisen. Die Perspektive der Kinder und ein kritischer Blick auf die Wirkmächtigkeit des Entwicklungsparadigmas auch im Hinblick auf Verinnerlichungsprozesse kann den Pädagog*innen verdeutlichen, die eigenen Praktiken in Bezug auf den Umgang mit den Kindern und die altersstrukturierten Vorgaben in der Einrichtung mit den Kindern neu auszuhandeln.

Literaturverweise

Bernfeld, S. (2019 [1925]). Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung (14. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Betz, T. (2008). Ungleiche Kindheiten. Weinheim: Beltz Juventa.

Blaschke-Nacak, G. & Thörner, U. (2019). Das Entwicklungsmaradigma in der Frühpädagogik. In C. Dietrich, U. Stenger & C. Stieve (Hrsg.), Theoretische Zugänge zur Pädagogik der frühen Kindheit. Eine kritische Vergewisserung (S. 63–77). Weinheim: Beltz.

Bohnsack, R. (2017). Praxeologische Wissenssoziologie. Opladen, Toronto: Barbara Budrich.

Bollig, S. (2020). Children as becomings. Kinder, Agency und Materialität im Lichte der neueren ‚neuen Kindheitsforschung‘. In J. Wiesemann, C. Eisenmann, I. Fürtig, J. Lange & B. E. Mohn (Hrsg.), Digitale Kindheiten (S. 21–38). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

Bühler-Niederberger, D. (2020). Lebensphase Kindheit. Theoretische Ansätze, Akteure und Handlungsräume (2., überarb. Aufl.). Weinheim: Beltz Juventa.

Eide, B. J., & Winger, N. (2005). From the children’s point of view: methodological and ethical challenges. In S. Clark, A. T. Kjørholt und P. Moss (Hrsg.),  Beyond Listening. Children’s perspective on early childhood services (S. 71-91). Bristol: Policy Press.

Eßer, F. (2014). Agency Revisited. Relationale Perspektive auf Kindheit und die Handlungsfähigkeit von Kindern. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 34(3), 233–246.

Gomolla, M., Radtke, F.O. (2009). Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethischer Differenz in der Schule. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Gramelt, K. & Skalska, A. (2021). KiSte – Kinder als Stakeholder in Kindertageseinrichtungen. Welt des Kindes, (6), 37.

Honig, M.S. (2020). Instituetik von Kindertageseinrichtungen. Vortrag abrufbar unter: https://www.nifbe.de/component/themensammlung?view=item&id=259:instituetik-von-kindertageseinrichtungen-prof-dr-michael-sebastian-honig (Letzter Zugriff am 22.11.2021).

Korczak (1997 [1921]) Der Frühling und das Kind. (SW, Bd. 5). Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Lareau, A. (2011). Unequal Childhoods. Class, Race, and Family Life (2nd edition). Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press.

Simon, S., Kerle, A., & Prigge, J. (2022, i.E.). „In ner Kita gibt’s erstmal keinen Stempel“. Sprechen über Armut und strukturellen Benachteiligungen als Herausforderung im Umgang mit Heterogenität. In S. Geiger, S. Dahlheimer & M. Bader (Hrsg.), Perspektiven auf Heterogenität in Bildung und Erziehung – Kindheits- und sozialpädagogische Beiträge. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Strauss, A. L. & Corbin, J. M. (2010). Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz.

Weltzien, D. (2009). Dialoggestützte Interviews mit Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter unter Berücksichtigung ihrer Peerbeziehungen. Methode und empirische Ergebnisse. In: Fröhlich-Gildhoff, K., Nentwig-Gesemann, I. & Haderlein, R. (Hrsg.): Forschung in der Frühpädagogik. Materialien zur Frühpädagogik (Band 2). Freiburg: FEL, S. 69-100.

Witton, T., Gramelt, K., Skalska, A. & Thole, W. (2020). Kinder als “Stakeholder” in Kindertageseinrichtungen [KiSte] – Studie zu den Sichtweisen der Kinder auf institutionelle Arrangements. Soziale Passagen – Journal für Empirie und Theorie Sozialer Arbeit, 11(1). https://doi.org/10.1007/s12592-020-00339-0 (Letzter Zugriff am 24.11.2021).

Ansprechpersonen

Jessica Prigge, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dortmund und war bis vor kurzem wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt KiSte an der Universität Kassel.

Stephanie Simon, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dortmund und war bis vor kurzem wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt KiSte an der Universität Kassel.

Agata Skalska, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt KiSte und im Forschungsarchiv zur Person und Pädagogik Janusz Korczaks an der Hochschule Düsseldorf.


Fußnoten

[1] Alle Namen sind anonymisiert, die Kinder haben größtenteils Ihre Pseudonyme selbst gewählt. Die Codierung folgt dem Schema Einrichtungscode_Pseudonym, Zeilenangaben aus dem Transkript.

Frühe Kindheit ohne Kindergarten? Einige Schlaglichter zum Phänomen ‚Kindergartenfrei‘

| Alina Ort und Ulf Sauerbrey |

Kindertageseinrichtungen zu besuchen, ist für Kinder in Deutschland keine Seltenheit mehr. Mit Stand September 2020 waren 92,5% der Kinder ab drei Jahren und 35,0 % unter drei in einer Kindertagesbetreuung angemeldet (vgl. Statistisches Bundesamt, 2020). Es gibt jedoch Eltern, die es aus verschiedenen Gründen ablehnen, ihre Kinder in Kitas betreuen zu lassen und dementsprechend erleben diese Kinder ihre Kindheit anders als viele Gleichaltrige. Unter dem Sammelbegriff ‚Kindergartenfrei‘ bzw. ‚Kita-frei‘ ist das Phänomen in der öffentlichen Presseberichterstattung vereinzelt thematisiert worden (Rennefanz, 2018) und auf dem Buchmarkt finden sich erste Erfahrungsberichte (vgl. etwa: Mikosch, 2018). Ein zentrales Medium dieser sozialen Gruppe sind Blogs. Geschrieben werden sie oft von Müttern, die über ihr alltägliches Leben ohne eine Kita berichten, entsprechende Tipps und Ratschläge geben und Kritik an Einrichtungen üben. Was sind ihre Gründe, sich generell gegen die Kita zu entscheiden? Und können frühpädagogische Einrichtungen das Wissen über die Motive dieser Eltern nutzen, um ihre pädagogische Arbeit zu verbessern?

Was will das Projekt/Was ist das Phänomen?

Über die online präsente soziale Gruppe ‚Kindergartenfrei‘ existiert bislang keine empirische Forschung. Janine Stoeck (vgl. 2021) hat aber anhand von zwölf Eltern- und zwölf Kinderinterviews bereits zeigen können, wie es dazu kommen kann, sich grundsätzlich gegen eine außerfamiliale Betreuung in der frühen Kindheit zu entscheiden. Neben einer generellen Ablehnung von Kitas konnten Krankheiten des Kinds als Grund identifiziert werden. Bei der Inanspruchnahme einer Kita von anderen Eltern gesellschaftlich ausgeschlossen zu werden, wurde in den Interviews ebenfalls genannt. Oft wurde die Kita als potenzielle Gefahrenquelle für die Entwicklung der Kinder beschrieben. Vorgegebene Zeitstrukturen wurden dabei ebenfalls kritisiert. Käme eine öffentliche Betreuung überhaupt infrage, seien für die Eltern Zusammenarbeit und Mitbestimmung ebenso wie Vertrauen und Beziehungsgestaltung zu pädagogischen Fachkräften von hoher Bedeutung. Erfahrungen mit einer schwierigen Eingewöhnung der Kinder und unterschiedliche Erziehungsansichten bildeten ebenfalls Argumente gegen die Kita. Ein zentrales Motiv war der Wunsch der Eltern nach einer vertrauensvollen Beziehung zu ihren Kindern (vgl. Stoeck 2021, S. 389-443).

Die Dissertation hat jedoch die Interessengemeinschaft ‚Kindergartenfrei‘, die sich vor allem online etabliert hat (vgl. z.B. Kindergartenfrei-Toolkit, 2020b), nicht eigens untersucht. In einem Handbuchbeitrag schreibt Sabine Bollig (2018) über ‚Kindergartenfrei, dass es sich bei den Akteur*innen wohl v.a. um weiße Mittelschichteltern handle, die das Selbst-Betreuen als grundsätzlichen Gegenentwurf zu Kindertageseinrichtungen verstehen. Die Familie werde dabei als besserer, weil bedürfnisorientierter Bildungsort gegenüber Kitas dargestellt. Die Blogs, über die in der „Bewegung“ ‚Kindergartenfrei‘ öffentlich kommuniziert wird, geben der sozialen Gruppe laut Bollig Struktur und zeichnen sich durch die Idee einer ‚guten Mutterschaft‘ aus (vgl. Bollig, 2018, S.162f.). Ob die Kommunikation, das Netzwerk der betreffenden Eltern und ihre ‚virale Präsenz‘ aber tatsächlich bereits die Merkmale einer sozialen Bewegung erfüllen, müsste zunächst einmal gesondert untersucht werden. Wir sprechen daher hier nur von einer ‚Interessengemeinschaft‘ bzw. einem Phänomen.

Um ihm auf den Grund zu gehen, haben wir im Sommersemester 2021 im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts an der Hochschule Neubrandenburg über das Internet zugängliche Blogs von Eltern qualitativ-inhaltsanalytisch ausgewertet (vgl. Mayring 2015), die sich selbst explizit als Teil der Interessengemeinschaft ‚Kindergartenfrei‘ begreifen. Im Zentrum stand die Frage nach den Gründen, die eigenen Kinder nicht (oder nicht mehr) in einer Kindertageseinrichtung betreuen zu lassen.

Wie macht es das?

Die für unsere Studie aussagekräftigen Dokumente (vgl. Hoffmann 2018) bilden Blogeinträge von Kindergartenfrei-Akteur*innen. In Blogs (ursprünglich: ‚Weblogs‘) teilen Urheber*innen Erlebnisse und Ansichten relativ unmittelbar, d.h. ohne Verlag oder Redaktion, die im Produktionsprozess mitarbeiten, mit der Öffentlichkeit (vgl. Gerstenberg & Gerstenberg, 2018, S. 17). Dort werden Blogs oft als „private Online-Tagebücher“ wahrgenommen (Löhmann, 2007, S. 221). Familienblogs sind dabei ein noch recht junges Format, mit dem u.a. Ratschläge zur Gestaltung des Familienalltags und Informationen vermittelt werden, das unterhalten soll, das der Suche nach Gemeinschaft, aber auch der Selbstinszenierung der Blogger*innen dient (vgl. Knauf, 2020). Da es zu ‚Kindergartenfrei‘ sehr viele Blogs gibt, wurden in unsere explorative (d.h. nicht repräsentative) Studie nur Blogeinträge eingeschlossen, in denen Gründe gegen die Inanspruchnahme einer Kita dokumentiert sind. Um eine Aktualität zu gewährleisten, wurde bei der Auswahl darauf geachtet, dass die Blogs noch aktiv betrieben werden. Folgende drei Blogs wurden so in das Sample aufgenommen:

  • Kindergartenfrei-Toolkit (Datum des ersten Beitrags: 14.03.2020; Gesamtanzahl der veröffentlichten Blogeinträge zum Erhebungszeitpunkt: 14),
  • Unverbogen Kind Sein (13.05.2017; 115) und
  • Familien Garten (13.10.2017; 123)

Das im Rahmen der Dokumenten- und Inhaltsanalyse erstellte Kategoriensystem zu den Gründen und Elternmotiven wurde im Mai 2021 in einem Forschungskolloquium an der HS Neubrandenburg mit sechs Studierenden diskutiert, um Mehrperspektivität in der Datenauswertung zu gewährleisten.

Was ist das Ergebnis?

Warum machen Eltern das nun? In den Blogs fanden sich zwölf Gründe zur Nichtinanspruchnahme einer Kita, die z.T. eng miteinander verzahnt sind, und die wir als Hauptkategorien identifiziert haben:

  • Eigene unmittelbare Erfahrungen
  • Schäden und Stress durch außerfamiliale Betreuung
  • Nichtangewiesenheit auf außerfamiliale Betreuung
  • Wunsch der Eltern nach Selbstbetreuung
  • Familie als bildungs- und entwicklungsorientierter Ort
  • Bedürfnisorientierung
  • Mangelndes Vertrauen gegenüber pädagogischem Personal und der Einrichtung
  • fachliche Expertise aus Bindungs- und Hirnforschung
  • Flexibilität im Alltag und zusätzliche Zeit mit der Familie
  • Platz- und Personalmangel in Kindertageseinrichtungen
  • Vermeidung der Kita-Kosten
  • Kritische Haltung gegenüber Erziehung generell

Im Folgenden werden vier Kategorien, die die elterlichen Motive in den Blick nehmen, näher beschrieben.[1]

  • Eigene unmittelbare Erfahrungen

In allen drei Blogs werden persönliche Erlebnisse beschrieben: Hierzu gehören negative Erinnerungen der Eltern an den Besuch eines Kindergartens in der eigenen Kindheit.[2] Das Kind solle diese Erfahrung nicht machen (vgl. Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a).[3] Berichtet wird aber auch über misslungene Eingewöhnungen der eigenen Kinder: Manche Eltern hatten eine ‚Fremdbetreuung[4] zunächst zwar in Betracht gezogen, doch die Eingewöhnung wurde schließlich abgebrochen. in den Blogs wird v.a. die Trennungsangst der Kinder und das Nicht-Loslassen-Können der Eltern thematisiert, darüber hinaus auch auffälliges Verhalten des Kindes nach dem Besuch der Kita (vgl. Familien Garten, 2018b; Unverbogen Kind Sein, o.D.). Parallel wird die Erfahrung der Selbstbetreuung als gelungen ausgewiesen (vgl. Unverbogen Kind Sein, o.D.). Auch die Erfahrung selbst ohne Kita aufgewachsen zu sein, dient als Beleg für die Position, dies den eigenen Kindern zuteilwerden zu lassen.: „Ich selber bin nicht im Kindergarten gewesen und habe nie das Gefühl gehabt, etwas zu verpassen“ (Unverbogen Kind Sein, o.D.).

  • Wunsch der Eltern nach Selbstbetreuung

Die Bloggerinnen[5] dokumentieren deutlich das Bedürfnis zur Selbstbetreuung ihrer Kinder. Niemand könne das Kind mehr lieben als die Familie (vgl. Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a). Es besteht der Wunsch, das Kind bei sich zu haben und seine Nähe wahrzunehmen (vgl. Familien Garten, 2018b). Auch die Haltung, ein weinendes Kind nicht zurückzulassen, wird vor diesem Hintergrund verständlich (vgl. Familien Garten, 2018b). Erziehung ist aus Sicht der Bloggerinnen letztlich Aufgabe der Familie (vgl. Familien Garten, 2018a; Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a; Unverbogen Kind Sein o. D.).

  • Familie als bildungs- und entwicklungsorientierter Ort

Kinder lernen aus Sicht der Bloggerinnen zu Hause leichter und besser als in einer Kita. Im Elternhaus könnten demnach die Interessen des Kindes individuell angemessen aufgegriffen und gefördert werden (vgl. Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a; Unverbogen Kind Sein o. D.). Hierzu eine Bloggerin: „Ich empfinde einen Kindergarten nicht als Mehrwert für die Entwicklung von Kindern“ (Unverbogen Kind Sein, o.D.). In jungen Jahren sei die Entwicklung noch nicht weit ausgereift, der Kindergarten führe zur Überforderung (vgl. Unverbogen Kind Sein o. D.). Entwicklung und frühkindliche Bildung geschehen demgegenüber v.a. in der Familie, denn diese sei besonders bedürfnisorientiert und achte auf die Interessen des Kindes und seine Wünsche beim Lernen (vgl. Familien Garten, 2018b; Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a; Unverbogen Kind Sein o. D.). Die zusätzliche Kategorie Bedürfnisorientierung ergänzt weitere Elemente dieses Motivs – in einem Blog heißt es hierzu: „Ich möchte nicht das er in einer Fremdbetreuung ist solange er mir nicht ganz deutlich sagen kann was dort passiert und er dort sagen kann was er möchte oder nicht möchte“ (Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a).

  • Mangelndes Vertrauen gegenüber pädagogischem Personal und der Einrichtung

Aus Sicht der Blogger*innen scheint es demnach nicht erforderlich oder wünschenswert zu sein, Kinder an ‚fremde‘ Personen ‚abzugeben‘ (vgl. Familien Garten, 2018b; Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a; Unverbogen Kind Sein o. D.). Problematisiert wird die Privatsphäre des Kindes: Das Entkleiden, wie es etwa in einer Wickelsituation vorkommt, sollten v.a. Eltern und dem Kind nahestehende Personen übernehmen, keine ‚Fremden‘ (vgl. Kindergartenfrei-Toolkit, 2020a). Es scheint bei den bloggenden Eltern wenig Vertrauen gegenüber den Einrichtungen zu bestehen (vgl. Unverbogen Kind Sein o. D.), auch da die Kita v.a. für Eltern fungiere, damit diese arbeiten gehen können (vgl. Familien Garten, 2018b).

Was kann das für Praxis bedeuten?

Die herausgearbeiteten Motive der bloggenden Mütter sind vielfältig. Durch negativ in Erinnerung gebliebene Erfahrungen aus der eigenen Kindheit oder im Rahmen von Eingewöhnungen des eigenen Kindes scheint eine deutliche Entscheidung gegen Kitas entstanden zu sein. Für frühpädagogische Fachkräfte ergibt sich daraus u.E. die Aufgabe, die Unterschiede einer Kindertagesbetreuung im 21. Jahrhundert gegenüber der Kita-Arbeit der vergangenen Jahrzehnte hervorzuheben – schließlich hat sich das Arbeitsfeld inzwischen verändert: es hat sich stark professionalisiert, eine hohe konzeptuelle Vielfalt erreicht und nicht zuletzt durch die Bildungspläne im Hinblick auf ein neues Kindbild und partnerschaftliche Erziehungs- und Bildungsvorstellungen grundlegend weiterentwickelt. Gerade dies sollte bereits beim Erstkontakt mit Eltern, die eine Kita in Anspruch nehmen möchten, und auch in Internetauftritten und Informationsbroschüren von Einrichtungen hervorgehoben werden. Eine fachlich informierte Kommunikation mit Eltern kann auch verdeutlichen, dass die Vorstellungen einer entwicklungsangemessenen Bildung des Kindes in der Kita zwischen Eltern und pädagogischen Fachkräften in der Einrichtung u.U. gar nicht so weit auseinander liegen, wie es einige der untersuchten Blogs in generalisierten Aussagen unterstellen. Eine aktuelle empirische Studie (2021) zeigt zumindest, „dass Erzieherinnen und Kindheitspädagoginnen den Handlungskonzepten Ko-Konstruktion und Selbstbildung deutlich stärker zustimmen als instruktiven Förderorientierungen“ (Schmidt & Smidt, 2021, S. 267).

Der Wunsch der Eltern nach Selbstbetreuung und das mangelnde Vertrauen gegenüber frühpädagogischem Personal sind u.E. ernst zu nehmen. Einer solchen Forderung lässt sich ggf. über eine stärkere Elternpartizipation (vgl. auch Stoeck, 2021) nachkommen: Eine Einbindung in den Kita-Alltag, etwa über Projektarbeit, Elterncafés und andere niedrigschwellige Angebote ermöglicht einen regelmäßigen Kontakt mit Eltern, auch unter Beisein der Kinder. Durch eine solch unmittelbare Zusammenarbeit können Vorurteile gegenüber frühpädagogischen Fachkräften abgebaut, aber auch berechtigte Kritikpunkte vonseiten der Eltern offen angesprochen werden.

Die hier aufgeführten Motive aus einem kleinen und selektiven Sample an Blogs bilden jedoch nur einen Baustein, das Phänomen ‚Kindergartenfrei‘ zu begreifen. Um ein genaueres Bild zu erhalten und auch um die Frage klären zu können, ob es sich dabei um eine eigene soziale Bewegung handelt (z.B. ähnlich der so genannten ‚Anti-Pädagogik‘ aus den 1970er und 1980er Jahren, die sich ebenfalls als ‚erziehungsfrei‘ verstand, vgl. Winkler, 1982), bedarf es künftig allerdings weiterer Forschung. Spannend erscheint auch die Frage, inwieweit sich der Blick auf gute Elternschaft durch das Lesen solcher Blogs verändert (vgl. Knauf, 2019).

Literaturverweise (inkl. Blogs)

Bollig, S. (2018). Kindergarten. In: Hasse, J. & Schreiber V. (Hrsg.): Räume der Kindheit: EIN GLOSSAR. Bielefeld: transcript-Verlag; S. 160-165.

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Familien Garten (2018b). Unser Weg zu Kindergartenfrei. Abgerufen am 20.06.2021von URL: https://www.familiengarten.org/ohne-fremdbetreuung-unser-weg-zukindergartenfrei

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Gerstenberg, F. & Gerstenberg, C. (2018). Die Blogsphäre: Ein ganzes Universum. In: Gerstenberg, F. & Gerstenberg, C. (Hrsg.): Quick Guide Social Relations: PR Arbeit mit Bloggern und anderen Influencern in social Web. Wiesbaden: Springer VS, S. 17-33.

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Ansprechpersonen

Alina Ort, B.A. ist Kindheitspädagogin und studiert seit dem Wintersemester 2021/22 den Masterstudiengang Wissenschaft Soziale Arbeit an der Hochschule Neubrandenburg.

Prof. Dr. Ulf Sauerbrey ist Erziehungswissenschaftler und lehrt an der Hochschule Neubrandenburg.


Fußnoten

[1] Fehlerhafte Rechtschreibung und Grammatik aus den Blogs wurden in den direkten Zitaten in diesem Kapitel beibehalten.

[2] Der Begriff Kindertageseinrichtung wird in den Weblogs kaum verwendet, es werden überwiegend die Begriffe Kindergarten und ‚Fremdbetreuung‘ (vgl. dazu auch Fußn. 4) genutzt.

[3] In den Blogs sind keine Seitenzahlen enthalten, daher fehlen diese in der Zitation.

[4] Die Formulierung ‚Fremdbetreuung‘, die in der Kindheitspädagogik kein eigener Fachbegriff ist, ist in den Blogs wiederholt zu lesen. Fachlich hat diese Formulierung allerdings keine Substanz, da es ja gerade das Ziel von Eingewöhnung ist, dass die pädagogischen Fachkräfte zu vertrauten Personen werden.

[5] In vielen ‚Kindergartenfrei‘-Blogs ist kaum ersichtlich, ob beide Elternteile an der Selbstbetreuung beteiligt sind. Es hat jedoch den Anschein, als ob die Mutter einen Großteil der Betreuung ausüben. Zudem sind fast alle Blogs gegenwärtig von Frauen verfasst.