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Demokratiebildung in Qualitätsverfahren der Kindheitspädagogik – von Anti-Diskriminierung, Diversität und Inklusion: Was steht drin, wenn’s drauf steht?

| Hoa Mai Trần |

Einleitung

Die Diskussion um Qualität in der frühkindlichen Bildung wurde maßgeblich durch den „Pisa-Schock“ 2001 vorangetrieben. Qualitätsverfahren werden als Instrumente zur Steuerung der pädagogischen Praxis angesehen. Neben quantitativem Ausbau wurden Bildungs- und Orientierungspläne erstellt, und Fragen nach „guter“ Qualität aufgeworfen. Dies führte zu einem verstärkten Fokus auf Effizienz und Wirtschaftlichkeit, wobei Qualität definiert und überprüft werden musste. Es entstanden zahlreiche Verfahren und Instrumente zur Qualitätsentwicklung und -sicherung, wobei unterschiedliche Ansätze und Modelle diskutiert wurden. Dabei wurden und werden sowohl interne als auch externe Evaluationen verwendet, um Qualität zu sichern oder zu verbessern. Kontroversen gibt es nach wie vor darüber, wer „gute“ Qualität festlegt und überprüft und wie demokratisch und inklusiv diese Verfahren sind. Peter Moss betont, dass Qualität nicht nur objektiv gemessen werden kann, sondern ein konstruierter und kollektiver Prozess der Bedeutungskonstruktion sind (Pence, Moss 1994, S. 172; Moss 2016, S. 10, 15). Er schlägt vor, Evaluation als demokratischen Prozess zu verstehen, bei dem verschiedene Akteure gemeinsam Sinn und Bedeutung konstruieren. Demokratiebildung sollte daher integraler Bestandteil der Qualitätsdiskussion sein, um ein professionelles und demokratisches Bildungssystem zu gewährleisten (Dahlberg et al. 2013, S. xv; Moss 2016, S. 11f.; Moss, Urban 2010). Im 16. Kinder- und Jugendbericht wird die Bedeutung von Demokratiebildung in der Kindertagesbetreuung hervorgehoben (BMFSFJ 2020, S. 163ff., 176). Gefordert wird eine stärkere Ausrichtung an Demokratiebildung in der Analyse von Bildungsplänen (Wolter 2021), der Bedarf der Analyse von Qualitätsdiskursen im Elementarbereich wird verdeutlicht. Diese sind folglich stärker auf Demokratiebildung auszurichten, was das Vorhaben im Rahmen des Kompetenznetzwerks „Demokratiebildung im Kindesalter“ der Fachstelle Kinderwelten (ISTA) aufgriff.

Was will das Projekt?

Verschiedene Qualitätsverständnisse führten zu den verschiedenen Verfahren und Instrumentarien, die in der kindheitspädagogischen Landschaft Anwendung fanden und finden. Doch wer definiert „gute“ Qualität auf welcher Art und Weise? Im Rahmen des Kompetenznetzwerk für Demokratiebildung im Kindesalter angesiedelt an der Fachstelle Kinderwelten (ISTA) wurde 2021-2023 eine Dokumentenanalyse zu „Demokratiebildung in Qualitätsverfahren“ durchgeführt. Ziel der Analyse ist es, einen kritischen Blick in die heterogene Qualitätslandschaft mit Fokus auf den Elementarbereich zu werfen. Es wurden 21 Qualitätsverfahren auf die Schwerpunkte: Demokratie, Partizipation, Kinderrechte, Diversität, Diskriminierung und Inklusion analysiert. Demokratiebildung wird als fortlaufender Prozess und auf Ebene der Bildungsprozesse von Kindern als Erfahrungs- und Lebensform verstanden (Oelkers 2011, S. 121ff.; Eberlein et al. 2021, S. 12, 212), der es allen Mitgliedern einer Gesellschaft ermöglichen soll, aktiv an demokratischen Entscheidungsprozessen teilzunehmen. Kinderrechte sind als grundlegende demokratierelevante Rechtsanker für Kinder, die Anforderung an pädagogische Fachkräfte zur Einhaltung von Schutz-, Beteiligungs- und Förderrechten von Kindern verankern (UN-Kinderrechtskonvention 1989). Partizipation ist historisch in reformpädagogischen Bewegungen verankert, und stellt ein zentrales Prinzip dar, welches die Beteiligung von Kindern in Inhalt und Form befördert (Ruppin 2018; Schwerdt et al. 2023, Hansen et al. 2011). Diversität wird als wichtige Perspektive hervorgehoben, da die heterogenen Zugehörigkeiten und Lebenslagen von Kindern und Familien in der pädagogischen Arbeit bedeutsam werden (Hormel 2007, S. 27, Stenger et al. 2017, S. 9). Diskriminierung, als Ausschluss oder Benachteiligung bestimmter Gruppen, wird als „Demokratiedefizit“ unvereinbar mit dem demokratischen Anspruch betrachtet und erfordert eine aktive Auseinandersetzung und Gegenmaßnahmen (BMFSFJ 2020, S. 164f.; Scherr 2016). Inklusion zielt darauf ab, die Teilhabe von Kindern an Bildung und Gesellschaft chancengerecht zu gewährleisten. Erwähnenswert ist hierbei der erfolgte Paradigmenwechsel, welcher nicht mehr ein vermeintliches Defizit bei Kindern fokussiert, sondern Behinderungen auf gesellschaftliche Defizite betrachtet, welche als Barrieren in Strukturen und Institutionen wirksam sind und entsprechend abgebaut werden müssen (Degener 2010, S. 58; Wagner 2022). Deutschland hat sich mit der Ratifizierung der UN-Behindertenkonvention verpflichtet Teilhabe im Bildungssystem umzusetzen, doch nach wie vor besteht Handlungsbedarf, um ein inklusives Bildungssystem zu schaffen. Innerhalb der Dimensionen und Zugänge über Demokratiebildung, Partizipation, Kinderrechte, Diversität, Anti-Diskriminierung und Inklusion gibt es viele inhaltliche Überschneidungen. Die Diskussion um diese in diesem Beitrag knapp skizzierten Konzepte reflektiert die komplexen demokratierelevanten Herausforderungen für die pädagogische Praxis und die Notwendigkeit einer kontinuierlichen wertebasierten Auseinandersetzung mit Qualitätsverfahren und der Weiterentwicklung von Demokratiebildung im Kindesalter auf.

Wie geht das Projekt vor?

Die Dokumentenanalyse zielt darauf ab, die Rolle der Demokratiebildung in Kitas innerhalb der Qualitätsverfahren zu untersuchen. Die Dokumentenanalyse konzentriert sich darauf, wie häufig Aspekte wie Partizipation, Kinderrechte, Inklusion, Diversität und Diskriminierung in den untersuchten Qualitätsverfahren vorkommen. Es wird eine zusätzliche qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt, die quantitative Techniken wie die Erfassung von Begriffshäufigkeiten ergänzte. Die Untersuchung schafft eine Annäherung an ein deskriptives Abbild zu verschiedenen Dimensionen der Demokratiebildung und gibt Rückschlüsse auf Weiterentwicklungspotenziale. 21 Qualitätsverfahren wurden im Sample der Dokumentenanalyse aufgenommen. Sie unterschieden sich in qualitativ und quantitativem Zugang, ihrer regionalen Verankerung sowie lokaler, bundesweiter und nationaler Anwendung, ihren Evaluationsformen (intern und/oder extern) sowie ihrer Verbreitung als ansatzbezogene, managementbezogene, trägerbezogene Formen. Verschiedene Dokumente und Methoden wurden anhand verschiedener Kriterien für die Dokumentenanalyse verwendet, darunter Beobachtungsbögen, Fragebögen bis hin zu ganzen Handbüchern und Manuals. Es wird betont, dass die Analyse auf einer begründeten Auswahl von Dokumenten basiert und keine direkten Einblicke in die pädagogische Praxis und die Verwendungsweisen in der Arbeit mit verschiedenen Verfahren aufzeigen[1]. Die Analyse liefert dadurch Impulse für den Fachdiskurs und eine Annäherung an die Frage, wie es um Demokratiebildung in verschiedenen Qualitätsverfahren steht.

Was ist das Ergebnis?

Im Folgenden wird ein Einblick in Teilergebnisse zu Diversität, Inklusion und Diskriminierung gegeben. Die vollständigen Ergebnisse sind im Werk „Demokratiebildung in Verfahren der Qualitätsentwicklung in Kitas: Eine Dokumentenanalyse Zur Stellung von Partizipation, Kinderrechten, Diversität, Diskriminierungskritik und Inklusion in der kindheitspädagogischen Qualitätslandschaft” (Trần 2024) nachzulesen.

Trotz großer Unterschiede zwischen verschiedenen Qualitätsverfahren wurden alle Schlagwörter übergreifend gefunden, was darauf hindeutet, dass grundsätzlich bestimmte Zugänge in Qualitätsverfahren verhandelt werden, wobei insbesondere Partizipation stark aufgegriffen wird und Diskriminierung als der meist vernachlässigte Teilaspekt gedeutet werden kann. Diversität wird häufiger thematisiert als Inklusion. Deutlich werden die großen Unterschiede im Profil einzelner Qualitätsverfahren.

Rang nach TreffernInhaltliche KategorieAnzahl der Kodierungen
1Partizipation10388
2Diversität9728
3Kinderrechte7230
4Demokratie4563
5Inklusion4417
6Diskriminierung3927
Gesamt40253
Tabelle 1 Absolute Häufigkeit von Treffern nach verschiedenen Zugängen (Eigene Darstellung)

Diversität in Qualitätsverfahren wird meist unter Begriffen wie „Unterschiede“ und „Vielfalt“ thematisiert. Allerdings ist der Bezug zu sozialer Differenz und Heterogenität geringer. Die Sprachwahl variiert stark, wobei „Vielfalt“ und „Unterschiede“ öfter verwendet werden als „Diversität“. Unterschiedliche Verfahren handhaben Diversität unterschiedlich. Es geht einerseits darum, Unterschiede anerkennend und respektvoll als Teil der pädagogischen Arbeit aufzugreifen. Andererseits wird die inhaltliche Spannbreite von Diversität teils oberflächlich abgehandelt und sehr unterschiedlich bis einseitig-stereotyp zur Sprache gebracht und auch hier gibt es große Disparitäten zwischen einzelnen Qualitätsverfahren. Diversität zeigt sich in verschiedenen Differenzkategorien (abgefragt wurden beispielsweise natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit, Alter, Geschlecht, psychische und physische Einschränkungen, sozialer Herkünfte etc.), wobei das Alter und die ethnische Zugehörigkeit am häufigsten erwähnt werden, während psychische und physische Einschränkungen und sexuelle Orientierung wenig Beachtung finden. Kinder sind die häufigste Zielgruppe, aber auch Familien und ethnische Zugehörigkeit werden oft genannt. Dennoch sind bestimmte Aspekte der Diversität, wie nicht-binäre Geschlechtlichkeit oder verschiedene Religionen unterrepräsentiert. Die Sprache und Herangehensweise zu Diversität in Qualitätsverfahren zeigen eine Affirmation von Vielfalt, während eine machtkritische Perspektive weniger präsent ist. Seltener wird die Beteiligung der Fachkräfte an der Herstellung von Differenz von Kindern und Familien thematisiert, sondern vorwiegend der Umgang mit Heterogenität in den Blick genommen. Es besteht Bedarf an einer umfassenderen Berücksichtigung diverser Lebensrealitäten von Kindern und an einer kritischeren Auseinandersetzung mit Diversität in der pädagogischen Praxis und in Qualitätsverfahren.

Die Analyse zeigt, dass das Verständnis von Inklusion in Qualitätsverfahren uneinheitlich ist, und die Umsetzung variiert stark. „Inklusion“ wird insgesamt 262-mal benannt in der Spannbreite von gar keiner Benennung in acht Qualitätsverfahren bis hin zu 125 Treffern in einem Qualitätsverfahren. Häufig wird Inklusion einseitig betont, ohne Exklusion zu berücksichtigen. Das „Gemeinsame“ in Sinne von Zusammen sein „aller“ wird oft hervorgehoben, während Teilhabe, Zugehörigkeit und Barrierefreiheit selten angesprochen werden. Die Formel „alle Kinder“ bleibt unpräzise, birgt Widersprüche und bleibt vage in Hinblick auf konkrete Maßnahmen, die bestimmte Zielgruppen von Kindern betreffen. Der Begriff „Inklusion“ wird mit Kindergruppen entlang physisch-psychischer Fähigkeit, natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit und ihres Alters erwähnt, was das Spannungsfeld der Spezifik des inklusiven Auftrags für bestimmte Kinder und seiner Generalisierbarkeit von „allen“ Kindern verdeutlicht. Bestimmte Qualitätsverfahren weisen deutlich dazu an, „Inklusion“ als Zielwert pädagogischer Qualität zu adressieren, doch es gibt auch einige Verfahren, die sich kaum (und vor allem nicht explizit) mit Inklusion befassen. Die Thematisierung von Exklusion muss verstärkt werden, um Barrieren abzubauen. Die Konsistenz von Integration und Sonderpädagogik ist bedenklich, da sie einerseits Benachteiligte ansprechen, andererseits aber eine Sonderbehandlung bestimmter Kindergruppen mitermöglichen. Die Herausforderung besteht darin, ein ausgewogenes Verständnis von Inklusion zu entwickeln und einen verstärkten Diskurs über Exklusion zu führen.

Die Analyse zeigt, dass Diskriminierung in Qualitätsverfahren nur am Rande thematisiert wird. Während Herrschaftsverhältnisse häufiger erwähnt werden, bleibt die explizite Auseinandersetzung mit Diskriminierung sehr gering. Es fehlt an konkreten Strategien zur Bewältigung von Diskriminierungssituationen. Die Benennung spezifischer diskriminierender Ideologien (wie beispielsweise Klassismus, Rassismus, etc.) ist selten, ebenso wie die Erwähnung von Interventionsstrategien, welche beispielsweise durch Beschwerden angesprochen werden. Es lässt sich in Bezug auf die Ergebnisse der Analyse von Diversität und Differenzmerkmalen feststellen, dass die Ansprache von beispielsweise „Kinder[n]“ mit 2446 Treffern und seinem Diskriminierungsäquivalent „Adultismus“ mit 3 Treffern eine Thematisierung in der Benennung von spezifischen Personengruppen (hier Kinder) stark gewichtig, doch ihre Ausgrenzungsrisiken kaum bis gar nicht zur Kenntnis genommen werden. Die Art und Weise, wie Diskriminierung behandelt wird, variiert stark zwischen den Qualitätsverfahren. Einige thematisieren sie ausführlicher, während andere sie kaum berücksichtigen. Die Verwendungsweisen des Diskriminierungsbegriffs in der Kita sind sehr unterschiedlich gelagert. Es kann nicht von einer systematischen Auseinandersetzung gesprochen werden, sondern mehr von einer punktuellen Ansprache ausgewählter Qualitätsverfahren. Dabei unterscheiden sich die Benennungen stark nach den jeweiligen Qualitätsverfahren. Viele Verfahren haben Diskriminierung kaum bis gar nicht in ihrem Fokus auf pädagogische Qualität. In der qualitativen Analyse zeigt sich, dass Diskriminierung mit Sensibilisierung für Vorurteile und Übergriffigkeiten in Verbindung steht. Offen bleibt, wer von wem wie diskriminiert wird und wie pädagogisch damit umgegangen werden kann. Teils wird die Idee eines diskriminierungsfreien Raums mitgetragen, die die Adressierung von Diskriminierungen im pädagogischen Alltag ausblenden. Andere Verfahren widmen sich gezielter Diskriminierungsrisiken in der Kita.

Die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen wird betont, indem die Anwendungsweisen von Qualitätsverfahren in der Praxis sowie die Perspektiven der Kinder stärker einzubeziehen sind. Zudem wird die Erwachsenenzentrierung im Diskurs über Qualität und Demokratiebildung kritisch hinterfragt und auf die Machtverhältnisse sowie Diskriminierungsrisiken als Demokratiedefizite in Kindertageseinrichtungen hingewiesen. Die wertebasierte Ausrichtung sind durch Partizipation und Demokratiebildung grundsätzlich vorhanden und in Qualitätsverfahren zu präzisieren. Kinderrechte müssen stärker expliziter Bestandteil von pädagogischer Qualität sein und Diversität tiefgründiger und kritischer verhandelt werden als bisherige Qualitätsverfahren dies tun. Das Fazit der vorliegenden Dokumentenanalyse verdeutlicht die vielfältigen Impulse für einen kritischen Qualitätsdiskurs in kindheitspädagogischen Handlungsfeldern mit dem Fokus auf Demokratiebildung. Weiterhin kann über die konsequentere Ausrichtung im Qualitätsdiskurs in Richtung Demokratiebildung verwiesen werden. Eine Unterscheidung je nach Kontext und Verwendungsweise verschiedener Qualitätsverfahren wird ebenfalls deutlich, da es große Unterschiede zwischen einzelnen Qualitätsverfahren zu verschiedenen Teilaspekten sich abgezeichnet haben.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Demokratieförderliche Prinzipien müssen stärker programmatisch und inhaltlich konturiert werden, um die Verbindung zwischen bildungspolitischen Strategien und pädagogischer Alltagspraxis zu befördern. Es bedarf einerseits formaler Strukturen, damit Demokratiebildung als Handlungspraxis ermöglicht wird und andererseits eine flexible Umsetzung und Ausrichtung an der pädagogischen Praxis und seiner verschiedenen Akteur*innengruppen – allen voran den Kindern. Diese konsequente Strategie kann als organisationale Aufgabe begriffen werden, da verschiedenen Ebenen und Subsysteme in pädagogischen Einrichtungen für eine demokratiebildenden Qualitätsdiskurs und Praxis beitragen. Die pluralen Lebenswirklichkeiten von Kindern in ihren heterogenen Ausprägungen brauchen mehr, systematische und explizitere Berücksichtigung in Qualitätsverfahren, die entsprechend zu überarbeiten sind. Es besteht die Notwendigkeit einer diversitätsbewussten Auseinandersetzung und Ansprache und Adressierung von Kindern und Familien, um den heterogenen Lebenswelten gerecht zu werden und Ungleichheiten sowie Ausschlüssen entgegenzuwirken. Diskriminierungen und deren Umgang stellen eine größere Leerstelle in Qualitätsverfahren dar. Grundlegend besteht Bedarf, Diskriminierung stärker und expliziter in den Blick zu nehmen und konkrete Handlungsorientierungen zu entwickeln, um Teilhabebarrieren und Demokratiedefiziten entgegenzuwirken. Schlussfolgernd wird deutlich, dass Inklusion viel mit der Thematisierung „aller Kinder“, dem Zusammensein sowie gemeinsamen Aktivitäten implizit angesprochen wird. Gleichzeitig wird Inklusion wenig thematisiert, wenn es um umfassende Teilhabe, Zugehörigkeit und Barrieren in pädagogischen Einrichtungen geht. Die Formel „alle“ Kinder im Sinne eines allumfassenden Einschlusses kann als unpräzise gelten, da sich darunter verschiedene Ziele, Werte und Handlungsmaßnahmen verbergen, die teils bestimmte Zielgruppen von Kindern implizit ansprechen und dennoch größeren Interpretationsspielraum aufweisen. Hier braucht es Klärung wer mit Inklusion wie gemeint und wie behandelt werden soll, um grundsätzlich die Bildungseinrichtung inklusiv zu gestalten. 

In der Betrachtung der Ergebnisse wird deutlich, dass der Umgang mit Diversität, Inklusion und Diskriminierung vor allem als Aufgabe pädagogischer Fachkräfte ausgewiesen wird. Dies erfordert einen Ausbau von demokratischen Strukturen innerhalb der Organisation, bei dem nicht nur pädagogische Fachkräfte, sondern die gesamte Organisation in die Verantwortung gezogen wird. Die vorgeschlagenen praxisnahen Rückschlüsse zielen darauf ab, die Qualitätssicherung und -weiterentwicklung in Kindertageseinrichtungen zu verbessern und Demokratiebildung als Struktur pädagogischer Einrichtungen sowie Recht von Kindern stärker zu verankern. Dabei ist eine systematische Auseinandersetzung mit Demokratiebildung und verschiedenen Zugängen wie Partizipation, Kinderrechten, Diversität, Diskriminierung und Inklusion unerlässlich. Es bedarf einer Verschiebung in der Qualitätsdebatte weg vom Effizienz-Paradigma hin zur Qualitätsentwicklung als Demokratisierungsstrategie in Inhalt und Form. So kann Demokratiebildung als Recht von Kindern in der pädagogischen Praxis umfassend realisiert werden und im Alltag als Erfahrungsform durch Qualitätsverfahren sowie in der pädagogischen Alltagspraxis gelebt werden.

Literaturverzeichnis

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ) (Hrsg.) (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter. Verfügbar unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/162232/27ac76 c3f5ca10b0e914700ee54060b2/16-kinder-und-jugendbericht-bundestagsdruck sache-data.pdf [Zugriff: 12.03.2023].

Dahlberg, Gunilla/ Moss, Peter/Pence, Alan (2013): Beyond Quality in Early Childhood Education and Care. Languages of Evaluation. 3rd Edition. London: Routledge.

Degener, Theresia (2010): Die UN-Behindertenrechtskonvention. In: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (Hrsg): Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen, 2, 2010, S. 57-63. Verfügbar unter: https://zeitschriftvereinte-nationen.de/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_2010/Heft_2_ 2010/03_Degener_beitrag_2-10_30-3-2010.pdf [Zugriff: 12.03.2023].

Oelkers, Jürgen (2011) (Hrsg.): John Dewey. Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. 5. Auflage, Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Eberlein, Noemi/Durand, Judith/Birnbacher, Leonhard (2021): Bildung und Demokratie mit den Jüngsten. Bezugstheorien, Diskurse und Konzepte zur Demokratiebildung in der Kindertagesbetreuung. Weinheim Basel: Beltz Juventa.

Hansen, Rüdiger; Knauer, Raingard; Sturzenhecker, Benedikt (2011): Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern! Weimar: Verlag das Netz.

Hormel, Ulrike (2017): Pädagogische Beobachtungsweisen. Heterogenität, Diversity, Intersektionalität. In: Stenger, Ursula/Edelmann, Doris/Nolte, David/Schulz, Marc (Hrsg.): Diversität in der Pädagogik der frühen Kindheit. Im Spannungsfeld zwischen Konstruktion und Normativität. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. S. 19- 35.

Moss, Peter (2016): Why can’t we get beyond quality? In: Contemporary Issues in Early Childhood, 17, 1, S. 8-15.

Moss, Peter; Urban, Mathias (2010): Democracy and Experimentation: Two Fundamental Values for Education. Ein Beitrag zum Projekt: Wirksame Bildungsinvestitionen der Bertelsmann Stiftung (Hrsg.). Verfügbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung. de/de/publikationen/publikation/did/democracy-and-experimentation-two-funda mental-values-for-education [Zugriff: 12.03.2023].

Pence, Alan; Moss, Peter (1994): Towards an Inclusionary Approach in Defining Quality. In Moss, Peter; Pence, Alan (Hrsg.): Valuing Quality in Early Childhood Services. London: Paul Chapman, S. 172-180.

Rupp, Iris (2018) (Hrsg.): Kinder und Demokratie. Weinheim Basel: Beltz Juventa.

Scherr, Albert (2016): Diskriminierung. Wie Unterschiede und Benachteiligungen gesellschaftlich hergestellt werden. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer VS.

Stenger, Ursula; Edelmann, Doris; Nolte, David; Schulz, Marc (Hrsg.) (2017): Diversität in der Pädagogik der frühen Kindheit. Im Spannungsfeld zwischen Konstruktion und Normativität. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

Schwerdt, Ulrich; Sieveke, Pia; Wüllner, Sabrina (2023): Janusz Korczak im Kontext der historischen Reformpädagogik. Lehrer_innenband. Baltmannsweiler: Schneider Verlag.

Trần, Hoa Mai (2024): Demokratiebildung in Verfahren der Qualitätsentwicklung in Kitas: Eine Dokumentenanalyse. Zur Stellung von Partizipation, Kinderrechten, Diversität, Diskriminierungskritik und Inklusion in der kindheitspädagogischen Qualitätslandschaft. Fachstelle Kinderwelten/ISTA (Hrsg.). Unter Mitarbeit von Ayten, Nuran; Surmund, Judith; Mildt, Manuela. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich.

UN-Kinderrechtskonvention (1989): Übereinkommen über die Rechte des Kindes. 20. November 1989. Am 5. April 1992 für Deutschland in Kraft getreten (Bekanntmachung vom 10. Juli 1992 – BGBl. II S. 990). Verfügbar unter: https://www.kinderrechte.de/kinderrechte/un-kinderrechtskonvention-im-wortlaut [22.04.2024].

Wagner, Petra (2022) (Hrsg.): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. 5. Auflage. Freiburg: Herder.

Wolter, Berit (2021): Demokratiebildung im Bereich Kita in den Bildungsprogrammen der Bundesländer. Rechercheergebnisse. Unter Mitarbeit von Hannah Louisa Schmidt. Fachstelle Kinderwelten/ISTA (Hrsg.). Verfügbar unter: https://situationsansatz.de/wp-content/uploads/2021/11/Recherche_Demokratiebildung_Bundeslaender_Zusammenfassung.pdf [Zugriff: 12.03.2023].


[1] Es werden Grenzen und Limitationen des Vorgehens in der Auswahl der Dokumente deutlich sowie technische Probleme bei der Datenverarbeitung und die begrenzte Kontextsensibilität der automatisierten Schlagwort-suche betont.

Behinderung im Bilderbuch – eine Frage der Repräsentation

| Teresa Vielstädte |

Bilderbücher besitzen eine besondere Bedeutung für die kindlichen Bildungs-, Sozialisations- und Kulturalisierungsprozesse (vgl. Burghardt & Klenk 2016; Thiele 2012). Sie bieten Kindern die Möglichkeit mit gesellschaftlichen Lebensweisen, Normen und Werten in Kontakt zu kommen. Dadurch gewinnen sie erste Vorstellungen und Bilder über das Zusammenleben in der Gesellschaft, womit Bilderbücher die Prozesse der Identitätsfindung unterstützen. Dabei bilden Bücher immer auch gesellschaftliche Realitäten ab, sodass ihn ein besonderer Stellenwert in der Auseinandersetzung mit Lebensweisen und gesellschaftlichen Wert- und Normorientierungen zukommt. Trotz des Anspruchs der Repräsentation von vielfältigen Lebenswelten in Bilderbüchern wurde das Thema ‚Behinderung‘ lange Zeit ausgegrenzt (vgl. Reese 2010). In aktuellen Diskussionen findet sich die Forderung nach einer stärkeren Verknüpfung von Disability Studies und Kinderliteraturwissenschaft, um gesellschaftliche Vorstellungen über Behinderung, Abweichung und Normalität aufzudecken (vgl. Schäfer, Ullmann & Blümer 2012, 61)

Was will das Projekt? Was ist das Phänomen?

Das Thema ‚Behinderung‘ galt lange Zeit als Tabuthema in der Kinderliteratur. Erst seit den 2000er Jahren findet sich ein breiteres Darstellungsspektrum von Behinderung im Kinderbuch. In Kinderbüchern wird das Thema Behinderung aufgegriffen, in dem die verschiedenen Wahrnehmungen und Sichtweisen der als behindert und nicht-behindert geltenden Protagonist*innen dargestellt werden. Dadurch entfalten sich Konstruktionen von Behinderung sowie damit verbundene Vorstellungen von Verhaltens-, Kommunikationsmustern und Praktiken: Wie verhalten sich Menschen mit und ohne Behinderung (in Interaktion)? Wie kommunizieren diese miteinander? Welche Praktiken gelten im Umgang mit Behinderung als gesellschaftlich anerkannt und welche erscheinen als unvereinbar?

Unter Konstruktion von Behinderung kann die gesellschaftliche Bewertung einer Schädigung oder Behinderung verstanden werden. Die Normen, die der Zuschreibung von Behinderung zugrunde liegen, sind nach diesem Verständnis gesellschaftlich oder kulturell bestimmt. Da Normen, Urteile und Kategorien das Ergebnis kommunikativer und sozialer Praktiken sind, wird Behinderung als gesellschaftlich hervorgebracht angesehen (vgl. Kast 2017, 260f.).

Durch Versprachlichung und Bebilderung wird Behinderung erst hervorgebracht, womit diese entweder zur Festschreibung beitragen können oder sich dadurch auch die mit dieser Differenz verknüpften Diskriminierung und Stigmatisierung aufdecken lassen. Diese Überlegungen aufgreifend möchte ich im Rahmen des Blogbeitrags exemplarisch zeigen, wie Behinderung im Kinderbuch konstruiert wird. Welche Vorstellungen, möglicherweise auch Stereotype und Klischees werden wie inszeniert?

Wie bin ich vorgegangen?

Exemplarisch habe ich das Sachbilderbuch „Alle behindert“ ausgewählt, da es zu Beginn der Recherche für den Artikel (vgl. Vielstädte 2022) neu erschienen ist, woraufhin es in verschiedenen Blogformaten durchaus kontrovers diskutiert und rezensiert wurde (vgl. bspw. Kollodzieyski 2020.). Wenn dem Verständnis von Behinderung als Konstruktion gefolgt wird, erfordert eine Bilderbuchanalyse den Fokus auf die Darstellungsweise von Behinderung: Wie wird Behinderung kommunikativ und interaktiv in der Geschichte zum Thema gemacht? Wie wird Behinderung medial dargestellt? Die Fragestellung, wie Behinderung im Kinderbuch dargestellt, verhandelt und konstruiert wird ist sicherlich nicht ganz unproblematisch. Hierdurch wird an der Rekonstruktion der Kategorien Behinderung und Nichtbehinderung mitgewirkt.

Ich habe mich bei der Analyse an einem explorativen Vorgehen orientiert, welches sich grob an den Analysekategorien des fünfdimensionalen Modells der Bilderbuchanalyse nach Dammers/Krichel/Staiger (2022) orientiert. Dabei habe ich die unterschiedlichen im Buch präsentierten Portraits und damit verbundenen ‚Behinderungsbilder‘ vergleichend und kontrastierend in den Blick genommen.

Was ist das Ergebnis?

  Alle behindert wurde von Heinz Klein und Monika Ostberghaus geschrieben und ist als Sachbilderbuch[1] zu klassifizieren, da es auf 25 Doppelseiten „25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild“ erläutert (Klein & Ostberghaus 2019). Das Buch richtet sich an Kinder ab 5 Jahren. Im Mittelpunkt des Sachbilderbuchs steht eine alltags- und lebensweltliche Strukturierung[2] der Inhalte. Das Buch erinnert in seiner Aufmachung an ein ‚Freundebuch‘. Auch hier zeigt sich nun wieder der alltags- und lebensweltliche Anknüpfungspunkt zur Bearbeitung des Buchthemas Behinderung. Gemäß der sprachlichen Gestaltung eines ‚Freundebuches‘ werden einzelne Begriffe oder stichpunktartige kurze Sätze verwendet. Auf jeder Seite wird mittig eine andere Figur mithilfe einer großen Zeichnung vorgestellt, ringsum finden sich stichpunktartig Informationen zu den jeweiligen Figuren entlang immer gleicher Kategorien (ebd.): „Mag gerne“, „Mag weniger“, „Lieblingssatz“, „Behinderung“, „Spitz- oder Schimpfname“, „Wie oft kommt das vor“, „Geht das wieder weg“ (…).“

  Die Angaben werden teilweise durch kleine Comic-Zeichnungen ergänzt, die alltägliche Situationen der Figuren karikaturartig darstellen. Diese Kategorien sind bereits teilweise auf Behinderungen zugeschnitten. Jede Seite vermittelt das Bild einer fiktionalen Persönlichkeit, die Behinderungserfahrungen gemacht hat. Das Buch bleibt konsequent im Aufbau eines kollektiven „Wir“, indem es am Ende zu eigenen Eintragungen auffordert und klassische Definitionen von Behinderung in Frage stellt. Es fehlt ein zusammenhängender Handlungsstrang, da die Persönlichkeiten individuell präsentiert werden und nicht miteinander interagieren. Die farbenfrohen Illustrationen im Buch sind detailliert und ikonisch. Sie müssen oft zusammen mit dem Text betrachtet werden, um vollständig verstanden zu werden und unterstützen sich gegenseitig in der Charakterdarstellung.

  Die Definition von Behinderung in diesem Buch folgt nicht streng den bekannten Klassifikations- und Definitionsversuchen, wie z.B. in der Behindertenrechtskonvention oder nach ICD-10. Die zugeschriebenen Charaktereigenschaften der Figuren sind veränderbar (z.B. Julien „der Angeber“ oder Paul „der Mitläufer“), im Gegensatz zu langfristigen und gleichbleibenden Beeinträchtigungen, wie es die Behindertenrechtskonvention definiert. Anhand der Analyse zeigt sich, dass nach der im Buch verwendeten Definition von Behinderung keine lebenslange und strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderung explizit mitgedacht bzw. sichtbar gemacht werden.

  Auf den ersten Blick weckt das Buch den Eindruck, als würde es dem Defintionsversuch folgen, dass es nicht per se die Behinderung geben, denn hier werden nicht nur die ‚geläufigen‘ und ‚bekannten‘ Behinderungsbilder wie Trisomie 21, Autismus, Beeinträchtigung des Lernens, Sprechens, Sehens oder Hörens etc. aufgeführt, sondern zur Behinderung werden hier auch „Tussi“, „Mitläufer“, „Außenseiter“, „Dicksein“, „Bildschirmsucht“, „Rüpel“ etc. erklärt. Offenbar orientiert sich die Verwendung des Behinderungsbegriffs hier an Vorstellungen von etwas Negativem, was unerwünscht ist und einer Abweichung von Normalität entspricht (vgl. Dederich 2009, S. 15). Es stellt sich hier die grundsätzliche Frage, wie die Auswahl der Prototypen erfolgt ist. Es fällt auf, dass z.B. gewisse soziale Merkmale wie Armut oder bestimmte Lebenserfahrungen wie Gewalt oder Rassismus nicht als Beeinträchtigung eingestuft werden.

  Durch die fiktiven Vorstellungen einzelner Persönlichkeiten arbeitet das Buch vielmehr die individuellen Ausprägungen der Charaktere heraus. Die dargestellten Informationen repräsentieren rekurrentes Alltagswissen, in denen die subjektiven Kategorisierungslogiken und Normalisierungsvorstellungen auftreten. Auch wenn das Buch durch die Darstellung von Persönlichkeiten wie „dem Rüpel“, „dem Angeber“ und ähnliche versucht, an der Dekategorisierung der Behinderungsdefinition mitzuwirken, verstärkt es in der Darstellung gleichzeitig stereotype Vorstellungen und reproduziert Zuschreibungen. Gesellschaftliche Herausforderungen und Diskriminierungsformen, denen Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind bleiben in dem Buch unerwähnt.

   Das Bilderbuch provoziert jedoch durch seine ironische Darstellungsart, dass mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben werden: Wie kann beispielsweise im Bilderbuch Trisomie 21 dargestellt werden, ohne auf stereotype Bebilderungen zurückzugreifen? Warum erleben wir in der Betrachtung eines Buches mit dem Titel Alle behindert das Nebeneinanderstellen von einer „Tussi“ und einem Menschen mit Autismus als ‚No-Go‘? Warum erscheint das In-Verbindung-Setzen von einem „Angeber“ oder einem „Mitläufer“ mit einem Menschen mit Trisomie 21 in der Präsentation von ‚Behinderungserfahrungen‘ als Tabuzone? Warum kommt „Rüpel als Behinderung“ „immer öfter“ (Klein & Ostberghaus 2019, S. 18) vor? Was hat es mit dem Gen bei Trisomie 21 im Detail auf sich?

  In jedem Fall gelingt es dem Buch aufzuzeigen, wie schwer es ist, eine angemessene Sprache und Begriffsverwendung im Diskurs, um Behinderung zu finden. Dabei ist die Rede über Behinderung noch längst nicht barrierefrei (vgl. auch Oetken 2012). Für ein reflexives Inklusionsverständnis (Budde & Hummrich 2014) braucht es allerdings eine Differenzkategorie Behinderung, in der dem Phänomen eingeschriebene Benachteiligungen, Ausgrenzungsmechanismen, gesellschaftliches Wissen und daraus resultierende Effekte und Produkte auch in der Kinderliteratur und in dessen Rezeption erkennbar werden. Dabei stehen analytische Methoden vor der Herausforderung, statt zu einer Dekonstruktion von Differenzen vielmehr zu deren Rekonstruktion beizutragen.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Insgesamt bleibt das Buch hinter seinen Möglichkeiten zurück, was die kindliche Identitätsfindung sowie das Kennenlernen diverser Lebensweisen und Normorientierungen betrifft. Stattdessen beschränkt es sich in seiner Narration einseitig auf Behinderung als ‚individuellem Defekt‘ oder Normabweichung, wenngleich es sein Verdienst ist, einem breiten Lesepublikum einen niedrigschwelligen Zugang zum Thema durch seine ironisch-witzige Darstellungsweise zu verschaffen. Dabei erhalten Kinder und Erwachsene Einblicke in verbreitetes Alltagswissen und damit zusammenhängende gesellschaftliche Praktiken und Effekte. Dennoch bedarf es beim Einsatz des Buches in privaten Kontexten und pädagogischen Institutionen eines reflektierten Umgangs, der in einen Kommunikations- und Aneignungsprozess zwischen Erwachsenen und Kindern eingebettet ist. Dabei bieten das Buch allerdings einen lohnenden Anlass, um mit Kindern über die verwendeten stereotypen Darstellungen ins Gespräch zu kommen. Die abschließende Frage, ob die angeführten Kategorien mit ihren Eigenschaftsbeschreibungen zum Stigma für Menschen mit Behinderung werden oder nicht, können an erster Stelle nur Betroffene selbst, dann aber auch Rezipierende entscheiden. Dies im Blick zu behalten, gilt sicherlich als eine zentrale Herausforderung, die das Buch an seine Leser*innenschaft stellt.

Literaturverweise

Budde, J. & Hummrich, M. (2014): Reflexive Inklusion. Zeitschrift für Inklusion, 4. Online verfügbar unter: https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/193, Zugriff am 18.02.2020.

Burghardt, L. & Klenk, F. C. (2016): Geschlechterdarstellungen in Bilderbüchern. Eine empirische Analyse. GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 8 (3), 61–80.

Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD) (2020): Definition von Behinderung. Online verfügbar unter: https://www.behindertenrechtskonvention.info/definition-von-behinderung-3121/, Zugriff am 18.02.2020.

Dammers, B., Krichel, A. & Staiger, M. (2022): Das Bilderbuch. Theoretische Grundlagen und analytische Zugänge. Wiesbaden: Springer

Dederich, M. (2009): Behinderung als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie. In: M. Dederich & W. Jantzen (Hrsg.), Behinderung und Anerkennung (S. 15–39). Stuttgart: Kohlhammer.

Kastl, J.-M. (2017): Einführung in die Soziologie der Behinderung (2. Auflage). Wiesbaden: Springer.

Klein, H. & Ostberghaus, M. (2019): Alle behindert! 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild. Leipzig: Klett Kinderbuch Verlag.

Kollodzieyski, T. (2020): Kinderbuch „Alle behindert!“ Inklusion braucht Unterschiede. Online verfügbar unter: https://dieneuenorm.de/kultur/kinderbuch-alle-behindert/, Zugriff am 28.05.2021.

Oetken, M. (2012): b-b-b-barrierefrei? Inszenierungen von Behinderung im Bilderbuch. Kjl&m – Kinder-/Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek, 66 (3), 34–45.

Reese, I. (2010): Strickmuster und Stereotypen. Die Darstellung von Behinderung im Kinder- und Jugendbuch. JuLit, 1, 3–10.

Schäfer, I., Ullmann, A. & Blümann, A. (2012): Aktuelle Tendenzen zu Krankheit und Behinderung in Kinder- und Jugendliteratur und -medien. Kjl&m – Kinder-/Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek, 66 (3), 58–63.

Thiele, J. (2012): Das Bilderbuch. In: G. Lange (Hrsg.), Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Grundlagen, Gattungen, Medien, Lesesozialisation und Didaktik (S. 217–233). Baltmannsweiler: Schneider.

Wocken, H. (2015): Dekategorisierung. Eine Einladung zur kategorialen Bescheidenheit. Sozialpsychologische Grundlagen und inklusionspädagogische Konsequenzen. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 84 (2), 100–112.

Vielstädte, T. (2022): „Alle behindert!“ Zur Konstruktion von Behinderung im Kinderbuch. In: E. Schulze (Hrsg.), Diversität im Kinderbuch: Wie Vielfalt (nicht) vermittelt wird. (S. 88-102) Stuttgart: Kohlhammer.


[1]  Das Sachbilderbuch gehört in die Sparte des Bilderbuches und zeichnet sich besonders durch seine themenspezifische Veranschaulichung in Bild und Text und weniger durch einen fiktionalen Erzählstrang aus (Thiele 2012, S. 222). Das Sachbilderbuch ist als Rubrik Bilderbuch in das Kinderbuchgenre einzuordnen.

[2]  Eine weitere Option wäre an dieser Stelle entsprechend eines Sachbilderbuches der fachkundliche Ausgangspunkt.

Antisemitismus in der Kita? Einblicke in ein Forschungsprojekt zu Differenzkonstruktionen unter jungen Kindern

| Benjamin Rensch-Kruse, Saba-Nur Cheema & Yasmine Goldhorn |

Einleitung

Antisemitismus ist in Deutschland ein gesellschaftlich breit debattiertes und empirisch gut erforschtes Phänomen. Insbesondere in den letzten Jahren sind zahlreiche Studien und Beiträge entstanden, die Judenfeindschaft im Erziehungs- und Bildungssektor untersuchen bzw. problematisieren (vgl. exempl. Bernstein/Grimm/Müller 2022; Bernstein 2020; Grimm/Müller 2020). Im Bereich der frühen Kindheit wurde Antisemitismus als Forschungsgegenstand bisher jedoch schlichtweg ausgespart. Während unlängst pädagogisch-programmatische Arbeiten erschienen sind, die Antisemitismus in Kindertagesstätten thematisieren und die Notwendigkeit einer frühestmöglichen Prävention diskutieren (vgl. Kölsch-Bunzen 2023, 2022), existieren in Bezug auf die Frage, wie und inwiefern Antisemitismen in der frühen Kindheit eine Rolle spielen, noch keine empirischen Erkenntnisse. Hier klafft eine beachtliche Forschungslücke (vgl. Rensch-Kruse et al. 2023).

Dies ist aus zweierlei Gründen erstaunlich: Einerseits gilt die frühe Kindheit als basale Lebensphase für spätere Entwicklungen, in der erzieherische Einwirkungen als richtungsweisend betrachtet werden (vgl. exempl. Fried et al. 2003, S. 7 f.). Andererseits kann diskriminierenden bzw. Differenz herstellenden Verhaltensweisen in pädagogischen Verhältnissen nur dann frühzeitig begegnet werden, wenn sie als solche erkannt und verstanden werden. Hierzu bedarf es der Forschung, d.h. der Beobachtung, Beschreibung, Interpretation und Kritik der vorhandenen (pädagogischen) Diskurse und Praktiken sowie der Einschätzung ihrer Effekte (vgl. Diehm/Radtke 1999, S. 14). Ohne grundlegende Forschung in Einrichtungen der frühen Kindheit gibt es mit Blick auf Antisemitismusprävention praktisch keine Anhaltspunkte, an die pädagogisches Handeln anschließen könnte.

Das an der Goethe-Universität Frankfurt angesiedelte und unter der Leitung von Isabell Diehm († 2023) begonnene Teilprojekt ‚Antisemitismus unter jungen Kindern. Differenzkonstruktionen im Vor- und Grundschulalter (Relcodiff_ungesteuert)‘[1] stößt in die genannte Forschungslücke vor und untersucht antisemitische Differenzierungspraktiken unter jungen Kindern in Kindertagesstätten (Kita). Der folgende Beitrag gibt temporäre Einblicke in das Forschungsprojekt und präsentiert kursorisch erste Felderkenntnisse.

Vorgeschichte

Das Anliegen, Antisemitismus unter jungen Kindern zu untersuchen, hat eine längere Vorgeschichte. Isabell Diehm hat in ihrer umfassenden Forschung zu Differenzkonstruktionen im Kontext der frühen Kindheit immer wieder festgestellt, dass das Thema ‚Antisemitismus‘ weder in der sozialwissenschaftlichen noch in der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung vorkommt. Aus dieser ersten Feststellung sind über einen längeren Zeitraum das Interesse und der Wunsch erwachsen, eingehender der Frage nachzugehen, wie Antisemitismen im elementarpädagogischen Bereich zu erforschen wären und inwieweit Judenfeindschaft dort überhaupt vorkommt. Genauer gefragt: Inwiefern eignen sich Kinder antisemitische Haltungen und Anschauungen an und wie gebrauchen sie diese in ihrem Alltag?

Diese Frage hat Isabell Diehm nicht losgelassen und ihr empirisch beizukommen war ihr eine Herzensangelegenheit. Auf der Grundlage ihrer Beobachtungen, ihres Engagements und ihrer Initiative ist schließlich u.a. das hier zur Präsentation stehende Teilprojekt hervorgegangen, in dem wir mit Isabell Diehm bis zuletzt geforscht haben und in dem wir nun in ihrem Andenken weiterforschen.

Was will das Projekt/ Was ist das Phänomen?

Im Mittelpunkt der Forschung stehen (antisemitische) Differenzkonstruktionen unter Kindern in der Kita und die Frage, inwiefern sie auf judenfeindliche Unterscheidungsweisen Bezug nehmen, wie sie diese (re)produzieren und in alltäglichen Interaktionen anwenden. Von Interesse sind damit kindliche (diskursive) Praktiken des Differenzierens, die auf eine „antisemitische Semantik“ (Holz/Haury 2021, S. 21) hin untersucht werden. Antisemitismus[2] erfüllt eine das Wissen ordnende und damit die Wahrnehmung der Welt strukturierende Funktion. Antisemitische Wissensordnungen[3] beeinflussen, wie wir die Welt sehen, d.h. wie wir denken, sprechen und handeln.

Antisemitismus als Differenzkonstruktion zeigt sich wandelbar und die Frage, wie antisemitische Wissensordnungen unter jungen Kindern verhandelt und angewandt werden, kann insofern nur kontextabhängig und situationsspezifisch rekonstruiert werden (vgl. Rensch-Kruse et al. 2023). Da sich aufgeführte Praktiken des Unterscheidens i.d.R. nicht auf eine bestimmte Differenzkategorie beschränken lassen, sondern mehrere Differenzkonstruktionen im Spiel sind, wird der Fokus nicht ausschließlich auf antisemitische Unterscheidungsweisen gerichtet. Stattdessen wird ein offener Ansatz verfolgt, der von einer grundsätzlichen Wechselwirkung bzw. Intersektionalität im Kontext von Differenzkonstruktionen unter jungen Kindern ausgeht (vgl. Bak/Machold 2022).

Kurz gesagt: Es werden zwar ausdrücklich antisemitische Wissensordnungen und ihre Aufführung in (diskursiven) Praktiken in den Blick genommen, aber auch weitere Konstruktionen, die bspw. rassialisierende, religionsbegründete, kulturelle und nationale Unterscheidungen betreffen, können vom Datenmaterial ausgehend Gegenstand der Untersuchung sein.

Wie sind wir vorgegangen?

Um Zugang zu möglichen (antisemitischen) Praktiken des Differenzierens in Kitas[4] zu bekommen, haben wir uns für ein ethnographisches Vorgehen entschieden, das sich im Kitakontext bereits als fruchtbare Herangehensweise erwiesen hat (vgl. exempl. Machold 2015; Kuhn 2013). Dabei greifen wir auf Arbeiten der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung zurück, die wichtige Erkenntnisse für die Erforschung antisemitischer Unterscheidungspraktiken bereitstellen (vgl. Rensch-Kruse et al. 2023). Neben teilnehmenden Beobachtungen veranstalten wir videogestützte Gruppengespräche[5] mit Kindern zwischen vier und acht Jahren. Darüber hinaus führen wir leitfadengestützte Interviews mit pädagogischen Fachkräften, Kitaleitungen und Eltern.[6] Während uns die teilnehmenden Beobachtungen und Gruppengespräche Einblicke in interaktive kindliche Verhaltens- und Sprechweisen geben, ermöglichen uns die Interviews kontrastive Eindrücke in Erwachsenensichtweisen. Von der so herbeigeführten Möglichkeit, kindliche Praktiken des Differenzierens mit Erwachsenenperspektiven in Relation zu setzten, versprechen wir uns aufschlussreiche Erkenntnisse über die Art und Weise der Wahrnehmung und Zirkulation antisemitischer Wissensordnungen im jeweiligen Kitakontext.

Im Gegensatz zu den Erwachseneninterviews, wird das Thema Judenfeindschaft im Kontext der teilnehmenden Beobachtungen und Gruppengespräche von unserer Seite nicht explizit gemacht. Im Kontakt mit den Kindern kommen Kinderbücher, Bilder und Handpuppen zum Einsatz, die religiöse Symbole, wie bspw. eine Synagoge, einen Davidsstern oder eine Kippa zeigen bzw. tragen. In den Gruppengesprächen werden die Kinder zunächst aufgefordert zu beschreiben, was sie sehen. Erst auf dieser Grundlage werden sodann Gespräche initiiert. Mit diesem Vorgehen soll einerseits erreicht werden, dass Aussagen und Handlungen nicht durch eine direkte Konfrontation mit dem Forschungsthema hervorgelockt werden, sondern dass es vielmehr den Kindern überlassen bleibt, welche Assoziationen die präsentierten Materialien bei ihnen hervorrufen. Andererseits soll damit berücksichtigt werden, dass eine zu starke thematische Setzung eine Reifizierung von Differenz begünstigt (vgl. Diehm/Kuhn/Machold 2010).

Wird Judenfeindschaft offensiv thematisiert, so kann das bedeuten, die Kinder aus einer Erwachsenenperspektive mit etwas zu konfrontieren, dass sie selbst noch gar nicht kennen bzw. dessen Bedeutung ihnen noch gar nicht bewusst ist. Es geht uns darum, antisemitischen Differenzkonstruktionen unter Kindern nachzuspüren und dabei zu reflektieren, dass dieses Nachspüren-Wollen selbst Differenz(ierung)en hervorbringt. Die Arbeit mit den genannten Materialien bietet eine Möglichkeit, von den Vorstellungen der Kinder ausgehend den Forscher:innenblick auf entsprechende Unterscheidungen zu richten.

Was sind bisherige Ergebnisse?

Eine erste Durchsicht der leitfadengestützten Interviews fördert zutage, dass pädagogische Fachkräfte, Kitaleitungen und Eltern das Thema ‚Antisemitismus‘ prinzipiell nicht im Kitakontext verorten und entsprechend auch nicht über judenfeindliche Vorkommnisse in der Kita berichten. Neben Aussagen, die darauf hinweisen, dass Antisemitismus unter jungen Kindern kaum bis gar nicht vorstellbar ist („Kinder grenzen noch nicht so aus; Kinder sind eher offen“) bzw. schlichtweg nicht vorkommt („Gar nicht. Also, da habe ich nichts von gehört“; „Ist überhaupt kein Thema hier“; „Ne, fällt mir jetzt direkt nicht ein“) lassen sich Bemerkungen finden, die die Abwesenheit judenfeindlicher Vorkommnisse an das vermeintlich fehlende Vorhandensein jüdischer Kinder knüpfen („Jüdische Kinder haben wir glaube ich gar nicht“).

Dabei fällt auf, dass viele der Interviewten nicht sicher sagen können, ob es überhaupt jüdische Kinder in der jeweiligen Einrichtung gibt. Hier lässt sich Unsichtbarkeit auf Seiten der Kinder und Unsicherheit auf Seiten der Erwachsenen feststellen. Während die Vorstellung, dass Antisemitismus in der Kita aufgrund des jungen Alters der Kinder nicht vorkäme, auf den Topos des ‚unschuldigen Kindes‘ (vgl. Bühler-Niederberger 2005) verweist, kann die gängige Praktik, Judenfeindschaft an jüdische Präsenz zu binden, auf fehlendes Wissen über Antisemitismus zurückgeführt werden.[7] Ohne an dieser Stelle genauer auf die Ergebnisse eingehen zu können, kann in Bezug auf die Frage, wie Antisemitismus im Kitakontext von Seiten der Erwachsenen thematisiert wird, von einer ‚Dethematisierung‘ gesprochen werden. Die überwiegende Zahl der Interviewten geht davon aus, dass Kinder weder über antisemitisches Wissen verfügen, noch dass Judenfeindschaft in der Kita vorkommt.

Dies steht in einem eklatanten Widerspruch zu den Erkenntnissen, die wir während der teilnehmenden Beobachtungen und Gruppengespräche unter den Kindern gemacht haben. So hat sich gezeigt, dass bereits junge Kinder Jüdinnen und Juden als solche identifizieren und in einzelnen Fällen mit Begriffen beschreiben, die antisemitischen Wissensordnungen entstammen. In der Auseinandersetzung mit den Kinderbüchern, Bildern und Handpuppen sind Jüdinnen und Juden von manchen Kindern als ‚reich‘, ‚wohlhabend‘ und ‚böse‘ adressiert worden. Auch phänotypische Merkmale, wie bspw. die Zuschreibung einer ‚großen Nase‘, wurden benannt.

Dabei ist es wichtig hervorzuheben, dass die Kinder die von ihnen getätigten Aussagen i.d.R. nicht begründen können und offenbar nur über wenig bis gar kein Kontextwissen verfügen. So inkonsistent und unvermittelt, wie die Aussagen kommen, so sprunghaft und aus dem Zusammenhang gerissen erscheint die Argumentation. Einen siebenjährigen Jungen gefragt, woher er wisse, dass Jüdinnen und Juden „ekelhaft“ und „gefährlich“ seien, gibt uns dieser zur Antwort: „ich weiß es selbst einfach. Ich hab nur nachgedacht“. Junge Kinder verfügen noch nicht über ein gefestigtes weltanschauliches Repertoire, auf das sie bewusst zurückgreifen. Sie sprechen aus, was ihnen in den Sinn kommt, was ihnen in der jeweiligen Situation nutzt, womit sie Aufmerksamkeit erregen und zeigen können, was sie wissen. Obgleich sie die Herkunft und Bedeutung einer getätigten Aussage nicht immer erklären können, verstehen sie doch sehr gut, dass ihr Handeln etwas bewirkt.

Was kann das für die pädagogische Praxis bedeuten?

Das vorgestellte Forschungsprojekt untersucht Antisemitismus in Einrichtungen der frühen Kindheit und stößt damit in eine sowohl in der Antisemitismusforschung als auch der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung klaffende Forschungslücke vor. Die bisherigen empirischen Erkenntnisse verweisen auf eine Dethematisierung von Antisemitismus im Kitakontext, die in deutlichem Widerspruch zu den im Feld beobachteten kindlichen Praktiken des Unterscheidens stehen. Antisemitische Wissensordnungen werden von Kindern in der Kita (re)produziert und angewandt. Mit Blick auf die pädagogische Praxis stellen sich u.E. damit folgende Fragen:

  • Inwiefern handelt es sich bzgl. der genannten Dethematisierung um ein strukturelles Problem, das auf fehlende Professionalisierungsformate und institutionelle Mechanismen zurückzuführen ist? Nur wenn über das individuelle Engagement einzelner Pädagog:innen hinaus auch auf institutioneller Ebene durchdringt, dass Judenfeindschaft bereits in der frühen Kindheit virulent ist, können weitreichende Maßnahmen ergriffen werden, die Antisemitismusprävention in Einrichtungen der frühen Kindheit fördern.
  • Wie lässt sich mit antisemitischen Differenzierungspraktiken unter jungen Kindern adäquat umgehen, wenn sie die inhaltliche Tragweite ihres Handelns noch nicht begreifen? Genauer gefragt: Wie kann mit jungen Kindern über Antisemitismus auf eine Weise gesprochen werden, die (be)schützt, erklärtund wenn nötig auch deutliche Grenzen aufzeigt?

Mit unserem Forschungsprojekt hoffen wir nicht zuletzt dazu beizutragen, dass diese und weitere Fragen Eingang in die pädagogische Praxis finden.

Literatur

Bak, R., Machold, C. (2022): Kindheit und Kindheitsforschung intersektional denken. Eine Suchbewegung. In: R. Bak & C. Machold (Hrsg.): Kindheit und Kindheitsforschung intersektional denken. Theoretische, empirische und praktische Zugänge im Kontext von Bildung und Erziehung. Wiesbaden: Springer VS, S. 1-19.

Bernstein, J. (2020): Antisemitismus an Schulen in Deutschland: Befunde – Analysen – Handlungsoptionen. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Bernstein, J., Grimm, M., Müller, S. (Hrsg.) (2022): Schule als Spiegel der Gesellschaft. Antisemitismen erkennen und handeln. Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag.

Bühler-Niederberger, D. (Hrsg.) (2005): Macht der Unschuld: Das Kind als Chiffre. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Diehm, I., Kuhn, M., Machold, C. (2010): Die Schwierigkeit, ethnische Differenz durch Forschung nicht zu reifizieren – Ethnographie im Kindergarten. In: A. Panagiotopoulou & F. Heinzel (Hrsg.): Qualitative Bildungsforschung im Elementar- und Primarbereich. Bedingungen und Kontexte kindlicher Lern- und Entwicklungsprozesse. Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 78-92.

Diehm, I., Radtke, F.-O. (1999): Erziehung und Migration. Eine Einführung. Stuttgart. Kohlhammer.

Fried, L., Dippelhofer-Stiem, B., Honig, M.-S., Liegle, L. (2003): Einleitung. In: L. Fried, B. Dippelhofer-Stiem, M.-S. Honig & L. Liegle (Hrsg.): Einführung in die Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim, Basel & Berlin: Beltz, S. 7-13.

Grimm, M., Müller, S. (Hrsg.) (2020): Bildung gegen Antisemitismus. Spannungsfelder der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag.

Holz, K., Haury, T. (2021): Antisemitismus gegen Israel. Hamburg: Hamburger Edition.

Kölsch-Bunzen, N. (2023): Kindertageseinrichtungen gegen Antisemitismus. Aus guten Geschichten lernen. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Kölsch-Bunzen, N. (2022): Gut aufgestellt gegen Antisemitismus? Die Förderung von Antisemitismusprävention in Kindertagesstätten und Schulen durch Kinderbibeln, Kinderkorane und Schulbücher. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Kuhn, M. (2013): Professionalität im Kindergarten. Eine ethnographische Studie zur Elementarpädagogik in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS.

Lendvai, P (1972): Antisemitismus ohne Juden. Entwicklungen und Tendenzen in Osteuropa. Wien. Europaverlag.

Machold, C. (2015): Kinder und Differenz. Eine ethnografische Studie im elementarpädagogischen Kontext. Wiesbaden: Springer VS.

Rensch-Kruse, B., Cheema, S.-N., Goldhorn, Y., Diehm, I. (2023): Antisemitismus unter jungen Kindern. Forschungsgrundlagen und -reflexionen im Kontext einer Differenzforschung in Einrichtungen der frühen Kindheit. In: E. Ilgün-Birhimeoğlu & S. Bostancı (Hrsg.): Elementarpädagogik in der Migrationsgesellschaft. Theoretische und empirische Zugänge zu einer rassismuskritischen Pädagogik. Weinheim & Basel: Beltz Juventa. i.E.

Reckwitz, A. (2012): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.


[1] Das Teilprojekt ist eines von drei Teilprojekten des vom BMBF geförderten Verbundprojekts ‚Antisemitismus in pädagogischen Kontexten. Religiös codierte Differenzkonstruktionen in der frühen und mittleren Kindheit (RelcoDiff)‘. Genauere Infos unter www.relcodiff.uni-frankfurt.de

[2] Ohne den Begriff und seine unterschiedlichen Definitionen und Ausprägungen an dieser Stelle eingehend diskutieren zu können, verstehen wir unter ‚Antisemitismus‘ eine Sammelbezeichnung für Diskurse und Praktiken, die als ‚Juden‘ bzw. ‚jüdisch‘ wahrgenommene Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen aufgrund eines mit bestimmten negativen Eigenschaften festgeschriebenen ‚jüdisch-Seins‘ abwerten und/oder anfeinden.

[3] ‚Wissensordnungen‘ werden im Anschluss an Andreas Reckwitz (2012, S. 146) als kollektive „Sinnmuster“ verstanden, die „das ‚Verstehen‘ der Umwelt und Welt anleiten“.

[4] Wir forschen in insgesamt vier Kindertagesstätten einer deutschen Großstadt.

[5] Wir sprechen bewusst nicht von Gruppendiskussionen, weil unter den Kindern zumeist kein wechselseitiger Austausch von Argumenten über ein bestimmtes Thema stattfindet, sondern ein offener mitunter sprunghafter Gedankenaustausch, in den die Forscher:innen nolens volens involviert sind, und der durch (Nach-)Fragen, Erklärungen, Behauptungen, inhaltliche Abschweifungen und kindliche Impulsivität gekennzeichnet ist.

[6] Bisher haben wir 19 Interviews geführt.

[7] Paul Lendvai (1972) hat bereits Anfang der 1970er Jahre auf das Phänomen eines „Antisemitismus ohne Juden“ aufmerksam gemacht.

„Ich spüre, dass diese Beobachtung eigene biografische Erlebnisse hervorruft…“ (Auto)Ethnografische Reflexionspotenziale am Beispiel neu-materialistischer Kindheitsforschung zu Akteur:innenschaft und Partizipation

| Jan-Niclas Peeters |

Einleitung

Verbunden mit dem Anliegen einer Exploration frühpädagogischer Felder konstatiert Neumann (2013) bereits vor einem Jahrzehnt einen Bedeutungszuwachs ethnografischer Zugänge innerhalb der Kindheitsforschung. Konstitutives Merkmal der Ethnografie ist das (teilnehmende) Forschen am ‚Ort des Geschehens‘, ebenjenen sogenannten Feldern. Frühpädagogische Felder wie Kindertageseinrichtungen werden in den entsprechenden Studien zunehmend aber nicht nur als Ort der Forschung, sondern zugleich als deren Gegenstand definiert (exemplarisch Göbel, 2018). Die von Neumann (2013) einst aufgeworfene Frage, „[w]enn ethnografische Forschung im Feld der Frühpädagogik beobachtet, macht sie es dann auch zum Gegenstand?“ (S.12; Herv. i. Orig.), behält jedoch ihre Relevanz. Denn ungeachtet einer Betrachtung des Feldes ‚Kindertageseinrichtung‘ als Gegenstand impliziert dies die weitergehende Frage: Inwiefern macht sie es dann auch zum Gegenstand?

Bailey (2020) folgend zeigt sich das Feld eng mit sozialen (z.B. durch Interaktionen) bzw. materiellen Praktiken (z.B. durch die Nutzung von Gegenständen) verwoben. Mit dem Entstehen von Praktiken im Feld als Ort gestaltet sich dieses zugleich und wird somit veränderlich hervorgebracht. Damit scheint ein Verständnis vom Feld als ausschließlicher Ort von Forschung also auch dann verkürzt, wenn ein scheinbar feldunabhängiges Gegenstandsinteresse vorausgesetzt wird. Vielmehr tritt das jeweilige Feld als Gegenstand immer schon dadurch in Erscheinung, da es eben nicht nur als Produzentin, sondern zugleich als Produkt sozialer bzw. materieller Praktiken verstanden werden kann. Fokussiert man auf die an den Praktiken beteiligten Akteur:innen, so muss explizit auch die Rolle von Forschenden in den Blick genommen werden – auch sie bewegen sich im Feld.

Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Beitrag im Spezifischen für die Konstitution des Feldes Kindertageseinrichtung durch die (eigene) Rolle als Forscher:in sensibilisieren. Zwar hat Clifford Geertz bereits um 1970 im Rahmen der sogenannten Krise der ethnografischen Repräsentation auf die Involviertheit von Forschenden in der ethnografischen Wissensproduktion aufmerksam gemacht (Gottowik, 1997). Doch gleichwohl dies inzwischen als ethnografisches Selbstverständnis bezeichnet werden kann, beschreibt Anderson (2006) die anhaltende „tendency to downplay or obscure the researcher as a social actor in the settings or groups“ (p. 376). Anstelle dieses Herunterspielens und Verschleierns des Einflusses von Forschenden als Akteur:innen lässt sich vielmehr vergegenwärtigen, dass das von Forscher:innen hervorgebrachte Wissen „is situated by what they ‚see‘ in the field, which in turn is situated by what they ‚look‘ for and/or are given ‚access‘ to“ (Bailey, 2020, p. 734). Das Bewusstsein um ein durch Zugang und eigener Perspektive selektives Wissen gewinnt gerade auch dann an Bedeutung, wenn verschiedentlich Befremdungsstrategien in der Hinwendung zum ‚Eigenen‘ unter dem Aspekt einer Objektivierung diskutiert werden (exemplarisch Kuhn & Neumann, 2015). Damit verdichten sich die bisherigen Darlegungen in der für diesen Beitrag zentralen Frage: Inwiefern und mit welchen Implikationen sind Forschende als Akteur:innen in die Konstitution des Feldes involviert?

Was will das Projekt/ Was ist das Phänomen?

Entlang der thematischen Fokussierung des seit 2021 laufenden Dissertationsprojekts „Partizipation als un-bestimmtes Phänomen“[1] hat sich beim Forschenden eine zunehmende Sensibilisierung für das Thema von Involviertheit eingestellt. Zuvorderst ursächlich hierfür ist der inhaltliche Rekurs auf das um 1980 im Kontext der New Social Childhood Studies (NSCS)entstandene und bis heute wirkmächtige Paradigma von Kindern als kompetente Akteur:innen (Mierendorff, 2018). Dieses Paradigma verleiht sich im Rahmen frühpädagogischer Theorie und Praxis deutlich im Partizipationsbegriff Ausdruck und misst Involviertheit damit zentrale Bedeutung bei (König, 2021). Kritisch blickt das Dissertationsprojekt dabei auf eine entlang der NSCS aufgerufenen Heuristik, die als eine Art vereinfachter Denkansatz selbstreferenziell die romantisierende Vorstellung eines a priori kompetenten Kindes (re-)produziert. Durch eine derart vorgefasste Annahme kann übersehen werden, inwiefern und durch wen oder was die im Partizipationsbegriff verankerte Involviertheit als Akteur:in in situ hervorgebracht wird (Balzer & Huf, 2019). Weiterhin berücksichtigt werden empirische Befunde, die überdies bereits eine in Bezug auf Partizipation häufig vorzufindende Engführung auf formalisierte Verfahren wie Kinderparlamente oder Abstimmungsverfahren kritisieren (Höke, 2016;  Neumann et al., 2019). Somit wird insgesamt eine vorgefasste Fokussierung auf ‚das kompetente Kind‘ sowie ein vermeintliches Wissen über spezifische Partizipationskontexte kritisch hinterfragt. In diesem Zusammenhang verschreibt sich das Dissertationsprojekt der Forderung einer Dezentrierung des Kindes innerhalb der Kindheitsforschung (Spyrou, 2018) und perspektiviert dies auf der Grundlage posthumanistischer Theorieangebote des sogenannten Neuen Materialismus. Unter Rückgriff auf die wohl prominenteste Vertreterin des Neuen Materialismus, Karen Barad (2007), wird Partizipation demnach als zunächst unbestimmtes Phänomen verstanden, das erst im Rahmen sogenannter Intra-aktionen materiell-diskursiver Praktiken partielle Bestimmtheit erlangt. Im Gegensatz zur Interaktion sind Akteur:innen im Rahmen der Intra-Aktionen nicht prädeterminiert; wer oder was als Subjekt bzw. Objekt involviert wird, (re-)konstituiert sich also erst im Geschehen selbst (Garske, 2014). Hinsichtlich der Frage nach Akteur:innenschaft und Involviertheit wird damit einerseits eine anthropozentrische Ontologie, die den Menschen in den Mittelpunkt des Seins stellt und die Umwelt vernachlässigt, grundlegend in Frage gestellt. Anerkannt wird stattdessen eine Lebendigkeit der ‚Dinge‘ (Tesar & Arndt, 2016), die in der Verbindung mit Kindern, aber auch für sich genommen, einen Subjektstatus einnehmen können. Die sich darin widerspiegelnde posthumanistische[2] Grundannahme einer aktiven ‚Welt‘, bei der Grenzen zwischen humanen und nicht-humanen Entitäten wie Menschen und Dingen fluide erscheinen, hat andererseits relevante Konsequenzen auf die einleitend gestellte zentrale Frage, inwiefern und mit welchen Implikationen auch Forschende selbst als Akteur:innen in die Konstitution des Feldes involviert sind. Barad (2007) folgend können Forschende nicht als neutrale Instanz einer vermeintlich objektiv zugänglichen und außerhalbliegenden Welt verstanden werden. Im Gegenteil: sie sind selbst Teil der Welt, die sie beforschen und somit aktiv an der Hervorbringung dieser bzw. das ‚Wissen‘ über sie beteiligt. Ontologische Fragestellungen, die die Frage nach dem ‚Seienden‘ stellen, sowie epistemologische Fragestellungen, die sich mit dem Aspekt der diesbezüglichen Wissensproduktion befassen, sind in diesem Sinne untrennbar miteinander verwoben. Forschende sind dabei nicht nur gefordert, die Art und Weise, wie sie in die Wissensproduktion involviert sind, permanent zu reflektieren. Vielmehr geht es in diesem Verständnis um eine produktive Wendung, bei der die eigene Involviertheit ebenso einer analytischen Betrachtung unterliegt.

Wie bin ich vorgegangen?

Als methodologische[3] ‚Antwort‘ auf die zur Involviertheit skizzierten Implikationen wurde sich der sogenannten Analytischen (Auto)Ethnografie (AAE) nach Anderson (2006) angeschlossen. Die Umsetzung fordert die Berücksichtigung fünf sogenannter „key features“ (p. 378) ein: Grundvoraussetzung ist (1) die Akzeptanz, dass Forscher:innen selbst Teil des von ihnen beforschten Feldes sind. Eine Fokussierung auf die eigene Person sowie das übrige Geschehen ist daher im gesamten Forschungsprozess angezeigt. Beidem möglichst gerecht zu werden, kann aber nur dann gelingen, wenn (2) eine analytische Reflexivität eingenommen wird, vor deren Hintergrund die (eigenen) komplexen Verstrickungen im Beobachtungsprozess sowie die daraus resultierenden Forschungsdaten betrachtet werden. Ein solches Bewusstsein allein reicht allerdings nicht aus. Vielmehr bedarf es (3) einer Sichtbarkeit von Forschenden in den zugehörigen Dokumenten. Im Rahmen des Dissertationsprojektes werden daher auch Beobachtungen, die auf den Forschenden rekurrieren, in Form von Feldnotizen, dichten Beschreibungen sowie der Berichtlegung analytisch aufgenommen und expliziert. Entgegen einer Überbetonung der eigenen Person gilt dabei (4) der Anspruch, das Feld in seiner Gesamtheit nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn auch wenn Forschende involviert sind, sind sie eben nur ein Teil des Feldes. Eine (5) Verpflichtung zu einer analytischen Agenda soll schließlich sicherstellen, dass diese Balance auch vor dem Hintergrund der Forschungsfrage gewahrt bleibt und die so gewonnen Forschungsdaten zielorientiert analysiert werden können.

Zur konkreten Veranschaulichung dieser Perspektive wird exemplarisch eine kurze Beobachtungssequenz aus einer Kindertageseinrichtung präsentiert, die im Rahmen einer ersten Feldphase (August-Oktober 2022) in Anlehnung an Anderson (2006) qua teilnehmender Beobachtung erhoben sowie mit Blick auf die unter Punkt (5) benannte analytische Agenda im Zusammenspiel mit der konstruktivistischen Grounded Theory nach Charmaz (2014) analysiert wurde.

Was ist das Ergebnis?

Die nachfolgende Sequenz hat sich während einer Freispielphase im Außenbereich der Kindertageseinrichtung zugetragen. Der Forschende richtet seine Aufmerksamkeit auf sechs beieinanderstehende sowie ein leicht abseitsstehendes Kind und versucht, die Bedeutung der beobachteten Positionierungen der Kinder zu ergründen.

Ich denke darüber nach, dass mir Marius schon häufiger in einer eher abseitigen Position aufgefallen ist, wenngleich er sich immer wieder aktiv in etwaige (Gruppen)Geschehen einzubringen versucht. Ich spüre, dass diese Beobachtung eigene biografische Erlebnisse hervorruft und sich eine Art Solidarisierungsempfinden gegenüber Marius einstellt. Ich schaue Marius genauer an. Sein Blick ist in Richtung der anderen Kinder gerichtet, die einen Kreis bilden, der in Richtung Marius leicht geöffnet ist. Erst in diesem direkten Vergleich fällt mir auf, dass alle unmittelbar im Kreis befindlichen Kinder einen Stock in der Hand halten, während Marius selbst keinen Stock in der Hand hält.

Mit der gedanklichen Fokussierung auf die abseitige Position von Marius wird dieser nicht nur im lokalen Geschehen, sondern auch im analytischen Zugriff durch den Forschenden separiert von jeweils unterschiedlichen Kindergruppen verortet. Dies kann insofern als eine zweifache Exklusivität beschrieben werden, als sich hier einerseits eine Ausgrenzung von Marius gegenüber den „anderen Kinder[n]“ manifestiert, Marius jedoch andererseits zugleich eine besondere Aufmerksamkeit des Forschenden zu Teil wird. Der Ursprung dieser Aufmerksamkeit hängt augenscheinlich mit der retrospektiven Einordnung der Kind(er)positionierungen zusammen. Dass der Forschende die gegenüber anderen Kindern separierte Positionierung von Marius bereits „häufiger“ wahrgenommen hat, verweist dabei auf ein iteratives, also sich wiederholendes Geschehen, das sich unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen auch dann einzustellen scheint, wenn Marius sich aktiv gegen die separierende Positionierung wendet und um Partizipation bemüht. Die dichte Beschreibung offenbart, dass der Forschende die Beobachtungen um Marius mit eigenen biografischen Erlebnissen verknüpft. Zwar werden die Evokationen im Sinne eines bewussten Hervorrufens von Erinnerungen mit Ausnahme des Solidarisierungsaspektes nicht weiter expliziert, doch lässt allein ihr bewusstes Aufkommen und die nachhaltige Materialisierung im Rahmen der dichten Beschreibung eine besondere Bedeutung des Geschehens für den Forschenden annehmen. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus plausibel, dass die Aufmerksamkeit für die Positionierung von Marius und den mithin involvierten Kindern in dieser sowie in den erinnerten Situationen ursprünglich nicht allein in den Beobachtungen vor Ort liegt. Weitergehend scheint sie auch in der spezifischen Biografie des Forschenden begründet zu sein. Die einleitend benannte Konstitution des Feldes kann demnach nicht nur allgemein mit der Involviertheit des Forschenden in situ gefasst werden. Konkreter erweitert sich das Feld in seiner vermeintlich räumlich-zeitlichen Begrenzung auf die (Beobachtung in der) Kita um die (zurückliegende) Lebenswelt des Forschenden. Gegenstandsbezogen führt die daraus resultierende Aufmerksamkeit für das Geschehen schließlich zu einer konzentrierten und vergleichenden Betrachtung der beschriebenen Kind(er)positionierungen. Bei dieser rückt über die Kinder hinaus auch ein Besitz von Stöcken in den Fokus. Die dadurch wahrgenommenen materiellen Bezugnahmen, ließen sich sich im weiteren Verlauf des Forschungsprojektes immer wieder beobachten. Mit Blick auf das Forschungsinteresse konnten sie schließlich zu der vorläufigen Kategorie einer „Partizipation durch (nicht-)humane Verschränkungen“ verdichtet werden.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Mit der AAE wurde sich um die von Anderson (2006) postulierte Anerkennung von Forschenden als involvierte Akteur:innen in der Konstitution des Feldes bemüht. Die exemplarisch dargestellte biografisch begründete Fokussierung des Forschenden veranschaulicht, dass das, was wir beobachten, eng mit der betrachtenden Person in Verbindung steht (Bailey, 2020). Allgemeiner formuliert lässt sich somit nicht nur für die Forschung, sondern auch für die pädagogische Praxis bzw. die in ihr tätigen Fachkräfte für eine reflexive Anerkennung der eigenen Involviertheit plädieren. Am dargestellten Beispiel kann zwar kritisch angemerkt werden, dass die Beobachtung um die Stöcke und die damit thematisierte Dezentrierung des Kindes (Spyrou, 2018) im Sinne einer „Partizipation durch (nicht-)humane Verschränkungen“ etwaig auch ohne eine Auseinandersetzung mit der Fokussierung auf die eigene Person entstanden wäre. Doch gerade diese Auseinandersetzung hält Antworten auf weitergehende Fragen zum eingangs aufgerufenen Aspekt, inwiefern und mit welchen Implikationen Forschende als Akteur:innen das Feld konstituieren, bereit: Wen oder was (und warum) nehme ich insbesondere wahr? Wer oder was (und warum) gerät weniger bzw. gar nicht in meinen Blick? Welche Perspektivveränderungen kann ich vornehmen und zulassen? Kurzum: Es geht um ebenjene produktive Wendung einer immer schon subjektiven Involviertheit als (forschende:r) Akteur:in in die Konstitution des Feldes.

Zwei abschließende Gedanken zu Limitationen und Weiterentwicklung:

  • Auch wenn sich in der geforderten Reflexivität der AAE gerade nicht der Anspruch einer vermeintlichen Objektivierung ausdrückt, wird Reflexivität nicht selten damit verbunden. Dies aufgreifend schlägt Barad (2007) stattdessen den Begriff der Diffraktion vor und konzeptualisiert ihn im Sinne der AAE als eine bewusste Anerkennung der jeweils unterschiedlichen Involviertheit. So gewendet wird das Ziel einer Authentizität – statt Objektivität – des Wissens über die pädagogische Praxis ggf. unmissverständlicher zum Ausdruck gebracht.
  • Trotz aller Reflexion/ Diffraktion werden blinde Flecken verbleiben. Die kurze Sequenz zeigt, dass dies auch dann gelten kann, wenn die eigene Involviertheit (an)erkannt wird. So hat der Forschende nur andeutungsweise auf eigene Ausgrenzungserfahrungen rekurriert. Die fehlende Explikation verweist auf die herausfordernde Frage, was Forschende selbst von sich preisgeben wollen. Relativierend hat das Beispiel jedoch gezeigt, dass sich der produktive Einfluss bereits bei einer geringen Preisgabe ergeben kann.

Relevant erscheint vor diesem Hintergrund vor allem eine Haltung, bei der die eigene subjektive Involviertheit überhaupt anerkannt und ernstgenommen wird.

Literatur

Anderson, L. (2006). Analytic Autoethnography. Journal of Contemporary Ethnography, 35 (4), 373-395. https://doi.org/10.1177/0891241605280449

Bailey, S. (2020). Ethnography. In D. Cook (Hrsg.), The sage encyclopedia of children and      childhood studies (S. 734-735). London: SAGE Publications.

Balzer, N., Huf, C. (2019). Kindheitsforschung und ›Neuer Materialismus‹. In J. Drerup & G.     Schweiger (Hrsg.), Handbuch Philosophie der Kindheit (S. 50-58). Stuttgart: J.B. Metzler.

Barad, K. (2007). Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham: Duke University Press.

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Göbel, S. (2018). Alltagspraktiken in Kindertageseinrichtungen. Wiesbaden: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22916-0

Gottowick, V. (1997). Konstruktionen des Anderen. Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Repräsentation. Berlin: Dietrich Reimer.

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König, A. (2021). Kinderrechte. Historische Ansatzpunkte und aktuelle Diskurse. Eine pädagogische Reflexion. In Pestalozzi-Fröbel-Verband (Hrsg.), Wir haben Rechte! Ein Blick auf Kinderrechte, Partizipation und Demokratie in der Kita (S. 9-15). Weimar: Verlag das Netz.

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Neumann, S. (2013). Unter Beobachtung. Ethnografische Forschung im frühpädagogischen    Feld. ZSE – Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 33 (1), 10-25.

Neumann, S., Kuhn, M., Hekel, N., Brandenberg, K. & Tinguely, L. (2019). Der institutionelle Sinn der Partizipation. Befunde einer ethnografischen Studie in schweizerischen Kindertageseinrichtungen. In A. Sieber Egger, G. Unterweger, M. Jäger, M. Kuhn & J. Hangartner (Hrsg.), Kindheit(en) in formalen, nonformalen und informellen Bildungskontexten. Ethnografische Beiträge aus der Schweiz (S. 321-342). Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23238-2_16

Spyrou, S. (2018). Disclosing Childhoods. Research and Knowledge Production for a            Critical            Childhood Studies. London: Palgrave Macmillan.

Tesar, M. & Arndt, S. (2016). Vibrancy of Childhood Things. Cultural Studies ↔ Critical             Methodologies, 16(2), 193-200. https://doi.org/10.1177/1532708616636144


[1] Vollständiger Titel des Dissertationsprojekt: „Partizipation als un-bestimmtes Phänomen“ –(Auto)Ethnografische Befunde zur Re-Konstitution von Akteur:innenschaft durch materiell-diskursive Intra-aktionen“

[2] Posthumanistische Perspektiven bemühen sich um eine Überwindung traditioneller Vorstellungen von Menschlichkeit und sensibilisieren für eine Fluidität vermeintlicher Grenzen zwischen menschlichen und nicht menschlichen Elementen.

[3] Der Begriff Methodologie bezieht sich auf die systematische Vorgehensweise und die Grundsätze, die bei der Durchführung von wissenschaftlichen oder analytischen Untersuchungen verwendet werden.

Sprach(en)bewusste Pädagogik in Kindertageseinrichtungen unter Berücksichtigung geflüchteter Kinder aus der Ukraine

| Elisa Tessmer |

Einleitung

Das Thema der alltagsintegrierten Sprach(en)bildung in Kindertageseinrichtungen hat in den letzten fünfzehn Jahren einen bedeutenden Relevanzzuwachs erfahren. Dieser zeigt sich unter anderem durch hohe Investitionen aus der Politik sowie einem höheren Stellenwert in den Bildungs- und Orientierungsplänen, die eine Grundlage für die pädagogische Arbeit schaffen. Die spezifischen Bedürfnisse geflüchteter Kinder sind seit 2015 zunehmend in die Diskussion eingeflossen. Durch die aktuelle Zuwanderung ukrainischer Geflüchteter müssen die damit einhergehenden spezifischen Bedürfnisse der Kinder sowie die Anforderungen für die pädagogische Arbeit neu gedacht werden. Dabei stehen die professionellen Ansprüche aktuell in einem Spannungsfeld zu den ohnehin schon angespannten Arbeitsbedingungen, die insbesondere durch einen hohen Fachkräftemangel bei zugleich steigenden Erwartungen an die pädagogischen Fachkräfte bestimmt sind.

Das Phänomen: Monolingualer Habitus als bestehendes Element pädagogischer Haltungen

Eine Fokussierung des Erwerbs sowie der Kompetenzerweiterung der deutschen Sprache ist innerhalb des Kita- und Schulsystems nach wie vor vorzufinden. Gogolin (2008) und Dirim (1998) kritisieren diese Sichtweise, die im Kontext der Kindertageseinrichtungen insbesondere durch das Konzept der Schulfähigkeit getragen wird, mit der Bezeichnung des ‚monilingualen Habitus‘. Dem gegenüber steht die Perspektive, eine vorhandene Mehrsprachigkeit als besondere Ressource wahrzunehmen und zu unterstützen (vgl. u. a. Fleckenstein et al. 2017, S. 97ff.; Roth 2006, S. 11ff.).

Seit Kriegsbeginn befinden sich über 20 Millionen ukrainische Menschen auf der Flucht, von denen im Jahr 2022 über eine Millionen Zugänge in Deutschland registriert wurden (vgl. destatis 2023). Die Anzahl ukrainisch geflüchteter Kinder in Kindertageseinrichtungen ist nicht systematisch erhoben. Der Anteil der Säuglinge und Kleinkinder ist jedoch verhältnismäßig hoch und nach der Zuweisung zu einer Kommune besteht ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ein Rechtsanspruch auf Betreuung (vgl. Deutscher Bildungsserver 2022), sodass hieraus ein hoher Bedarf abgeleitet werden kann. Dieser Effekt verstärkt die ohnehin bestehende Heterogenität im Kitaalltag. Der prozentuale Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund lag in den Kindertageseinrichtungen vor Kriegsbeginn bereits bei knapp 30 % (vgl. bpb 2021). An dieser Stelle sei explizit darauf hingewiesen, dass zwischen einem Migrationshintergrund und einem sprachlichen Förderbedarf kein kausaler Zusammenhang hergestellt werden darf. Insbesondere Kinder mit nur einem ausländischen Elternteil, die multilingual erzogen werden, können von dem Beherrschen mehrerer Sprachen profitieren und daher äußerst sprachbegabt sein. Der Anteil der Kinder, die im Elternhaus kein Deutsch sprechen, nimmt jedoch zu und bei diesen Kindern ist häufig von einem besonderen sprachlichen Unterstützungsbedarf auszugehen, da die Sprachkontakte zur deutschen Sprache bis zum Eintritt in die Kindertageseinrichtung in diesem Fall als gering einzuschätzen sind.

Die damit verbundenen steigenden Anforderungen an Fachkräfte treffen auf zunehmende qualitative Forderungen an die pädagogische Arbeit sowie einen kontinuierlich steigenden Fachkräftemangel. Dieser ist im Feld der Elementarpädagogik im Wesentlichen bestimmt durch eine sukzessive Ausweitung des Rechtsanspruches auf frühkindliche Betreuung, steigenden Geburtenraten in den letzten Jahren und eine Ausweitung der Ganztagsbetreuung auch im Bereich der Primarstufe (vgl. u.a. Bock-Famulla et al. 2020, S. 7ff.).

Wie wurde das Phänomen untersucht?

Im Rahmen eines Dissertationsprojektes wurden pädagogische Fachkräfte mithilfe eines Fragebogens sowie anhand von Gruppendiskussionen zum Thema der alltagsintegrierten Sprach(en)bildung befragt. Die Erhebung mittels Fragebogen fand im Jahr 2016 statt. Hierzu wurden Fragebögen in Printform an niedersächsische Kindertageseinrichtungen verteilt. Die Kontaktaufnahme erfolgte per E-Mail sowie über den Kontakt von Supervisorinnen. Insgesamt beteiligten sich 345 pädagogische Fachkräfte aus 90 Kindertageseinrichtungen. Die Rücklaufquote lag damit bei 44,8 %. Von den teilnehmenden Einrichtungen beteiligten sich wiederum neun Kindertagesstätten im Anschluss an Gruppendiskussionen, in denen insgesamt 50 pädagogische Fachkräfte involviert waren. Des Weiteren stellten pädagogische Fachkräfte aus drei Einrichtungen Videoaufnahmen zur Verfügung, die von ihnen für Supervisionszwecke angefertigt wurden (vgl. Tessmer 2021, S. 167ff.).

In den 90 befragten Einrichtungen wurden insgesamt 7.769 Kinder betreut. Zur damaligen Zeit waren hierunter 2,45% geflüchtete Kinder inkludiert. Es zeigte sich jedoch zwischen den Einrichtungen eine hohe Varianz – gut ein Drittel der Einrichtungen betreute zum Erhebungszeitpunkt keine Kinder mit Fluchterfahrung, einzelne Einrichtungen wiesen hingegen einen hohen Anteil an Kindern mit Fluchterfahrung auf. Bei den Kindern mit Migrationshintergrund ohne eigener Fluchterfahrung konnten Russisch (23,3%), Polnisch (14,9%) und Türkisch (14,0%) als meist gesprochene Erstsprachen konstatiert werden. Insgesamt wurden 31 unterschiedliche Erstsprachen aufgeführt, bei den Kindern mit Fluchterfahrung wurden 18 verschiedene Herkunftssprachen genannt (vgl. ebd. S. 173f.). Dieses Sample veranschaulicht damit beispielhaft den großen Sprachreichtum, der in Bildungsinstitutionen existiert und als Ressource genutzt werden kann.

Wie sind die Ergebnisse?

Obgleich einige Fachkräfte die Mehrsprachigkeit der Kinder positiv bewerten und teilweise explizit in den Alltag einbeziehen, existieren auch Ressentiments der pädagogischen Fachkräfte gegenüber des Gebrauchs anderer Erstsprachen als der deutschen Sprache, die insbesondere innerhalb durchgeführter Gruppeninterviews deutlich werden. Hierbei zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Erstsprachen, die zum Teil mit dem Konzept des Sprachprestige (vgl. u.a. Haarmann 1990) zu erklären sind. So wird beispielsweise ein Junge mit thailändischer Erstsprache als sehr motiviert beschrieben und die Schnelligkeit des Spracherwerbs der deutschen Sprache positiv hervorgehoben. Die geflüchteten Kinder werden von den pädagogischen Fachkräften innerhalb mehrerer Gruppeninterviews als sehr bemüht dargestellt, die deutsche Sprache zu erlernen und ihnen wird ein Verständnis für Verständigungsprobleme entgegengebracht. In der Kommunikation mit den Eltern wird dabei auf Übersetzungstools oder Ähnliches zurückgegriffen. Demnach greift das Konzept des Sprachprestige als Erklärungsmodell für die Haltungen der pädagogischen Fachkräfte an dieser Stelle nicht. In Studien zum Sprachprestige einzelner Sprachen konnte gezeigt werden, dass Sprachen wie Russisch, Arabisch und Türkisch als ‚eher unsympathisch‘ empfunden werden, im Vergleich zu Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch als ‚eher sympathische‘ Sprachen (vgl. Adler/Silveira 2021, S. 4). In den Gruppeninterviews waren hingegen vor allem die Kinder mit russischer oder polnischer Erstsprache mit Ressentiments konfrontiert. Mehrere Fachkräfte vermuten, dass die russische oder polnische Sprache von den Kindern bewusst verwendet wird, um beispielsweise Schimpfwörter zu äußern. Dieses Argument dient dabei teilweise auch für das Erteilen von Verboten, sich in anderen Erstsprachen als der deutschen Sprache zu unterhalten. Die negative Sichtweise begründet sich daraus, dass die Kinder in der deutschen Sprache ebenfalls über ausreichende Sprachkompetenzen verfügen, sodass sie sich in beiden Sprachen verständigen können. Dass das Code-Switching – also der Wechsel zwischen den unterschiedlichen Sprachen – jedoch ein normales Sprechverhalten bei mehrsprachigen Sprecher:innen darstellt und zum Teil unbewusst oder adressaten- bzw. themenorientiert erfolgt (vgl. u.a. Müller 2017), wird von den pädagogischen Fachkräften nicht gesehen. Das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen wären weitere pädagogische Argumente dafür, Kindertageseinrichtungen als mehrsprachigen Sprachraum zu gestalten, die insbesondere bei Kindern mit Fluchterfahrung von besonderer Bedeutung sind. Die Kinder werden damit zudem in ihrer Lebenswelt und mit ihren Erfahrungen ernstgenommen, was gleichzeitig positive Effekte auf die Beziehungsgestaltung haben kann.

Was kann das für die Praxis in Kindertageseinrichtungen bedeuten?

In mehreren Untersuchungen (vgl. u.a. Müller-Using/Speidel 2015; Wertfein/Wirts/Wildgruber 2015; Fried 2013) konnte gezeigt werden, dass sprachunterstützende Situationen, wie das Sustained Shared Thinking, innerhalb des pädagogischen Alltags verhältnismäßig selten vorkommen. Hierbei wird ein problemlösendes Denken und Weiterentwickeln forciert, welches von einer intensiven dialogischen Interaktion geprägt ist (vgl. Siraj-Blatchford et al. 2010, S. 21ff.). Die Interaktionen im pädagogischen Alltag sind hingegen häufig beeinflusst von Unterbrechungen sowie Störungen. Diese Tatsache wurde ebenfalls im Rahmen der Gruppeninterviews innerhalb des Dissertationsprojektes angeführt (vgl. Tessmer 2021, S. 206ff.). Ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, feste Bezugspersonen sowie möglichst störungsfreie Interaktionen sind Rahmenbedingungen, die bei geflüchteten Kindern von besonderer Relevanz sind. Für jene Formen bedarf es jedoch gleichwohl Rahmenbedingungen, die ein intensives Einlassen auf einzelne Kinder ermöglichen. Die aktuellen Rahmenbedingungen unter dem Einfluss des Fachkräftemangels machen es für pädagogische Fachkräfte immer schwieriger, jene unterstützenden Verhaltensweisen zu gestalten.

Die Datenerhebung innerhalb des Dissertationsvorhabens fand vor dem Ukrainekrieg statt. Hier zeigten sich deutliche Unterschiede in der Haltung der pädagogischen Fachkräfte zwischen geflüchteten Kindern und russisch oder polnischsprachigen Kindern. Daher kann keine valide Aussage darüber getroffen werden, inwieweit sich die Einstellungen der Fachkräfte diesbezüglich geändert haben. Dies betrifft vor allem die Vorbehalte gegenüber des Gebrauchs anderer Erstsprachen als der deutschen Sprache im pädagogischen Alltag. Vorhandene Sprachfähigkeiten der Kinder, die neben dem Deutschen auch Russisch, Polnisch oder Ukrainisch darstellen, könnten nun als besondere Ressource wahrgenommen werden. Die Kinder könnten gerade zur Anfangszeit, als Übersetzer:innen fungieren. Hierbei sind jedoch weitere pädagogische Aspekte zu berücksichtigen. Hierunter zählen insbesondere die Verantwortung, die den Kindern damit zugemutet wird, aber auch gruppendynamische Fragen von Inklusion und Exklusion. Zugleich könnte der Aspekt des Sicherheitsgefühls für die geflüchteten Kinder, welches durch den Gebrauch der Herkunftssprachen unterstützt werden kann, stärker ins Bewusstsein der pädagogischen Fachkräfte geraten. Ein weiterer Aspekt, der sich insbesondere innerhalb der Gruppeninterviews gezeigt hat, bildet die Homogenisierung der ‚Gruppe geflüchteter Kinder‘. Es zeigte sich beispielsweise, dass die pädagogischen Fachkräfte teilweise nicht genau differenzieren konnten, welche Herkunftssprachen die geflüchteten Kinder sprechen. Diese homogene Betrachtungsweise differenziert sich durch die zunehmende Anzahl geflüchteter ukrainischer Kinder vermutlich zumindest zu einer Dualität. Inwieweit die damit verbundene steigende Heterogenität innerhalb der geflüchteten Kinder zu einer grundsätzlich differenzierteren Wahrnehmung der pädagogischen Fachkräfte beiträgt, könnte ebenfalls in weiteren Untersuchungen erforscht werden. Ein weiteres Forschungsdesiderat entsteht in dem Spannungsfeld von zunehmender Zuwanderung und einem steigenden Fachkräftemangel. Kinder, die ohne (oder mit sehr geringen) Kenntnissen in der deutschen Sprache in eine Einrichtung aufgenommen werden, benötigen eine besondere Aufmerksamkeit seitens der pädagogischen Fachkräfte. Bei geflüchteten Kindern ist dies aufgrund der Erfahrungen vor und während der Flucht in besonderem Maße relevant, gleichzeitig machen die Entwicklungen des Feldes – bedingt durch den stetig steigenden Fachkräftemangel – es für die pädagogischen Fachkräfte immer schwerer, diesen individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden.

Literatur

Adler, A.; Silveira M. R. (2021): Einstellungen zu Sprachen und mehrsprachigen Kindergärten. Sprache in Zahlen. Folge 5. In: Sprachreport Jg. 37 (2021) Nr. 4, S. 4-9.

Bock-Famulla, K./Münchow, A./Frings, J./Kempf, F./Schülz, J. (2020): Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2019. Transparenz schaffen – Governance stärken. Gütersloh.

Bundeszentrale für politische Bildung (2021): Datenreport 2021. Kinder mit Migrationshintergrund in Kindertagesbetreuung. Online verfügbar unter: https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/familie-lebensformen-und-kinder/329586/kinder-mit-migrationshintergrund-in-kindertagesbetreuung/ [29.04.2023].

Deutscher Bildungsserver (2022): Flüchtlingskinder in Kitas. Online verfügbar unter: https://www.bildungsserver.de/fluechtlingskinder-in-kitas-11436-de.html [29.04.2023].

Dirim, İ. (1998): «Var mɪ lan Marmelade?». Türkisch-deutscher Sprachkontakt in einer
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Fried, L. 2013: Die Qualität der Interaktionen zwischen frühpädagogischen Fachkräften und Kindern – Ausprägungen, Moderatorvariablen und Wirkungen am Beispiel DO_RESI. In: Fröhlich-Gildhoff, K./Nentwig-Gesemann, I./König, A./Stenger, U./Weltzien, D. (Hrsg.). Forschung in der Frühpädagogik VI. Schwerpunkt: Interaktion zwischen Fachkräften und Kindern. Materialien zur Frühpädagogik. Freiburg: FEL Verlag. Seite 35-58.

Gogolin, I. (2008): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. 2. Auflage. Münster: Waxmann Verlag. Seite 78-105.

Haarmann, H. (1990): Sprache und Prestige. Sprachtheoretische Parameter zur Formalisierung einer zentralen Beziehung. Zeitschrift für romanische Philologie Band  106, Heft 1/2.

Müller, N. (2017). Code-Switching. Tübingen: Narr Francke Attempto

Müller-Using, S./Speidel, H. (2015): Gesprochene Sprache von ErzieherInnen. Erste Ergebnisse zum Sprach-Alltag in Kindertageseinrichtungen. In: Hoffmann, H./Borg-Tiburcy, K./Kubandt, M./Meyer, S./Nolte, D. (Hrsg.). Alltagspraxen in der Kindertageseinrichtung. Annäherungen an Logiken in einem expandierenden Feld. Weinheim, Basel: Beltz Juventa Verlag. Seite 203-229.

Roth, H.-J. (2006): Mehrsprachigkeit als Ressource und als Bildungsziel. In: Günther,
Hartmut/Bredel, Ursula/Becker-Mrotzek, Michael (Hrsg.). KoeBes Kölner Beiträge zur
Sprachdidaktik, Heft 4. Köln: Gilles & Francke, Seite 11-14.

Siraj-Blatchford, I./Sylva, K./Taggart, B./Melhuis, E./Sammons, P. (2010): Das Projekt „The Effective Provision of Pre-School Education”. Wirksame Bildungsangebote im Vorschulbereich – EPPE. In: Sylva, K./Taggart, B. (Hrsg.). Frühe Bildung zählt. Das Effective Pre-School ans Primary Education Projekt (EPPE) und das Sure Start Programm. Berlin: Dohrmann Verlag. Seite 15-27.

Tessmer, E. (2021): Sprachendidaktik in der Frühpädagogik. Eine Analyse alltagsintegrierter Sprachenbildung unter Berücksichtigung institutioneller Rahmenbedingungen. Opladen, Berlin & Toronto: Budrich Academic Press.

Wertfein, M./Wirts, C./Wildgruber, A. (2015): Bedingungsfaktoren für gelingende Interaktionen zwischen Erzieherinnen und Kindern. Ausgewählte Ergebnisse der BIKE-Studie. IFP-Projektbericht 27/2015. Handlungsfeld: (Weiter-)Entwicklung von Curricula. Online verfügbar unter: www.ifp.bayern.de [07.05.2019].

Interaktion in frühpädagogischen Einrichtungen als Choreografie von Inklusion und Exklusion

| Laura von Albedyhll |

Was will das Projekt/Was ist das Phänomen?

Die frühpädagogische Praxis ist geprägt von Interaktionen: Kinder, pädagogische Fachkräfte, Erziehungsberechtigte und Trägerverantwortliche sind nur einzelne Akteur:innen, die in verschiedenen Situationen miteinander interagieren. Dabei wird hier „Interaktionen als konkrete unmittelbare Begegnungen zwischen zwei (oder mehreren) Menschen verstanden (…), welche direkt beobachtbar sind.“ (Weltzien, Fröhlich-Gildhoff, Wadepohl & Mackowiak, 2016, S.7). Interaktion in frühpädagogischen Settings wird im wissenschaftlichen Kontext häufig unter einen normativen Fokus gesetzt: Was ist „gute“ Interaktionsgestaltung? Wie kann in Interaktion Bildung maximal gefördert werden? Spezifischer spielt Interaktion bei zentralen frühpädagogischen Konzepten wie beispielsweise Sustained-Shared-Thinking (Siraj-Blatchford, 2009) eine Rolle. Die Frage der Qualität solcher Interaktionen ist von so großer Bedeutung, dass mindestens ein standardisiertes Tool zu ihrer Messung entwickelt wurde (CLASS, vgl. Weltzien et.al., 2016), auf das in Forschungskontexten zurückgegriffen wird.

Das vorgestellte Projekt geht einen Schritt zurück. Statt unter normativem Blick Gelingensbedingungen von Fachkraft-Kind-Interaktionen zu untersuchen, wird der Blick auf das gerichtet, was tatsächlich stattfindet. In der Rekonstruktion der Handlungen aller Akteur:innen einer Kleingruppe soll eine Theorie der Interaktion in der Frühpädagogik entwickelt werden, die über die Frage der guten Praxis hinaus geht. Vielmehr wird danach gefragt, wie die an der Interaktion beteiligten Akteur:innen wechselseitig das Interaktionsgeschehen beeinflussen und welche Verhältnisse der Akteur:innen untereinander sichtbar werden. Dabei ist es auch das Ziel, den Blick für Akteur:innen zu weiten, die nicht-menschlich sind. Die Relevanz der Dinge in frühpädagogischen Einrichtungen ist kein neuer Blickwinkel (Cloos, Bensel, Haug-Schnabel, Wadepohl & Weltzien, 2018, S. 13). Dinge rahmen zum einen Interaktionsgeschehen, zum anderen interagieren wir mit und an ihnen. Sie begrenzen Handlungsräume, können uns auffordern oder Normen transportieren. An Dinge können bestimmte Regeln für den Umgang mit ihnen geknüpft sein, durch die Rückschlüsse möglich sind auf Machtverhältnisse in den Räumen, für die die Regeln gelten. So ist beispielsweise die Kreide im schulischen Kontext ein Ding, mit dem vorrangig lehrende Personen agieren oder Personen, die von lehrenden Personen geprüft werden. Sie transportiert in diesem Setting die Rolle der zeigenden Person.  Zu jedem Zeitpunkt sind wir umgeben von Dingen, in deren Gebrauch wir hineinsozialisiert wurden, mit denen wir Ideen verbinden, an die wir Handlungsroutinen knüpfen, mit denen wir in Interaktion treten (Stieve, 2008). Die Fachkraft-Kind-Interaktion in der Frühpädagogik zu betrachten heißt also auch, die Dinge zu betrachten, die mit den Akteur:innen gemeinsam die Situation gestalten.

Wie sind wir vorgegangen?

Um sog. „Fachkraft-Kind-Ding-Interaktionen“ in frühpädagogischen Einrichtungen zu untersuchen, wurden Videografien des frühpädagogischen Alltags genutzt. Das Datenmaterial wurde im Projekt „SpriKIDS – Sprachförderung im Kindergartenalltag in Dialekt und Standardsprache im Kontext von Mehrsprachigkeit“ (https://www.sprikids.org/) aufgenommen und stammt aus Einrichtungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. SpriKIDS ist ein von Interreg finanziertes Forschungsprojekt der PH Weingarten, PH St. Gallen, SHLR, PH Graubünden und PH Vorarlberg unter der Leitung von Prof. Dr. Cordula Löffler, Prof. Dr. Franziska Vogt und Dr. Eva Frick, das von 2016 bis 2019 Kinder am Übergang vom Kindergarten zur Grundschule begleitete. Neben der Sprachförderung der Kinder im Kita-Alltag, waren auch der Schriftspracherwerb oder die Einstellung der pädagogischen Fachkräfte zum Dialekt leitende Fragestellungen.
Während der Aufnahmen war die Kamera beweglich, um der pädagogischen Fachkraft in der Einrichtung zu folgen. Daraus ergibt sich, dass die Aufnahmen einen starken Fachkraftfokus aufweisen, Kinderhandeln untereinander oder ohne Beteiligung der Fachkraft höchstens am Rand sichtbar wird. Das videografische Material wurde zunächst transkribiert. Diese Kombinationstranskripte aus klassischen und Grafiktranskripten sind schematisch angelegt und erlauben einen strukturierten Vergleich unterschiedlicher Interaktionsverläufe. Sie machen besonders deutlich, wann Personen und Dinge von Aktant:innen zu Akteur:innen werden, sich bestehenden Handlungsnetzwerken anschließen oder daraus zurückziehen. Ohne den Rückgriff auf ebenfalls vorhandene Transkripte sprachlicher Äußerungen, ist es der analysierenden Person so leichter möglich, sich von thematischen Bezügen zu lösen und lediglich auf das Handlungsnetzwerk der beobachteten Personen zu fokussieren.

Konkret wurde für die Analyse der Videos im Kleinen die Mikroethnografie (Herrle, 2020), für das Entwickeln von Zusammenhängen innerhalb einer Sequenz, aber auch über Sequenzen hinweg, die Grounded Theory Method (im Folgenden GTM) (Dietrich & Mey, 2018) verwendet. Die Situationen wurden zunächst mit mikroethnografischen Methoden aufgebrochen und sequenziert. So wurde die Schwierigkeit bearbeitet, dass die GTM keine dezidierten Vorgaben für den Umgang mit Videomaterial macht und im Zuge dessen die Komplexität des Datenmaterials für eine strukturierte Analyse nicht hinreichend reduziert wird. Anders gesagt: Interaktion als komplexes Geschehen nicht nur beobachtend zu beschreiben, sondern darüber hinaus ausgehend von ihren kleinsten Einheiten (bspw. Blickrichtung, deiktische Gesten[1]) Bedeutung zu rekonstruieren, muss strukturiert, nachvollziehbar und transparent erfolgen.

Was ist das Ergebnis?

Das folgende Auswertungsbeispiel verdeutlicht, wie sich das Handlungsnetzwerk der Akteur:innen in einer Interaktion entwickelt. Der gewählte Ausschnitt umfasst 17 Sekunden einer Situation des frühpädagogischen Alltags. In der vorgestellten Sequenz sitzt die pädagogische Fachkraft an einem Tisch direkt neben einem Bereich unter einem Podest. Der höhlenartige Bereich hat eine relativ niedrige Decke, was den Zugang für erwachsene Personen erschwert. Die vergleichsweise dunkle Fläche – eine Lampe wird auf dem Video nicht sichtbar – beinhaltet die Nachbildung eines Herds aus Holz in niedriger Höhe. Räumlich dem Herd zugeordnet sind kleine Nachbildungen von Geschirr und Nahrungsmitteln aus Holz und Plastik. Darüber hinaus holen die Kinder, die in diesem Raum handeln, immer wieder Puppen in den Videoausschnitt.

Die Abgrenzung des Bereichs vom Rest des Raums wird einerseits verstärkt durch einen Holzpfosten, der das Podest stützt, andererseits durch den Teppich, der mit dem Rand des Podests abschließt. Gleichzeitig steht der Tisch vor diesem Posten und kontrastiert stark mit der Dingvielfalt im kindlichen Handlungsbereich: Der niedrige Tisch ist leer und wird nur punktuell mit unterschiedlichen Dingen gefüllt. Der Tisch wird zum Grenzraum zwischen dem kindlichen Spielraum und dem restlichen Gruppenraum, mit einer Fachkraft die in ihrer Positionierung wie eine Wächterin der Grenze wirkt. Immer wieder wird die Fachkraft von den im Spielbereich tätigen Kindern angesprochen, bewegt sich aber selbst nie in den Raum unter dem Podest. Ob es bei den Prozessen des Herstellens von Innen und Außen um die Bereiche Kind-Fachkraft, definierter Spielraum – multifunktioneller Gruppenraum oder Kleingruppe – Gesamtgruppe geht, bleibt offen.

Mit der Begrenzung auf ein Grafiktranskript wird die verbale Ebene ausgeblendet, um sich in der Analyse nur auf die Handlungsnetzwerke (Albedyhll, 2021) fokussieren zu können. Dabei sind Kreise Kinder (K1 – K4), das Dreieck ist die Fachkraft (FK) und Rechtecke sind Dinge. Punktlinien zeigen Blickrichtungen, Strichlinien verbale Äußerungen und Volllinien raumgreifende Handlungen. Dabei werden Netzwerke sichtbar: Die Akteur:innen sind mit einander über ihre Handlungen verbunden oder grenzen sich durch das Fehlen derartiger Handlungsbeziehungen voneinander ab. So sind sie eingebunden in Netzwerke, die sie selbst generieren. Durch Pfeile wird die Gerichtetheit der Handlungen sichtbar, sofern sie nicht wechselseitig oder eindeutig ist. In der konkreten Situation hat ein Kind (K1) im Bereich unter dem Podest eine Puppe gefunden. Sie macht Geräusche, die ein Baby imitieren sollen und reagiert auf Lagewechsel oder das Einführen einer Flasche in ihren Mund. K1 bringt die Puppe zur Fachkraft (FK), die feststellt, dass die Puppe vielleicht neue Batterien benötigt. Während FK die Puppe aufschraubt, beteiligen sich wechselnde Kinder an der Situation.

Im dargestellten Verlauf kommt K4 aus dem Spielraum und hält einen Rock um seine Hüfte. Er würde rutschen, wenn K4 ihn nicht festhielte. K4 tritt zur Puppen-Tisch-Situation, ohne sich verbal zu äußern (Abbildung 1). Ihr Blick bleibt auf dem Rock, während sie von K1 und FK angesprochen wird. Der Versuch sowohl von K1 als auch von FK, K4 hier zu einer Selbst-Inklusion in das Netzwerk zu bewegen, bleibt ohne Erfolg. Die verbalen Äußerungen von K1 und FK zielen darauf ab, dass K4 sich ebenfalls an den Handlungen mit dem Ding auf dem Tisch beteiligt.  K4 reagiert nicht auf die Ansprache, sondern verbleibt im eigenen Handlungsnetzwerk zwischen sich und dem Rock. Als K3 aus dem Spielraum heraus in die Interaktion eintritt und K4 ebenfalls anspricht (Abbildung 2), wendet K4 den Blick K3 zu – der Blickkontakt zwischen K3 und K4 wird reziprok. Obgleich K1 K4 wiederholt anspricht und den Blick ebenfalls dem Rock zuwendet, entfaltet sich das dichte Handlungsnetz zwischen K4 und K3. K4, beziehungsweise das Gefüge aus K4 und dem Rock, ist das Zentrum verschiedener Handlungsvektoren.

Als sich K4 neu orientiert (Abbildung 3), nämlich zurück in den abgegrenzten Spielraum, zeigt sich seine zentrale Stellung innerhalb der Vektoren[2] besonders deutlich. K1 und K4 richten ihr verbalsprachliches Handeln weiter an K4 aus, auch wenn dieses sich bereits aus dem Handlungsnetzwerk „Tisch“ zurückzieht. Der Einfluss der Neuorientierung von K4 ist so groß, dass sich K4 und K3 wieder in den Spielraum bewegen und K1 mit FK am Tisch zurückbleibt. Die fehlende Aufnahme von K1 in das Handlungsnetzwerk mit K4 im Zentrum, sorgt nun für die Wiederaufnahme des Handlungsnetzwerks mit FK. FK spricht dabei K1 direkt an, während K1 den Blick auf die Puppe richtet. K1 bringt sich selbst aktiv in die Triade Puppe-FK-Kind ein, gleichzeitig wird er durch FK einbezogen.

Hier zeigen sich Dynamiken in Prozessen von Ex- und Inklusion mit verschiedenen Akteur:innen. K4 bildet mit dem Rock ein so dichtes Handlungsnetzwerk, dass K4 zum Zentrum der Interaktion wird. Die Fokussierung auf den Rock ermöglicht dem Kind, die Teilnahme anderer Akteur:innen am Handlungsnetzwerk zu entscheiden. K4 in- beziehungsweise exkludiert qua Handlung und Blickrichtung die anderen Personen. Gerade K1 erfährt hier Exklusion. FK geht, als ihr verbales Handeln keine Resonanz erfährt, zurück in ihr enges Handlungsnetzwerk mit der Puppe. K1 verbleibt in der Inklusionsbemühung, bis K4 sich mit K3 vom Puppe-Tisch-Gefüge löst und K1 sich wieder auf FK und ihr Handlungsnetzwerk fokussiert. Hier gelingt der erneute Zugang zum Handlungsnetzwerk auch durch Ansprache der FK leicht.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Inklusion und Exklusion geschehen nicht nur in großen Handlungszusammenhängen. In kleinen Interaktionseinheiten zeigen sich Mechanismen aller Akteur:innen, sich selbst und andere ein- oder auszuschließen. Inklusion und Exklusion sind in diesem Verständnis keine wertenden Begriffe, in dem Sinn, dass wir zu jedem Zeitpunkt auf eine alle Akteur:innen inkludierende Situation hinwirken müssen. Ein:e Akteur:in, der:die sich von einer Interaktion abwendet, sich dem Kontakt entzieht, sich nicht beteiligt, kann so Handlungsmacht zeigen. Mit einem Gegenstand ein eigenes Handlungsnetzwerk zu bilden, in der das Kind versunken und selbsttätig ein Ding und dessen Zusammenhänge erkundet, ist ein ebenso bedeutsamer Schritt der Interaktionschoreografie, wie die gemeinsame Abstimmung mit anderen auf einen Gegenstand hin.

Mikroprozesse der Interaktion im materiellen Raum in den Blick zu nehmen, ist ein wertvoller Reflexionsmoment: Welche Dinge laden zur Interaktion ein? Von welchen hätten wir es vielleicht nicht erwartet? Welche Handlungen werden durch die Anordnung der Dinge im Raum ermöglicht oder erschwert? Gelingt es Fachkräften, sich auf Ideen der Kinder zu den Dingen einzulassen? Wie oft führt die Fachkraft in der Interaktion, gibt Dinge vor – und wie oft folgt sie? Wer oder was steht wann im Zentrum einer Interaktion und wer oder was vielleicht nie?
In den Antworten auf diese Fragen finden sich Hinweise darauf, wie die Idee einer „guten“ pädagogischen Praxis in den Handlungen zum Ausdruck kommt. Teil der Vorstellung eines „guten“ Kindergartenkind, einer „guten“ pädagogischen Fachkraft und einer daraus folgenden „guten“ pädagogischen Interaktion, ist das eigenaktive, handlungsmächtige Kind, dessen Impulsen gefolgt und auf denen aufgebaut wird. Wenn sich die Handlungsmacht des Kindes so äußert, dass sie der Idee der „guten“ pädagogischen Praxis – einer gemeinsam zwischen Kind und Fachkraft ko-konstruktiv gestalteten, an Zonen der nächsten Entwicklung und inhaltlichen Bildungszielen ausgerichteten nämlich (KMK, 2022, S. 8-10)  –  zuwiderhandelt, finden Aushandlungsprozesse um die Grenzen des Nutzens solcher normativer Setzungen statt. Das eigenmächtige Kind kann als solches gleichzeitig normgerecht und normwidrig sein. Es schließt (sich) aus, statt (sich) zu inkludieren.

Das Aufbrechen pädagogischer Situationen in kleinste Einheiten ermöglicht durch die Verfremdung der Situation einen neuen Blick auf das Geschehen in der Einrichtung zu gewinnen und so Interaktionskulturen und die eigene Einstellung zu ihnen zu ergründen.

Literaturverzeichnis

Albedyhll, L. v. (2021). Kategorisierung der Dinge des pädagogischen Alltags.
Interaktionsorientierte Benennung unbelebter Akteure. ElFo – Elementarpädagogische Forschungsbeiträge (2021), 3 (2), S. 7-17. DOI: 10.25364/18.3:2021.2.1

Cloos, P., Bensel, J., Haug-Schnabel, G., Wadepohl, H. & Weltzien, D. (2018). Die Dinge und der Raum – einleitende Überlegungen. In D. Weltzien, H. Wadepohl, P. Cloos, J. Bensel & G. Haug-Schnabel (Hrsg.), Materialien zur Frühpädagogik: Band 22. Forschung in der Frühpädagogik (S. 11-30). FEL-Verlag Forschung-Entwicklung-Lehre.

Dietrich, M. & Mey, G. (2018). Grounding Visuals. Annotationen zur Analyse audiovisueller Daten mit der Grounded-Theory-Methodologie. In C. Moritz & M. Corsten (Hrsg.), Handbuch Qualitative Videoanalyse (S. 135-152). Springer VS.

Herrle, M. (2020). Ethnographic Microanalysis. In M. Huber & D. E. Froehlich (Hrsg.), Analyzing Group Interactions: A Guidebook for Qualitative, Quantitative and Mixed Methods (S. 11-25). Taylor & Francis Group.

KMK (2022). Gemeinsamer Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen (Beschluss der JMK vom 13./14.05.2004 und Beschluss der KMK vom 03./04.06.2004 i. d. F. vom 06.05.2021 (JFMK) und 24.03.2022 (KMK). https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_06_03-Fruehe-Bildung-Kindertageseinrichtungen.pdf

Siraj-Blatchford, I. (2009). Conceptualising progression in the pedagogy of play and sustained sharedthinking in early childhood education: a Vygotskian perspective.
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Stieve, C. (2008). Von den Dingen lernen: Die Gegenstände unserer Kindheit. Phänomenologische Untersuchungen: Band 27. Wilhelm Fink.

Weidinger, N. (2011). Gestik und ihre Funktion im Spracherwerb bei Kindern unter drei Jahren. DJI. https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs/672_13595_Weidinger_Gestik.pdf

Weltzien, D., Fröhlich-Gildhoff, K., Wadepohl, H. & Mackowiak, K. (2016). Interaktionsgestaltung im familiären und frühpädagogischen Kontext. Einleitung. In H. Wadepohl, K. Mackowiak, K. Fröhlich-Gildhoff & D. Weltzien (Hrsg.), Psychologie in Bildung und Erziehung. Interaktionsgestaltung in Familie und Kindertagesbetreuung (S. 1-26). Springer Fachmedien Wiesbaden.


[1] Zeigegeste, um die Aufmerksamkeit von Interaktionspartner:innen auf einen realen oder virtuellen Gegenstand zu lenken. Typischerweise wird ein ausgestreckter Finger verwendet, jüngere Kinder nutzen auch den Körper oder die ganze Hand (Weidinger, 2011).

[2] Die Handlungspfeile innerhalb der Netzwerke werden hier Vektoren genannt, weil sie auf Kräfte hinweisen, die zwischen den Akteur:innen wirken. Handlungen haben das Potential, die Handlungen des Gegenübers zu beeinflussen und so das Handlungsnetzwerk zu verändern.

Inklusion und Diversität aus Sicht von Kita-Leitungen

| Nina Hogrebe, Valerie Bergmann & Madita Timmermann |

An Kindertageseinrichtungen (Kitas) wird die Erwartung herangetragen, zum Abbau von Bildungsungleichheit beizutragen, Heterogenität anzuerkennen und Inklusion zu fördern (vgl. Betz & Bischoff 2017). Der Elementarbereich bietet dabei grundsätzlich gute Voraussetzungen für Inklusion, denn hier werden bereits ein Großteil der Kinder mit Behinderungen, mit Migrationshintergrund, aus unterschiedlichen sozioökonomischen Kontexten sowie Mädchen und Jungen gemeinsam betreut. Zugleich gibt es hinsichtlich der Verteilung von Kindern mit Diversitätsmerkmalen auf die einzelnen Bildungseinrichtungen große Unterschiede. Entmischungsprozesse, die in unterschiedlichen Zusammensetzungen der Kitas zum Ausdruck kommen, verweisen darauf, dass Bildungszugänge nach wie vor nicht gleichermaßen gewährt werden (vgl. Hogrebe et al. 2021a).

Was will das Projekt? Was ist das Phänomen?

Prengel (2016) formuliert „Desegregation in der Lebensumwelt“ (S. 63) als einen Auftrag an institutionelle Bildungseinrichtungen. Neben der Anforderung, den unterschiedlichen Lebenshintergründen, Bildungsvoraussetzungen und Bildungsbedürfnissen von Kindern in einer Kita Rechnung zu tragen (vgl. Gomolla 2010, S. 8f.), geht es dabei auch darum, die gesellschaftliche Vielfalt in den Organisationen abzubilden (vgl. Toepfer 2020). Kita-Leitungen kommt dabei eine entscheidende Schlüsselposition zu, denn sie tragen nicht nur eine Mitverantwortung für die Herstellung einer Passung von institutionellen Rahmenbedingungen und individuellen Bedürfnissen der Kinder im Hinblick auf die Anerkennung von Diversität (vgl. Kron 2010), sondern sind auch in Platzvergabeprozesse eingebunden, die zum Ausschluss bestimmter Familien und Kinder führen können (vgl. Hogrebe et al. 2021b; Mierendorff & Nebe 2022). Bislang ist allerdings wenig darüber bekannt, welche Perspektive Kita-Leitungen auf die damit verbundenen Anforderungen haben.

Wie sind wir vorgegangen?

Studierende des Bachelorstudiengangs „Bildung und Erziehung in der Kindheit“ an der HAW Hamburg haben im Wintersemester 2021/22 im Rahmen des Wahlpflichtseminars „Diversität und Vielfalt im Elementarbereich“ leitfadengestützte Experteninterviews mit Praxisvertreter:innen geführt, um empirische Einblicke in deren Wahrnehmung der mit Inklusion verbundenen Anforderungen im Feld, Begriffsverständnisse und Praktiken zu gewinnen (vgl. Meuser & Nagel 2013). Als offenes und rekonstruktives Verfahren erfasst diese Interviewform mithilfe von erzählgenerierenden Fragen und Raum für freie Erzählpassagen mit eigener Relevanzsetzung die Wissensbestände von Expert:innen (vgl. Liebold & Trinczek, 2009). Die Expert:innen sind in diesem Fall Kita-Leitungen oder mit Leitungsaufgaben beauftragte Fachkräfte, die über ein spezifisches Wissen zu Umgangsstrategien mit Inklusion und Diversität in Kitas verfügen. Die Interviewpartner:innen wurden im Rahmen der studienbegleitenden Praktika durch die Studierenden selbst akquiriert. Den Leitfaden haben die Lehrenden konzipiert und die Studierenden haben jeweils unter Anleitung ein Interview geführt. Alle Interviews wurden aufgezeichnet und nach den Regeln von Kuckartz (2016) transkribiert. Auf Basis der Transkripte wurden die Interviews durch die Lehrenden und eine studentische Hilfskraft nach Kuckartz et al. (2008) ausgewertet. Insgesamt gehen in die Analysen Interviews mit zehn Fachkräften in Kitas ein, die eine Tätigkeit mit Leitungsfunktion inne hatten.

Was ist das Ergebnis?

Ebenso wie im wissenschaftlichen Diskurs lässt sich auch innerhalb der im Seminar geführten Interviews mit Kita-Leitungen keine einheitlichen Verständnisse der Begriffe Diversität, Inklusion, Vielfalt und Heterogenität finden. Das Interviewmaterial lässt erkennen, dass die Begriffe nicht trennscharf gebraucht werden. Einige Begriffe werden synonym verwendet bzw. von den Befragten explizit gleichgesetzt. So werden insbesondere keine Unterschiede zwischen den Begriffen „Diversität“ und „Vielfalt“ gemacht:

„[I]ch finde Diversität ist einfach, dass man unterschiedlich sein kann und Vielfalt auch, dass es viele verschiedene Menschen mit vielen verschiedenen Hintergründen gibt, und dass alle aber gleichwertig sind.“ (Interview 8, Absatz 33).

Neben Äußerungen, denen ein auf Behinderung bezogenes Inklusionsverständnis zugrunde liegt, , zeigt sich insgesamt ein eher breites Verständnis von Inklusion, das sich auf jegliche Diversitätsmerkmale bezieht (vgl. Lindmeier & Lütje-Klose 2015). Damit verbunden ist meist eine positive Sichtweise auf die Unterschiedlichkeit der Menschen, die wertgeschätzt, beziehungsweise als explizit erwünscht und wichtig angesehen wird. Mitunter wird diese Sichtweise durch Beschreibungen über das zugrundeliegende Bild vom Kind untermauert:

„Jedes von uns anvertraute Kind ist ein einzigartiger, wertvoller Teil des Ganzen. Dies gilt unabhängig von körperlichen, geistigen, sozialen, kulturellen oder sonstigen Voraussetzungen“ (Interview 2, Absatz 11).

Diese Einstellung gegenüber allen Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft, werde oftmals von den Kindern vorgelebt:

„aber den Kindern ist es eigentlich relativ egal, wo sie herkommen, wichtig ist für uns immer, dass wir eine Gemeinschaft sind und alle so annehmen und aufnehmen, wie sie halt so sind.“ (Interview 4, Absatz 10).

Der Begriff der Inklusion ist zudem häufig mit einem Fokus auf Chancengleichheit und -gerechtigkeit assoziiert, der die „bestmögliche individuelle Förderung“ (Interview 2, Absatz 11) aller Kinder impliziert und fordert, diese „und ihre Familien dort abzuholen, wo sie gerade stehen“ (Interview 12, Absatz 12). Die Kinder, die auf besondere Fördermaßnahmen angewiesen sind, sollen die nötige Unterstützung erhalten. Hierzu wird vermehrt die Zusammenarbeit mit Externen (z.B. Heilpädagog:innen oder Psycholog:innen) und den Eltern der Kinder betont. Zugleich wird ein Spannungsfeld deutlich, dass die Unterschiede der Kinder einerseits in der pädagogischen Arbeit berücksichtigt werden müssen, hierdurch aber andererseits auch wieder bestimmte Differenzen konstruiert werden können:

„Um mich damit auseinandergesetzt und halt festgestellt, dass es wirklich/ es ist ein Thema, das man nicht zum Thema machen sollte, wenn es nicht ein Thema ist. […]. Also wenn wir anfangen darüber zu sprechen, wieso du anders aussiehst als du, dann erschaffst du das Problem ja schon nur. Also es ist mehr man muss es leben.“ (Interview 3, Absatz 19).

Die aktuelle Situation von Kitas in Bezug auf damit verbundene Anforderungen für die eigene Arbeit wird unterschiedlich wahrgenommen. Neben einer grundsätzlich positiven Einstellung hinsichtlich Diversität als wünschenswertes Ziel innerhalb der Gesellschaft oder ihrer Einrichtungen benennen die Befragten auch Herausforderungen, die hierdurch entstehen. Zum einen äußern einzelne Befragte Bedenken in Bezug auf Kinder mit zum Beispiel körperlichen Beeinträchtigungen und sind unsicher, ob sie mit dieser Art von Anforderungen in ihrer Einrichtung umgehen könnten:

„Also, wir hatten noch kein Kind mit einer schwereren Behinderung, ich weiß auch nicht, ob wir das leisten könnten. Ich glaube nicht.“ (Interview 8, Absatz 26)

Vereinzelt werden Probleme in Bezug auf die Kommunikation und Verständigung bei unterschiedlichen Herkunftsländern und Kulturen angeführt. Hinzu kommen fehlende personelle Voraussetzungen, die den Umgang mit heterogenen Gruppen und Kindern, die besondere Fördermaßnahmen benötigen, erschweren können. Den gestiegenen Anforderungen und Erwartungen stehen laut der Befragten unzureichende personelle Mittel sowie fehlende Unterstützung durch die Politik gegenüber:

„[I]ch würde mir wünschen, dass das Thema nicht nur auf die Kitas abgewälzt wird, sondern auch die nötige, und das ist tatsächlich auch eine finanzielle Unterstützung, dass diese auch von der Politik getragen wird“ (Transkript 11, Absatz 41).

Neben dem Umgang mit unterschiedlichen Lebenshintergründen, Bildungsvoraussetzungen und Bildungsbedürfnissen von Kindern in einer Kindertageseinrichtung stellt sich darüber hinaus die Frage, ob und wie Leitungen die Zusammensetzung ihrer Einrichtungen beeinflussen. Manche Befragte äußern, dass sie gerne etwas durchmischter wären, und bedauern fehlende Handlungsspielräume:

„Wir hätten gerne ausländische Familien natürlich, weil das die kulturelle Vielfalt bereichert und wir sind immer froh, wenn wir mal eine haben, aber in der Regel wollen die nicht zu uns kommen. Ich weiß nicht, warum nicht.“ (Interview 8, Absatz 18)

Ein von den Leitungen genannter Grund dafür ist die Lokalität des Einzugsbereichs sowie die damit verbundene Sozialstruktur des Stadtteils. Aber auch die konzeptionelle Ausrichtung der Einrichtungen beeinflusse die Zusammensetzung der Kita, da sie bestimmte Familien mehr oder weniger ansprechen bzw. abschrecken würden:

„Nein, ich glaube, das liegt daran, dass die ein anderes Konzept haben und dass, ja, wie soll ich es sagen, ich weiß nicht so genau, warum sich zum Beispiel ausländische Familien hier nicht anmelden. Keine Ahnung. Möglicherweise, weil sie nicht so viel Interesse an der Gemeinschaft haben, so, also, keine Ahnung“ (Interview 8, Absatz 56)

Dabei ist auffällig, dass diesbezüglich eine einseitige Zuschreibung von Verantwortung erfolgt, die ausschließlich auf Seiten der Eltern verortet wird, während die Kitas als eher passiv und machtlos bezüglich der elterlichen Bildungswahlentscheidungen bzw. der sie umgebenden Sozialstruktur erscheinen. Eine Eigenverantwortung auf Seiten der Einrichtungen, aktiv bestimmte Familien zu rekrutieren oder ein Konzept zu erstellen, dass auch für andere Adressat:innen zugänglich ist, kommt hier nicht zum Ausdruck.

Darüber hinaus spielen unterschiedliche Verfahren der Anmelde- und Platzvergabeprozesse eine Rolle. Diese können niedrigschwellig sein oder durch komplexe Anforderungen Zugangsbarrieren darstellen. Als eine mögliche Barriere wird diesbezüglich die Sprache genannt, die eine Bewerbung um einen Kitaplatz erschweren kann:

„[D]as kann natürlich (.) auch ein (..) Hindernis sein für Familien die, die Eltern, die vielleicht nicht lesen können oder kein Deutsch sprechen. Ja (lacht), dass fällt mir jetzt erst auf, dass es dann natürlich schwierig ist, sich da um einen Kitaplatz zu kümmern“ (Interview 3, Absatz 49)

Exklusion kann auch über die Vergabe der Betreuungsplätze stattfinden: Bei zu geringer Verfügbarkeit und zu hoher Nachfrage regeln manche Einrichtungen die Vergabe über eine Warteliste und/oder nach Anmeldezeitpunkten. Die Vergabe von zur Verfügung stehenden Plätzen kann aber auch entlang bestimmter Kriterien wie dem Alter oder dem Geschlecht sowie ihrer Passung in die jeweils bereits vorhandene Gruppenstruktur erfolgen. In mehreren Interviews verweisen die Leitungskräfte auf die Stundenanzahl der in Hamburg bestehenden Kita-Gutscheine: Kinder mit einer hohen Anzahl an zu betreuenden Stunden werden dabei bevorzugt aufgenommen. Eine Rolle würden auch Geschwisterkinder spielen, die die Einrichtung bereits besuchen. Manche der Einrichtungen würden besonders auf eine Passung zwischen Kita und Eltern achten. Insbesondere Leitungen von Elterninitiativen beschreiben, dass sie auf Unterstützung und Hilfe durch die Eltern zum Erhalt der Kita angewiesen sind und deshalb aufwändigere Aufnahmeverfahren mit intensiven Vorgesprächen umsetzen:

„Wir würden wahrscheinlich keinen Platz vergeben an Eltern, die ihr Kind einfach nur betreut haben wollen und sich nicht einbringen wollen, weil dann wird niemand froh.“ (Interview 8, Absatz 46)

Problematisiert werden in diesem Kontext zudem die sprachlichen Fähigkeiten von Eltern als ein relevanter Faktor, der das Engagement von Eltern in der Elterninitiative beeinflusse.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Die Anerkennung von und der kompetente Umgang mit Diversität ist ein relevanter Aspekt eines entwicklungsförderlichen Umfelds für Kinder in Kitas (vgl. Spensberger & Taube 2022 S. 235). Die von den Studierenden geführten Interviews mit Leitungskräften lassen erkennen, dass diese eine positive Grundhaltung der Thematik gegenüber aufweisen. Hinsichtlich des Umgangs mit den damit verbundenen Herausforderungen deutet sich demgegenüber an, dass die Umsetzung entsprechender inklusiver und diversitätssensibler Praktiken auf strukturelle Herausforderungen trifft und die Leitungskräfte sich hier mehr Ressourcen und Unterstützung wünschen. Insbesondere auch mit Blick auf die aktive Herstellung einer diversen Kita-Zusammensetzungen ist zu erkennen, dass die Befragten sich eher zurückhaltend äußern und entweder nur wenig Handlungsspielraum sehen oder Zugangsbarrieren thematisieren, die aufgrund externer Strukturen oder Annahmen über und Zuschreibungen an bestimmte Familien bestehen und nicht im Verantwortungsbereich der Kitas verortet werden. Dies wäre im Hinblick auf den gesellschaftlichen Auftrag von Kitas zu diskutieren.

Literaturverweise

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Gomolla, M. (2010). Kinderwelten. Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. Abschlussbericht über die zweite Erhebung im Frühjahr 2008 und zusammenfassende Beurteilung. Helmut-Schmidt-Universität.

Hogrebe, N., Pomykaj, A. & Schulder, S. (2021a). Segregation in early childhood education and care in Germany: Insights on regional distribution patterns using national educational studies. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 16(1), 36–56. https://doi.org/10.3224/diskurs.v16i1.04

Hogrebe, N., Mierendorff, J., Nebe, G. & Schulder S. (2021b). Platzvergabeprozesse in Kindertageseinrichtungen: Aufnahmekriterien aus Sicht pädagogischer Fachkräfte unter Berücksichtigung der Trägerorganisationen. In L. Brockmann, C. Hack, A. Pomykaj & W. Böttcher (Hrsg.), Soziale Ungleichheit im Bildungs- und Sozialwesen. Reproduktion und Legitimierung (S. 90–113). Beltz Juventa.

Kron, M. (2010). Ausgangspunkt: Heterogenität. Weg und Ziel: Inklusion? Zeitschrift für Inklusion, 4(3).

Kuckartz, U. (2016). Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung (3. Auflage) (S. 166–169). Beltz Juventa.

Kuckartz, U., Dresing, T., Rädiker, S. & Stefer, C. (2008). Qualitative Evaluation: der Einstieg in die Praxis (2., aktualisierte Aufl.).VS Verl. für Sozialwissenschaften.

Liebold, R. & Trinczek, R. (2009) Experteninterview. Handbuch Methoden der Organisationsforschung: quantitative und qualitative Methoden (1. Aufl.).VS Verl. für Sozialwissenschaften.

Lindmeier, Ch. & Lütje-Klose, B. (2015). Inklusion als Querschnittsaufgabe in der Erziehungswissenschaft. Erziehungswissenschaft. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 26(51), 7–16.

Mierendorff, J., & Nebe, G. (2022). Kitaplatzvergabe ist segregationsrelevant. Jugendhilfereport 02/22, 10–12.

Prengel, A. (2016). Bildungsteilhabe und Partizipation in Kindertageseinrichtungen. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, WiFF Expertisen, 47.

Spensberger, F. & Taube, V. (2022). Diversität in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung. In D. Turani, C. Seybel & S. Bader (Hrsg.), Kita-Alltag im Fokus – Deutschland im internationalen Vergleich. Ergebnisse der OECD-Fachkräftebefragung 2018 (S. 225–262). Beltz Juventa.

Toepfer, G. (2020). Diversität. Historische Perspektiven auf einen Schlüsselbegriff der Gegenwart. ZZF – Centre for Contemporary History: Zeithistorische Forschungen. https://doi.org/10.14765/ZZF.DOK-1767

Inklusion als Integration von Kindern mit Behinderung? Ein Blick auf die Perspektive pädagogischer Fachkräfte integrativer Kindertageseinrichtungen

| Samuel Kähler |

In den letzten Jahren ist ein Zuwachs der Betreuung von Kindern mit »besonderen Förderbedarfen« in Kindertageseinrichtungen zu verzeichnen: Mittlerweile begleiten 38% der Regeleinrichtungen mindestens ein Kind mit diagnostizierter oder drohender Behinderung (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2021). Die Hintergründe dieser Entwicklung sind vielfältig, ein Erklärungsansatz liefert die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention und deren Inkrafttreten am 3. Mai 2008, durch welche sich Deutschland zur Schaffung eines inklusiven Betreuungssystems verpflichtet. Dass Inklusion also umgesetzt werden soll, ist klar, unklar ist jedoch, wie diese Umsetzung aussehen soll. Dies liegt u.a. an einer fehlenden Einigkeit dahingehend, was unter Inklusion überhaupt zu verstehen ist (Tures 2022).

In der aktuellen frühpädagogischen Praxis dominiert oftmals ein enges, auf die Integration von Kindern mit Behinderung verkürztes Inklusionsverständnis (Knauf & Graffe 2016). Dies ist durchaus nachvollziehbar: Frühpädagogische Fachkräfte begegnen diesem Thema insbesondere dann, wenn Kinder mit diagnostizierter oder drohenden Behinderung in der Einrichtung betreut werden sollen. Der erste Schritt hierfür ist eine Bedarfsermittlung nach dem Bundesteilhabegesetz, wonach zu prüfen ist, inwiefern eine Behinderung vorliegt, welche Auswirkungen diese hat und welche Unterstützung notwendig ist (s. BTHG vom 23.12.2016, § 13). Diese defizitorientierte Bedarfsermittlung ist sodann Grundlage für die Zuweisung zeitlicher und ökonomischer Ressourcen der Betreuung von Kindern mit besonderem Förderbedarf (z.B. Seitz 2012). Diese Kinder kommen dann als sogenannte Integrationskinder in den Regeleinrichtungen an.

Zwei Aspekte werden hier deutlich: Es zeigt sich eine strukturell-gesetzliche Verankerung der geforderten Inklusion als Integration. Der Fokus wird auf das einzelne (behinderte) Kind gerichtet, welches vor dem Hintergrund einer defizitär ausgerichteten Bedarfsbestimmung eine besondere Förderung erhält. Mit dieser verschwimmenden Differenz von Inklusion und Integration einhergehend wird eine Notwendigkeit der Etikettierung der Kinder als behindert (oder von einer Behinderung bedroht) erzeugt. Erst die Zuordnung eines Kindes in diesem zweiteiligen System Behindert-Nichtbehindert ermöglicht die Zuweisung wichtiger Ressourcen. Dieser strukturelle Zusammenhang wird unter dem Begriff des Etikettierungs-Ressourcen-Dilemmas kritisch diskutiert (z.B. Kornmann 1994).

Was will das Projekt?

Die von mir gestellte Frage ist, welches Bild die pädagogischen Fachkräfte von den sogenannten »I-Kindern« haben. Ich möchte also wissen, welche Vorstellungen über diese Kinder vorliegen und wie diese das Handeln orientieren. Grundlage für die Bearbeitung dieser Frage ist mein Dissertationsprojekt. In diesem beforsche ich Kindbilder frühpädagogischer Fachkräfte, wobei ich mit Bezug auf die Praxeologische Wissenssoziologie (Bohnsack 2017) zwischen expliziten Bildern vom Kind und impliziten Kindbildern differenziere:

  • Explizite Bilder vom Kind können von den von mir befragten AkteurInnen klar benannt werden, diese zeigen sich insbesondere in einem Sprechen über die Praxis, also in Bewertungen und Argumentationen.
  • Implizite Kindbilder sind stärker erfahrungsbezogen; sie werden durch Erfahrungen mit Kindern erworben und sind somit gebunden an ein handlungsleitendes Wissen, weshalb sie nicht direkt formuliert werden können, sondern insbesondere über Erzählungen und Beschreibungen zu rekonstruieren sind. Eben diese impliziten Kindbilder stehen hier im Fokus, wobei der Blick auf das Bild vom »I-Kind« gerichtet wird.

Wie bin ich vorgegangen?

Die zwei für diesen Beitrag herangezogenen Interviews stammen aus Gesprächen mit Fachkräften aus zwei unterschiedlichen Einrichtungen aus Mittelhessen, die sich über den Namen als integrativ ausweisen. Darüber hinaus wurden in dem Zeitraum 2020-2022 14 weitere Interviews geführt, die hier jedoch nicht miteinbezogen werden.

Die Datenerhebung erfolgte mittels Leitfadeninterviews (Helfferich 2011). In diesen erhalten die pädagogischen Fachkräfte vorrangig über erzählgenerierende Fragen den Raum, die eigene Perspektive auf Kinder zu entfalten. Ausgewertet wird das Material mit der Dokumentarischen Methode (Nohl 2017).

Was ist das Ergebnis?

Im Folgenden zeige ich, welches Bild vom »I-Kind« zwei pädagogische Fachkräfte haben, indem ich auf die Art und Weise schaue, wie sie über diese Kinder sprechen. Einsteigen möchte ich mit einem exemplarischen Auszug aus dem Interview mit Diana Dörfling.[1] Diana erzählte von einem Jungen, der etwas mehr „Begleitung“ braucht, woraufhin ich sie gebeten hatte, noch mehr von diesem Jungen zu erzählen:

„ja also ist auch mein I also ist auch n I-Kind der hat- aber so jetzt der hat zwar motorisch dadurch ähm ei- is er ein bisschen eingeschränkt da entwicklungsverzögert weil er ne (2) oh wie heißt des? ähm also offener Rücken nennt man das“ (Interview Diana)

Zunächst scheint eine starke Verbundenheit zu dem Kind auf, wenn die Akteurin von »ihrem« Integrationskind spricht. Im weiteren Verlauf steht sodann der Status »I-Kind« im Fokus. Dieser Relevanzsetzung folgend wird der Junge über seine abweichende Entwicklung beschrieben. Dem Jungen wird also eine von der Norm abweichende und defizitäre Entwicklung attestiert, die sodann wiederum mit einer angeborenen Behinderung begründet wird. Die Ursache der Behinderung läge dem folgend in dem Jungen, beziehungsweise in der Krankheit des Jungens, die als Teil des Jungens verstanden wird. Zudem fallen weitere Eigenschaften des Jungens hinter dem Status »I-Kind« und den damit einhergehenden Limitationen zurück. Im Folgenden richtet Diana den Blick auf die Fortschritte:

„er kann auch mittlerweile laufen er braucht zwar Orthesen damit die Füße ähm (.) ähm stabilisiert sind und er nicht wegknickt aber ansonsten, er kann auch ähm (.) greifen richtig (.) zwar nicht so wie die andern Kinder“ (Interview Diana)

Die defizitäre Besonderung wird weitergeführt: Gerade in der Beschreibung seiner Lern- und Entwicklungsfortschritte bleibt der ungleiche Status bestehen, wenn Diana zum einen auf die notwendige mechanische Unterstützung während des Laufens verweist und zum anderen, wenn sie die Fähigkeiten des Jungens mit denen der anderen Kinder vergleicht. Diese dienen hier als Hintergrundfolie, vor dem die Fähigkeit des Jungens eingeordnet und sodann als abweichend konstruiert wird. Diese Weise des Sprechens über Integrationskinder findet sich auch in weiteren Fällen. So erzählt beispielsweise Karin Kraus[2] ebenfalls von ihrem „I-Kind“, welches sich zwar entwickelt, aber nach wie vor „sprachliche Probleme“ hat.

Konsequenz dieser defizitären Besonderung der Kinder ist zumeist eine gezielte Einzelförderung: Exemplarisch hierzu ein Auszug aus dem Interview mit Karin:

„ja wir waren letzte Woche auch zusammen im Sprachraum dann haben wir zusammen ähm so Zungengymnastik gemacht […] das hab ich in so lustige Geschichte verpackt […] haben zusammen Wörter geklatscht, was ich immer ganz wichtig find so für die ähm die Sprache; und ähm haben dann auch noch zusammen ein Bilderbuch betrachtet wo sie mir ein bisschen was erzählen konnte so weit wie sie das schafft“ (Interview Karin)

Im Kontext der Fördermaßnahme wird das Kind nicht nur über den Status des »I-Kindes«, sondern nun auch räumlich aus der Gruppe hervorgehoben. Zu beobachten ist also eine doppelte Besonderung über den Status und der zeitlich limitierten räumlichen Abgrenzung. In eben diese Rahmung eingebettet wird nun gezielt an den ausgemachten Defiziten des Kindes gearbeitet, wobei Karin die Sitzung inhaltlich steuert.

Zusammenfassung:

  1. Das Bild vom »I-Kind« ist strukturiert durch eine Konstruktion einer defizitären Andersartigkeit. Krähnert, Zehbe und Cloos (2022) sprechen mit Blick auf diese Weise der Hervorhebung treffend von einer „negativen Verbesonderung“. Die Kinder werden über ihre entwicklungsbezogenen Abweichungen und den hiermit einhergehenden Status sowie über die gezielten Fördermaßnahmen von dem Rest der Gruppe abgegrenzt. Die jeweiligen Defizite werden dabei als wesentlicher Teil der Kinder verstanden. Konsequenz hieraus ist zumeist die Förderung der Kinder, also das gezielte Bearbeitung von ausgewiesenen Defiziten und eine Normalisierung der Entwicklung.
  2. Mit Blick auf die eingangs skizzierten und notwendigen Etikettierungs-Prozesse erscheint dieses Bild vom »I-Kind« als eine Bearbeitung des zugrundeliegenden Spannungsfeldes: Bereits über den für die Ressourcenzuweisung notwendigen Status des »I-Kindes« tritt das Kind als besonders aus der Gruppe hervor. Somit ist die negative Besonderung der Kinder sowie eine Reduzierung von Inklusion auf die Integration einzelner (behinderter) Kinder bereits strukturell angelegt und durchaus sinnhaft sowie funktional. Pädagogische Fachkräfte bewegen sich also in Strukturen, die das hier aufgezeigte Bild miterzeugen, zugleich erhalten sie diese Strukturen durch ihr Handeln aufrecht und stellen diese immer wieder neu her.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Wenn es das Ziel sein soll, Inklusion nicht auf die Integration von Kindern mit Behinderung zu begrenzen, ist über die folgenden Aspekte nachzudenken:

  1. Integration oder Inklusion: Erster Ansatzpunkt wäre eine klare begriffliche und inhaltliche Unterscheidung zwischen Integration und Inklusion. Wie die Benennungen »Integrationskinder« und »integrative Einrichtungen« aufzeigen, ist der Integrationsbegriff nach wie vor von zentraler Bedeutsamkeit. Ist Inklusion das Ziel, muss geklärt werden, was hierunter verstanden wird und Inklusion als Ziel sodann auch benannt werden.
  2. Inklusion und Behinderung: Inklusion als Integration von Kindern mit Behinderung verkürzt den inklusiven Gedanken nicht nur auf das Ziel der Integration, sondern ebenso auf die Vielfaltsdimension Behinderung. Ein weites Inklusionsverständnis geht hierüber hinaus und impliziert den Anspruch, Kinder in ihren Mehrfachzugehörigkeiten wahrzunehmen: Nicht nur eine Behinderung, sondern auch andere Zugehörigkeiten wie Geschlecht oder Herkunft können Teilhabebarrieren zur Konsequenz haben, die es zu beachten gilt. Kinder tragen also viele Eigenschaften in sich, über die sie beschrieben werden können. Inklusion wird dann zu einem Konzept für alle Kinder, wie es beispielsweis im Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung (Wagner 2017a) vertreten wird.
  3. Etikettierungen: Auf der einen Seite sind Etikettierungen pädagogisch relevant, wie Dederich (2017) aufzeigt. Auf bestimmte Etikette zu verzichten würde bedeuten, hieran anschließendes Wissen zu ignorieren – zum Beispiel im Bereich der Förderung der motorischen Entwicklung – und also eine „Unschärfe pädagogischer Interventionen“ in Kauf zu nehmen. Auf der anderen Seite befördern Etikettierungen Stigmatisierungen und Veränderungen des Selbstbildes betroffener Personen (Wagner 2017b). Dieses Dilemma ist nicht aufzulösen, wichtig ist aber: Etikettierungen sollten mit dem Wissen um deren stigmatisierender Wirkung genutzt und nie auf eine Person als Ganzes bezogen werden. Ein Kind sollte immer mehr sein, als nur seine Behinderung. Zudem sind Etikettierungen auf deren pädagogische Relevanz zu befragen: So kann das Etikett der motorischen Entwicklungsverzögerung durchaus wichtig sein, um präziser fördern zu können, während das formal notwendige aber zugleich sehr undifferenzierte Etikett des »I-Kindes« das Kind primär als defizitär-anders von den anderen Kindern abhebt. Das Sprechen über Kinder (z.B. mit Eltern oder KollegInnen) und auch mit Kindern ist demnach auf Etikettierungen zu hinterfragen, die pädagogisch irrelevant sind und zugleich Diskriminierung und Barrieren erzeugen können.
  4. Barrieren: Ein zentraler Mehrwert einer inklusionstheoretischen Perspektive ist der Fokus auf behindernde Strukturen, mit der Intention, diese abzuschwächen oder gar zu entfernen. Diese Barrieren können materielle Barrieren sein (z.B. Treppen und geschlossene Türen), die zu erkennen und beseitigen sind, oder aber auch Barrieren, die durch Diskriminierung und Ausgrenzung erzeugt werden (z.B. Vorurteile und stigmatisierende Etikettierungen), welche nur reflexiv aufgelöst werden können. Nicht nur das Kind, sondern auch die Umwelt und die Erwachsenen als Teil dieser Umwelt sollten Ansatzpunkt für Intervention sein. (Beher et al. 2021)

Pädagogischen Fachkräften kommt eine sehr herausfordernde Aufgabe zu: Obwohl Inklusion rechtlich vorausgesetzt wird, arbeiten sie in Strukturen, die eine Reduzierung von Inklusion auf eine Integration von Kindern mit Behinderung begünstigen und sind zugleich Teil der Aufrechterhaltung dieser Strukturen. Die hier vorliegenden Spannungsfelder können die pädagogischen Fachkräfte nicht in Gänze auflösen – dennoch sind sie zentrale Akteure, ohne die eine inklusive Betreuung nicht umgesetzt werden kann. Eine kritische Reflexion vorliegender Strukturen, Barrieren und der eigenen Perspektive auf das Kind können hierfür erste, wichtige Ansatzpunkte sein.

Literaturverzeichnis

Beher, K., Fuchs-Rechlin, Gessler, A., Hanssen, K., Hartwich, P., Peucker, C. et al. (2021). Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2021 (Bd. 2021). München: Deutsches Jugendinstitut e.V.

Bohnsack, R. (2017). Praxeologische Wissenssoziologie. Opladen, Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Bundestag. Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. BTHG.

Dederich, M. (2017). Zwischen Wertschätzung von Diversität und spezialisierter Intervention. Ein behindertenpädagogisches Dilemma im Zeichen der Inklusion. In U. Stenger, D. Edelmann, D. Nolte & M. Schulz (Hrsg.), Diversität in der Pädagogik der frühen Kindheit. Im Spannungsfeld zwischen Konstruktion und Normativität (S. 73–84). Weinheim: Beltz.

Helfferich, C. (2011). Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews (4. Auflage). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Knauf, H. & Graffe, S. (2016). Alltagstheorien über Inklusion. Frühe Bildung, 5(4), 187–197.

Kornmann, R. (1994). Von der prinzipiell nie falschen Legitimation negativer Ausleseentscheidungen zum Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma. Oder: Gibt es überhaupt Perspektiven für eine förderungsorientierte Diagnostik? Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 17(1), 51–59.

Krähnert, I., Zehbe, K. & Cloos, P. (2022). Polyvalenz und Vulneranz. Empirische Perspektiven auf inklusionsorientierte Übergangsgestaltung in Elterngesprächen (Kindheitspädagogische Beiträge, 1. Auflage). Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

Nohl, A.‑M. (2017). Interview und Dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. 5. Aufl. Wiesbaden: Springer VS.

Seitz, S. (2012). Frühförderung inklusive – Inklusive Pädagogik in Kindertageseinrichtungen mit Kindern bis zu drei Jahren. In B. Gebhard & B. Hennig (Hrsg.), Interdisziplinäre Frühförderung. Exklusiv – kooperativ – inklusiv (S. 315–322). Stuttgart: Kohlhammer.

Tures, A. (2022). Inklusion und Diversität: soziale Vielfalt im Blick. In N. Neuß & S. Kähler (Hrsg.), Grundwissen Kindheitspädagogik. Eine Einführung in Perspektiven, Begriffe und Handlungsfelder (S. 237–248). Berlin: Cornelsen; Verlag an der Ruhr.

Wagner, P. (Hrsg.). (2017). Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder.

Wagner, P. (2017). Vielfalt und Diskriminierung im Erleben von Kindern. In P. Wagner (Hrsg.), Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung (S. 87–106). Freiburg im Breisgau: Verlag Herder.


[1] Diana ist eine Erzieherin in einer integrativen Einrichtung und hier vorrangig im Krippenbereich tätig. Alle personenbezogenen Angaben sind anonymisiert.

[2] Karin ist ebenfalls eine Erzieherin in einer integrativen Einrichtung, hat jedoch zusätzlich eine Heilpädagogikausbildung absolviert und arbeitet im Ü3 Bereich.

Elterngespräche als vulnerante Settings in inklusiven Kontexten

| Katja Zehbe |

Elterngespräche sind ein Kernbestandteil kindheitspädagogischer Settings und stellen als Teil der Kommunikation zwischen Kindertageseinrichtungen und Erziehungs- und Sorgeberechtigten ein Bindeglied zwischen diesen beiden dar.

„Diese spezifische Form des regulären Austauschs ist institutionell gerahmt: So findet das Elterngespräch in der Kindertageseinrichtung statt, liegt in der Pflicht und Zuständigkeit der pädagogischen Fachkräfte, diese laden in der Regel zu diesen Gesprächen ein und bereiten sie gewöhnlich auch vor“ (Zehbe/Krähnert/Cloos 2021, S. 10).

Elterngespräche werden damit als Teil der zu etablierenden und zu pflegenden Erziehungs- und Bildungspartnerschaft angesehen und gehen häufig mit hohen Erwartungen und Hoffnungen, (ausführlich Betz 2015), aber auch spezifischen Herausforderungen und Ressourcen einher. So ist etwa davon auszugehen, dass die Gesprächsbeteiligten in Elterngesprächen unterschiedliche Perspektiven auf die verschiedenen Gesprächsthemen einbringen können (Zehbe/Krähnert/Cloos 2021). Die damit potenziell einhergehenden Widersprüche, Uneindeutigkeiten und Missverständnisse in Elterngesprächen müssen hier als grundlegende Herausforderung und Ressource verstanden werden, die in einem ebenbürtigen Dialog bearbeitet – aber nicht aufgelöst werden können (ebd.).

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte Projekt „Begleitung von inklusiven Übergangsprozessen in Elterngesprächen“ (BeikE) unter der Leitung von Prof. Dr. Peter Cloos mit Isabell Krähnert und Katja Zehbe als Projektmitarbeitende hat sich daher von 2017-2021 (Förderkennzeichen: 01NV1716) mit Fragestellungen rund um Inklusion, Übergangsgestaltung und Elterngesprächen beschäftigt.

Was will das Projekt/Was ist das Phänomen?

Gegenstand unserer Untersuchung waren Elterngespräche in Kindertageseinrichtungen, die sich selbst als „integrativ“ oder „inklusiv“ bezeichnen (bspw. in ihren Internetauftritten oder Einrichtungskonzeptionen). Dabei lag der Fokus auf der Erhebung von Gesprächen über Kinder mit sog. Integrationsstatus, die möglichst an formalen Übergängen stattfanden (Übergang von der Familie in die Einrichtung, Wechsel innerhalb der Einrichtung, aus der Einrichtung hinaus) (Im Folgenden Krähnert/Zehbe/Cloos 2021). Wir haben untersucht, ob und wie in Elterngesprächen Inklusion und Übergänge gestaltet werden. Im Detail haben wir u.a. rekonstruiert, welche Formen der Zusammenarbeit sich zwischen Erziehungs- und Sorgeberechtigten und Pädagog*innen identifizieren lassen.

Es wurden folglich drei Perspektiven

  • Inklusion
  • Transition
  • Erziehungs- und Bildungspartnerschaft

miteinander verquickt und auf die diskursive Herstellung in Elterngesprächen fokussiert:

  • Wie ist das ‚Gebilde‘ Elterngespräch beschaffen? Wie sind Elterngespräche beschaffen?
  • Welche Modi des Sprechens und damit der Zusammenarbeit lassen sich rekonstruieren?
  • Wie wird dabei Inklusion entworfen und wenn ja, in welcher Weise?
  • Welche Formen von Transitionen lassen sich identifizieren?
  • Und was könnte dann als „inklusive Übergangsgestaltung“ gefasst werden?

Wie sind wir vorgegangen?

Für unsere Studie haben wir ein längsschnittliches Design gewählt. Dazu haben wir in 10 Einrichtungen in verschiedenen Bundesländern insgesamt 29 Elterngespräche über 15 Kinder in drei Erhebungsphasen erhoben. Auf diese Weise haben wir mehrere, aufeinander folgende Elterngespräche über das gleiche Kind begleitet.

Die Elterngespräche wurden auditiv aufgezeichnet, Beobachtungsprotokolle wurden flankierend angefertigt. Die Transkripte der Elterngespräche wurden mit der Gesprächsanalyse der Dokumentarischen Methode (Przyborski 2004; Cloos/Gerstenberg/Krähnert 2019) analysiert.

Was ist das Ergebnis?

Die Forschungsergebnisse unserer Studie können an dieser Stelle nur knapp skizziert werden (ausführlich in Krähnert/Zehbe/Cloos 2022). Wir konnten dabei eine Typologie von Elterngesprächen entwickeln, die wir im Folgenden kurz vorstellen möchten.

Ein zentraler Befund ist zunächst die hochvariable Gestalt der Elterngespräche. So haben wir enorme Unterschiede in der Art und Weise der Ausgestaltung der Gespräche über sog. Integrationskinder gefunden. Basistypisch – also das, was alle Elterngespräche miteinander verbindet – ist jedoch, dass sich in diesen Kommunikationen an zwei konstitutiven Bezugsproblemen abgearbeitet wird (ebd., S. 80ff):

  1. Der Vulnerabilität der Eltern hinsichtlich einer „negativen Verbesonderung“
  2. Der Herstellung einer stabilen Interaktionsorganisation mit einer höchst heterogenen Elternschaft

Das erste Bezugsproblem, die elterliche Verletzlichkeit, speist sich dabei aus der Etikettierung ihrer Kinder. Das bedeutet, dass diese Elterngespräche über Kinder mit sog. Integrationsstatus in besonderer Weise ein Potential elterlicher Verletzlichkeit bergen, da ihrem Kind – ob berechtigterweise oder nicht sei hier offen gelassen – ein Defizit, ein Mangel oder ein konkreter Förderbedarf zugeschrieben wird.

Das zweite Bezugsproblem speist sich aus der Heterogenität der Elternschaft: So sind Elterngespräche zum einen Teil der Kommunikation von Akteur*innen verschiedener Institutionen – Kindertageseinrichtungen und Familie – und damit Teil der Kommunikation an der Schnittstelle von Institutionen. Damit unterschieden sie sich deutlich von bspw. internen Teamgesprächen, in denen eine gemeinsame Perspektive und Haltung häufig bereits erarbeitet wurde. Zum anderen sind Eltern nicht nur Organisationsexterne und damit nicht mit gängigen organisationsinternen Themen, Perspektiven, Instrumentarien etc. vertraut, sondern sie sind zugleich selbst als höchst heterogene Gruppe zu verstehen. Ob eine Fachkraft einem Vater im Asylverfahren gegenübersitzt, dessen Sprache sie nicht spricht, oder einem akademisch geprägten Elternpaar macht einen deutlichen Unterschied für die Gesprächsgestaltung.

Die Bearbeitung dieser beiden Bezugsprobleme, oder Handlungsherausforderungen für alle Gesprächsteilnehmenden, wird auf drei verschiedene Weisen geleistet, die wir zu Typen kondensieren konnten (im Folgenden: Zehbe/Krähnert/Cloos 2021, S. 27).

Und was kann das für Praxis bedeuten?

In unserem Projekt BeikE wollen wir im Transferbereich ein Fallverstehen in der kindheitspädagogischen Qualifizierung in Hochschulen, Universitäten und Weiterbildung unterstützen. Fallverstehen kann als „purely professional act“ (Abbott 1988, S. 40) verstanden werden. In diesem Sinne werden gezielte Methoden benötigt, um Fallverstehen in der (Weiter-)Qualifizierung von pädagogischen Fachkräften anzubahnen. Wir denken, dass hier neben dem Forschenden Lernen die Kasuistik eine gute Möglichkeit darstellt, dies anzubahnen. Denn: Kasuistik zielt darauf ab zu verstehen, wie etwas in einer pädagogischen Praxis zum Fall wird. Wenn zum Beispiel in einem Elterngespräch begonnen wird über ein Kind zu sprechen, indem zunächst alle problematischen Aspekte zusammengetragen werden, dann wird der Fall – als ein problematischer – potenziell auch sonderpädagogischer Fall zugerichtet.

Kasuistik versucht Blicke auf Fälle zu ermöglichen mit dem Ziel zu irritieren, neue Perspektiven zu entwickeln und eigene Positionen zu Fällen herzustellen. Kasuistik ermöglicht darüber nachzudenken, ob ich etwas, das als Fall entworfen ist, ganz anders denken würde. Kasuistik stößt so deutlich ein Nachdenken über Handlungsoptionen an. Wie würde ich in dieser Situation handeln?

Für die oben in aller Kürze dargestellten Forschungserkenntnisse aus dem BeikE-Projekt haben wir daher eine Arbeitsbroschüre v.a. für Lehrende und Lernende in sozial- und kindheitspädagogischen sowie erziehungswissenschaftlichen Studien- und Ausbildungsgängen an Fach- und Hochschulen bzw. Universitäten sowie Interessierte in Aus-, Fort- und Weiterbildung entwickelt. In dieser wird theoretisch in Elterngespräche eingeführt und anhand von 14 Vignetten – als Vignette bezeichnen wir ein verdichtetes, exemplarisches Praxisbeispiel, das sich auf typische Handlungsherausforderungen bezieht – die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit konkreten Situationen aus Elterngesprächen geschaffen. Über die Arbeit mit der Broschüre wollen wir damit einen reflexiven Blick auf Elterngespräche als vulnerante Settings schärfen, indem wir zu jeder Vignette Impulsfragen und ein Angebot zur Kurzinterpretation eingefügt haben. Damit geht es darum,

  • Für was Allgemeines steht der Fall?
  • In welcher Weise helfen mir die Theorien, einen Fall zu verstehen?
  • die eigenen Orientierungen und praktischen Erfahrungen mit dem empirischen Fall und den daraus abgeleiteten Ergebnissen in Beziehung zu setzen.
  • Fälle zu kontrastieren.

Unsere Broschüre „Elterngespräche und die Gestaltung von (inklusionsorientierten) Übergängen in Kindertageseinrichtungen“ steht kostenfrei auf der Online-Plattform Plattform für Forschungs- und Fallorientiertes Lernen | Fallzentrale | https://doi.org/10.18442/pforle zur Verfügung und kann als Download vor allem für die hochschulische Lehre in der Kindheitspädagogik, aber auch der Aus-, Fort- und Weiterbildung und von alle Interessierten genutzt werden.

https://hildok.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/1205

Die Ergebnisse unseres Projekts können ausführlich und kostenfrei hier nachgelesen werden:

Krähnert, I./Zehbe, K./Cloos, P. (2022): Polyvalenz und Vulneranz: Empirische Perspektiven auf inklusionsorientierte Übergangsgestaltung in Elterngesprächen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/produkte/details/47425-polyvalenz-und-vulneranz.html

Literaturverweise

Abbott, A. (1988). The System of Profession. Chicago: University of Chicago Press.

Betz, T. (2015). Das Ideal der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft. Kritische Fragen an eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtungen, Grundschulen und Familien. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Cloos, P.,/Gerstenberg, F.  & Krähnert, I. (2019). Kind – Organisation – Feld. Komparative Perspektiven auf kindheitspädagogische Teamgespräche. Weinheim: Beltz Juventa.

Krähnert, I./Zehbe, K./Cloos, P. (2022): Polyvalenz und Vulneranz: Empirische Perspektiven auf inklusionsorientierte Übergangsgestaltung in Elterngesprächen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/produkte/details/47425-polyvalenz-und-vulneranz.html

Przyborski, A. (2004). Gesprächsanalyse und dokumentarische Methode. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Zehbe, K., Krähnert, I. & Cloos, P. (2021). Elterngespräche und die Gestaltung von (inklusionsorientierten) Übergängen in Kindertageseinrichtungen. Arbeitsmaterialien für die fallorientierte Lehre. Hildesheim: Universitätsverlag. https://dx.doi.org/10.18442/pforle-1.

Ansprechperson

Dr. Katja Zehbe, zehbe@hs-nb.de
Vertretung der Professur für Kindheit und Sozialisation mit Schwerpunkt struktur- und prozessbezogene Steuerung an der Hochschule Neubrandenburg, Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung

Geschlecht und die Pädagogische Irrelevanzdemonstration in Krippen

| Svenja Garbade |

Diskussionen um Gender und Geschlecht sind vor dem Hintergrund der Vermeidung sozialer Ungleichheit in der Praxis der Kindertageseinrichtungen präsent (Kubandt, 2019). Vor allem die Diskussion um das Geschlecht der Fachkräfte und die Förderung von Kindern unterschiedlichen Geschlechts wird immer wieder geführt (Rose & Stibane, 2013). Forschungsergebnisse darüber, welche Deutungsmuster die pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen zu Geschlecht haben, gibt es aber bisher nicht (Brandes et al., 2016; Kuger et al., 2014). Somit war dies das Thema meines Dissertationsprojekts, um die Forschungslücke zu schließen, welche Deutungen überhaupt zu Geschlecht in der Kindertagesstätte vorhanden sind.

In meiner Dissertation

  • habe ich pädagogische Fachkräfte im Krippenalltag mit der Kamera begleitet und sie beobachtet.
  • habe ich Interviews auf Basis der erstellen Videoszenen mit den Fachkräften geführt.

Da die Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen durch die Bildungs- und Orientierungspläne dazu aufgefordert sind, geschlechtergerecht zu arbeiten (Meyer, 2018), stellt sich die Frage, wie diese selbst das bewerten und wo sie diese Anforderung ggf. bereits umsetzen. Wie Geschlechtergerechtigkeit verstanden wird, ist dabei keinesfalls vorherzusehen, sondern wird je nach Forschung unterschiedlich betrachtet (Kubandt, 2016; Kubandt & Meyer, 2012). Die Forschung hatte dabei nicht zum Zweck zu beurteilen, ob die Fachkräfte sich richtig oder falsch verhalten. Vielmehr stand im Mittelpunkt, wie sie die Anforderung nach Geschlechtergerechtigkeit bewerten und von welchen Umgangsweisen sie im Interview berichten, damit folgt die Untersuchung einem anti-normativen Zugang (Kuhn, 2013).

Was will das Projekt? Was ist das Phänomen?

Geschlecht als Strukturkategorie[1] zu fassen bedeutet anzuerkennen, dass soziale Ungleichheit auch durch Geschlecht ausgelöst und mitbestimmt wird (Butler, 2014). Dabei wird anhand der biologischen Zuordnung bestimmt, welche Person welches Geschlecht (weiblich*, männlich*, divers*)[2] zugeordnet bekommt. Die viel weitreichendere Konsequenz ergibt sich im Sozialen durch diese Zuordnungen, da Geschlecht immer auch mit (Rollen-)Erwartungen und (Interessens-)Zuschreibungen verbunden ist. Diese können im Falle einer Nicht-Erfüllung von stereotypen Erwartungen zu sozialer Ungleichheit führen und Ausgrenzungsprozesse zur Folge haben (Bereswill, 2014). Auch können die Subjekte sich aufgrund dieser Erwartungen, die bereits in sehr früher Kindheit unbewusst oder bewusst an sie herangetragen werden, sich unter Umständen nicht völlig frei nach ihren Persönlichkeitsmerkmalen und Interessen entfalten. Diese Wirkweise von Geschlecht als Strukturkategorie ist vielfach erforscht und im wissenschaftlichen Diskurs wenig umstritten (Diehm et al., 2017).

In der Kindheitspädagogik werden Kinder in sozialen Einrichtungen von ausgebildetem Fachpersonal betreut. Die Bildungs- und Orientierungspläne, wie auch die Berufsbezeichnungen gehen davon aus, dass pädagogische Fachkräfte und die zugehörigen Kindertageseinrichtungen eine kompensatorische Wirkung gegenüber sozialen Ungleichheiten einnehmen sollen: sie sollen sich also gegen soziale Ungleichheit einsetzen (Betz, 2010). Nun sind Geschlechterstereotype ein Thema, das alle Personen betrifft und die gesellschaftlichen Strukturen sind fest verankert. Um herauszufinden, welche Deutungsmuster die pädagogischen Fachkräfte zu Geschlecht haben und welche Bedeutung sie dem in ihrem pädagogischen Alltag zuschreiben, bin ich in den Krippenalltag gegangen und habe danach gefragt.

Wie bin ich vorgegangen?

Dafür habe ich 12 Stimulated-Recall-Interviews mit pädagogischen Fachkräften unterschiedlicher Qualifikation in fünf unterschiedlichen Krippen geführt. Stimulated-Recall-Interviews (Dempsey, 2010) zeichnen sich dadurch aus, dass sie Videos der Interviewten als Auftakt für das Interview nutzen und damit eine Reflexionsebene am eigenen Handeln ermöglichen. Ursprünglich kommt diese Technik aus der Unterrichtsforschung. Die Videos dienen zum Gespräch über das eigene pädagogische Tun und die Interviews wurden durch einen Leitfaden strukturiert. Die Auswertung erfolgt über die Konstruktivistische Grounded Theory (Charmaz, 2014). Ziel war es herauszufinden, wie die pädagogischen Fachkräfte Geschlecht als relevante Kategorie in ihrem Alltag bewerten und welchen Umgang sie damit schildern. Zusätzlich habe ich nach Werten und Einstellungen gegenüber Geschlecht geschaut und diese in vier maximal kontrastierende Fälle gegenüber gestellt und ein Deutungsmuster als Kernkategorie herausgearbeitet.

Was ist das Ergebnis?

Die Kernkategorie ist das Deutungsmuster der pädagogischen Irrlevanzdemonstration. Es ließ sich zeigen, dass die Interviewten zwischen Relevanz und Irrelevanz von Geschlecht immer wieder wechselten: sie legten sich also nicht fest, ob Geschlecht für sie wichtig oder unwichtig in der pädagogischen Praxis war. Ich fragte mich, warum das so sei und stellte fest: immer wenn es um Erwachsene ging, wurde Geschlecht wichtig: in der Art der Zusammenarbeit zwischen Männern* und Frauen*, in der Arbeit mit den Sorgetragenden ist Geschlecht als Kategorie der Abgrenzung und der Ähnlichkeit für die Fachkräfte wichtig. Bei den Kindern wurde Geschlecht als nicht wichtig erachtet, weil dort Geschlecht als pädagogische Aufgabe entweder als

  1. pädagogisch bereits bearbeitet erachtet wurde oder
  2. pädagogisch als nicht bearbeitungsnotwendig hergestellt wird.

Das hat große Konsequenzen, denn es bedeutet, dass Geschlecht zu keinem Zeitpunkt bei der Akteur*innengruppe der Kinder relevant für die Fachkräfte wird. Sie müssen es also pädagogisch nicht berücksichtigen. In den geführten Interviews wird diese Perspektive gut sichtbar. Es konnten drei Strategien des Umgangs rekonstruiert werden:

a. individualisierende Strategie
b. affirmativ-normalisierende Strategie
c. räumlich-egalisierende Strategie

Dabei werden alle drei Strategien von allen Fachkräften angewendet, sind also keine Typen von Personen, sondern stellen Typen von Deutungen dar, wie argumentiert werden kann. Mit Blick auf die Akteur*innengruppe der Kinder stelle ich die drei Strategien anhand exemplarischer Interviewausschnitte vor[3].

a. Individualisierende Strategie

In der individualisierenden Strategie beschreiben die Fachkräfte die Behandlung des Themas Geschlecht als nicht notwendig, WEIL diese die Kinder individuell betrachten würden. Im folgenden Ausschnitt wird Bettina[4] gefragt, warum sie vorher sagt, dass sie sich über Geschlecht keine Gedanken mache.

„I: was glaubst du, warum machst du dir keine Gedanken darüber?
E1: (3) ich seh das KIND, also ich seh in dem Moment nicht das Geschlecht, ich seh das Kind=das Kind braucht Hilfe beim Anziehen und ich helfe ihm. Und wenn es mir seine Haarspangen und seine Haargummis hinlegt dann, alles klar, ich mach da jetzt noch die Zöpfe oder ich bind die Haare zusammen oder, ähm (..) das witzige ist, bei Sam, der kam auch schon mit Haarspangen, ähm, und dann hab ich auch IHM die Haarspangen reingemacht und das ist mir dann- also ich find das dann nicht wichtig. Er fands schön (.) dann machen wir das (.) so (hm) hat er sich gefreut drüber ((lacht))“  (SRI Bettina Wiese)[5]

Sie antwortet damit, dass das Kind im Mittelpunkt stünde, sie auf die Bedürfnisse des Einzelnen achte, jedoch nicht nach Geschlecht einen Unterschied machen würde. Dies legitimiert sie auch damit, dass sie danach anführt, dass sie auch Sam – dem Kind aus dem Video – eine Haarspange ins Haar geklemmt hat, weil er es wünschte. Somit wird Geschlecht für diese Situation nicht als relevant und zu bearbeiten gerahmt.

Der Blick auf die individuelle Betrachtung wir höher priorisiert als die strukturellen Diskriminierungen, die für das Kind entstehen. An der strukturellen Diskriminierung durch die Zuordnung zu einem Geschlecht wird erst einmal nichts geändert. Zur Einordnung: Die individuelle Betrachtung gilt als der beste Weg dem Kind gerecht zu werden, da sie in vielen pädagogischen Bereichen als bester Weg des Umgangs mit Heterogenität gilt. Damit würde die Dimension Geschlecht als bereits bearbeitet gelten. Wenn jedoch die Konsequenz zu sein scheint, dass die individuelle Betrachtung das Wissen um strukturelle Diskriminierungen obsolet macht, ist die Konsequenz die Dethematisierung.

b. Die affirmativ-normalisierende Strategie

In der affirmativ-normalisierenden Strategie gehen die Fachkräfte davon aus, dass kein Handlungsbedarf besteht, weil die Unterschiedlichkeiten nicht benannt oder ausgeglichen werden müssten. Jungen* und Mädchen* mit ihren zugeschriebenen Eigenschaften werden als positive Bereicherung im Sinne eines kritiklosen Vielfaltsdiskurses bestimmt. Dabei wird die Differenz durch die Zuschreibung zu erst einmal stereotypen Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften selbst zur Benachteiligung. Im Fall von Elisas Interview wird dies deutlich, indem sie auf die natürlichen Unterschiede zwischen Mädchen* und Jungen* verweist.

„E10: Grundspezifische äh Verhaltensweisen und Spielverhalten gibt bei bei Jungs und bei Mädchen, und ähm ich weiß dass bei meinen Mädchen ähm, die sind grundverschieden und (.) natürlich haben die sicherlich bei dem einen andere Dinge gemacht als bei dem anderen, aber ähm ich weiß wenn ich meinen Kindern ein Auto hingestellt hab und ne Puppe, es war immer die Puppe. Also das soll jetzt nicht heißen dass das bei allen Mädchen so ist gibt sicherlich auch andere Mädchen, ähm (..) aber wenn ich mir das so angucke, grade hier auch in der Krabbelgruppe wenn die so anfangen, womit sie spielen und wo ihr INTERESSE liegt, dann gibt es schon Mädchen und Jungs (.) also ich finde, für mich gibt es da Unterschiede.“ (SRI Elisa Kanne)

Dabei bezieht sich Elisa auf ihre Erfahrungen zurück und verweist – auch an anderen Stellen im Interview – auf vorveranlagte Unterschiede in Interesse und Persönlichkeit, weil die Aufgabenspektren sich unterscheiden würden, wenn die Kinder groß seien. So würden Mädchen* auf die Care-Tätigkeit vorbereitet, während Jungen* im Wettbewerb und technischen Interessen stehen würden. Da Elisa davon ausgeht, dass dies eine Art natürlicher Ordnung darstellt, besteht für sie kein Handlungs- oder Interventionsbedarf dahingehend.

c. Die räumlich-egalisierende Strategie

In dieser Strategie wird Geschlecht als nicht bearbeitungsnotwendig markiert, weil in der Krippe keine Ungleichheit stattfinden kann. Dies wird begründet mit dem Zeichnen einer ungerechten Welt, die Menschen unterschiedlich behandelt und aus diskriminiert. In der Krippe jedoch würde eine Art Insel bestehen, die keine Ungleichheit ermögliche. Da an der äußeren Welt nichts geändert werden könne, und im Inneren keine Ungleichheit bestehe, erfolgt auch hier eine Dethematisierung. In Bettinas Interview wird dies besonders deutlich über Spielmaterial, was von außen an die Krippe herangetragen wird und welches in der Krippe vorhanden ist.

„E1: (.) also, es ist mit den Jungs wie mit den Mädchen, unsere Jungs bringen derzeit alle Autos mit, es ist kein einziges Mädchen dabei, was ein Auto mitbringt (.) also das macht sich zur Zeit grade ganz doll bemerkbar, die Mädchen bringen dann eher mal n Kuscheltier mit oder ne Puppe, aber die Jungs bringen grade die Matchboxautos mit (.) das ist grad so ne, so ne Jungsdomäne bei uns. Die Mädchen klinken sich da jetzt son bisschen mit ein, aber (.) es ist nicht so dass sie von zu Hause mal eins mitbringen
I: und da wird Geschlecht ja schon relevant im Alltag, oder?
E1: Ja, wenn mans so sieht ja. Also nicht von uns, also das ist jetzt nicht das was   wir so vorgeben, sondern es sind einfach die verschiedenen Materialien, die wir anbieten.“ (SRI Bettina Wiese)

Während die Kinder unterschiedliche Spielmaterialien in die Krippe bringen, wird deutlich, dass Bettina unterscheidet in der Zuständigkeit für Spielmaterial, je nachdem, ob die Kinder dies von zu Hause mitbringen oder sie und die Kolleg*innen dieses in der Krippe bereit stellen. Die geschlechtliche Konnotation im Spielen wird hier durch die unter Dreijährigen selbst in die Krippe gebracht. Das große Interesse wird wahrgenommen, jedoch pädagogisch darauf nicht reagiert, weil das Spielmaterial von außen durch die Kinder herangetragen wird. Somit wird keine pädagogische Intervention, wie die Bereitstellung von mehr Autos im Krippenraum, als relevant erachtet.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Die Strategien der pädagogischen Irrelevanzdemonstration zeigen auf, dass eine Dethematisierung der Relevanz von Geschlecht in pädagogischen Settings entstanden ist. Die Ursachen haben etwas mit dem gesellschaftlichen Bild von Geschlecht wie auch der Kindheitspädagogik zu tun (Garbade, 2021).

Konsequenzen für die pädagogische Praxis selbst kann es sein, sich zu fragen: wie kann ich Geschlechtergerechtigkeit in der Einrichtung erstens anerkennen und zweitens umsetzen? Wenn die Dethematisierung, also das unbewusste Bagatellisieren von Unterschieden bezüglich des Geschlechts, ein Deutungsmuster ist, betrifft dies höchstwahrscheinlich sehr viele pädagogische Fachkräfte, und auch einen selbst. Die Anerkennung, dass diskriminierende Denkstrukturen bei uns allen vorhanden sind, kann ein erster Schritt sein, um sich selbst auf bestimmte Verhaltensweisen, Aussprüche und Strukturen hinzuweisen. Hilfreich ist es dann, sich routiniert die Frage zu stellen: was hat diese Situation mit Geschlecht zu tun? Dabei ist es besonders erforderlich, fehlerfreundlich mit sich selbst zu sein. Diskriminierendes Denken aufzugeben, bedeutet einen lebenslangen Prozess und das ist okay. Die Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit in der Einrichtung selbst kann bei Kleinigkeiten anfangen:

  • Welches Spielmaterial setzen wir ein?
  • Wie wählen wir es aus?
  • Wie sprechen wir Eltern an? Sprechen wir Mütter* anders als Väter* an? Wenn ja, warum?
  • Wo kann ich Mädchen* ermöglichen nicht-stereotypes Spiel zu spielen? Wie kann ich Jungen* Gefühle zeigen und freien Kleidungsstil ermöglichen?
  • Warum fallen mir Stereotype leichter, als umzudenken?

Auch hier ist es relevant, Scheitern nicht als den Beweis für das eigene Unvermögen zu betrachten, sondern sich produktiv zu fragen, was das Scheitern mit Geschlechterstereotypen zu tun hat.

Literaturverweise

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[1] Strukturkategorie meint, dass Geschlecht kein Merkmal einer Person ist, sondern eine Vorstellung von Normen beinhaltet, an die sich die Personen mit einem zugeordneten Geschlecht halten sollen (Gildemeister 2012).

[2] Ein Sternchen wird den Begriffen Frau*, Mann*, Mädchen*, Jungen*, weiblich*, männlich* und divers* angehängt, um darauf aufmerksam zu machen, dass diese lediglich Rollenkonzepte vor dem Hintergrund unserer Gesellschaft darstellen und keine Eigenschaften oder Interessen über diese Kategorien zuzuschreiben sind.

[3] Siehe zur detaillierten Darstellung der Ergebnisse gern Garbade (2021)

[4] Alle Namen von Kindern und Fachkräften sind für diesen Artikel anonymisiert.

[5] In der Forschung wird gesprochenes im Wortlaut transkribiert. Die Transkription folgt dabei anderen Regeln als die Rechtschreibung: GROß geschriebenes bedeutet ein ganz besonders betontes Wort, ein Punkt in der Klammer (.) bedeutet eine Sekunde Pause im Redefluss, zwei Punkte zwei Sekunden usw.