Elterngespräche als vulnerante Settings in inklusiven Kontexten

| Katja Zehbe |

Elterngespräche sind ein Kernbestandteil kindheitspädagogischer Settings und stellen als Teil der Kommunikation zwischen Kindertageseinrichtungen und Erziehungs- und Sorgeberechtigten ein Bindeglied zwischen diesen beiden dar.

„Diese spezifische Form des regulären Austauschs ist institutionell gerahmt: So findet das Elterngespräch in der Kindertageseinrichtung statt, liegt in der Pflicht und Zuständigkeit der pädagogischen Fachkräfte, diese laden in der Regel zu diesen Gesprächen ein und bereiten sie gewöhnlich auch vor“ (Zehbe/Krähnert/Cloos 2021, S. 10).

Elterngespräche werden damit als Teil der zu etablierenden und zu pflegenden Erziehungs- und Bildungspartnerschaft angesehen und gehen häufig mit hohen Erwartungen und Hoffnungen, (ausführlich Betz 2015), aber auch spezifischen Herausforderungen und Ressourcen einher. So ist etwa davon auszugehen, dass die Gesprächsbeteiligten in Elterngesprächen unterschiedliche Perspektiven auf die verschiedenen Gesprächsthemen einbringen können (Zehbe/Krähnert/Cloos 2021). Die damit potenziell einhergehenden Widersprüche, Uneindeutigkeiten und Missverständnisse in Elterngesprächen müssen hier als grundlegende Herausforderung und Ressource verstanden werden, die in einem ebenbürtigen Dialog bearbeitet – aber nicht aufgelöst werden können (ebd.).

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte Projekt „Begleitung von inklusiven Übergangsprozessen in Elterngesprächen“ (BeikE) unter der Leitung von Prof. Dr. Peter Cloos mit Isabell Krähnert und Katja Zehbe als Projektmitarbeitende hat sich daher von 2017-2021 (Förderkennzeichen: 01NV1716) mit Fragestellungen rund um Inklusion, Übergangsgestaltung und Elterngesprächen beschäftigt.

Was will das Projekt/Was ist das Phänomen?

Gegenstand unserer Untersuchung waren Elterngespräche in Kindertageseinrichtungen, die sich selbst als „integrativ“ oder „inklusiv“ bezeichnen (bspw. in ihren Internetauftritten oder Einrichtungskonzeptionen). Dabei lag der Fokus auf der Erhebung von Gesprächen über Kinder mit sog. Integrationsstatus, die möglichst an formalen Übergängen stattfanden (Übergang von der Familie in die Einrichtung, Wechsel innerhalb der Einrichtung, aus der Einrichtung hinaus) (Im Folgenden Krähnert/Zehbe/Cloos 2021). Wir haben untersucht, ob und wie in Elterngesprächen Inklusion und Übergänge gestaltet werden. Im Detail haben wir u.a. rekonstruiert, welche Formen der Zusammenarbeit sich zwischen Erziehungs- und Sorgeberechtigten und Pädagog*innen identifizieren lassen.

Es wurden folglich drei Perspektiven

  • Inklusion
  • Transition
  • Erziehungs- und Bildungspartnerschaft

miteinander verquickt und auf die diskursive Herstellung in Elterngesprächen fokussiert:

  • Wie ist das ‚Gebilde‘ Elterngespräch beschaffen? Wie sind Elterngespräche beschaffen?
  • Welche Modi des Sprechens und damit der Zusammenarbeit lassen sich rekonstruieren?
  • Wie wird dabei Inklusion entworfen und wenn ja, in welcher Weise?
  • Welche Formen von Transitionen lassen sich identifizieren?
  • Und was könnte dann als „inklusive Übergangsgestaltung“ gefasst werden?

Wie sind wir vorgegangen?

Für unsere Studie haben wir ein längsschnittliches Design gewählt. Dazu haben wir in 10 Einrichtungen in verschiedenen Bundesländern insgesamt 29 Elterngespräche über 15 Kinder in drei Erhebungsphasen erhoben. Auf diese Weise haben wir mehrere, aufeinander folgende Elterngespräche über das gleiche Kind begleitet.

Die Elterngespräche wurden auditiv aufgezeichnet, Beobachtungsprotokolle wurden flankierend angefertigt. Die Transkripte der Elterngespräche wurden mit der Gesprächsanalyse der Dokumentarischen Methode (Przyborski 2004; Cloos/Gerstenberg/Krähnert 2019) analysiert.

Was ist das Ergebnis?

Die Forschungsergebnisse unserer Studie können an dieser Stelle nur knapp skizziert werden (ausführlich in Krähnert/Zehbe/Cloos 2022). Wir konnten dabei eine Typologie von Elterngesprächen entwickeln, die wir im Folgenden kurz vorstellen möchten.

Ein zentraler Befund ist zunächst die hochvariable Gestalt der Elterngespräche. So haben wir enorme Unterschiede in der Art und Weise der Ausgestaltung der Gespräche über sog. Integrationskinder gefunden. Basistypisch – also das, was alle Elterngespräche miteinander verbindet – ist jedoch, dass sich in diesen Kommunikationen an zwei konstitutiven Bezugsproblemen abgearbeitet wird (ebd., S. 80ff):

  1. Der Vulnerabilität der Eltern hinsichtlich einer „negativen Verbesonderung“
  2. Der Herstellung einer stabilen Interaktionsorganisation mit einer höchst heterogenen Elternschaft

Das erste Bezugsproblem, die elterliche Verletzlichkeit, speist sich dabei aus der Etikettierung ihrer Kinder. Das bedeutet, dass diese Elterngespräche über Kinder mit sog. Integrationsstatus in besonderer Weise ein Potential elterlicher Verletzlichkeit bergen, da ihrem Kind – ob berechtigterweise oder nicht sei hier offen gelassen – ein Defizit, ein Mangel oder ein konkreter Förderbedarf zugeschrieben wird.

Das zweite Bezugsproblem speist sich aus der Heterogenität der Elternschaft: So sind Elterngespräche zum einen Teil der Kommunikation von Akteur*innen verschiedener Institutionen – Kindertageseinrichtungen und Familie – und damit Teil der Kommunikation an der Schnittstelle von Institutionen. Damit unterschieden sie sich deutlich von bspw. internen Teamgesprächen, in denen eine gemeinsame Perspektive und Haltung häufig bereits erarbeitet wurde. Zum anderen sind Eltern nicht nur Organisationsexterne und damit nicht mit gängigen organisationsinternen Themen, Perspektiven, Instrumentarien etc. vertraut, sondern sie sind zugleich selbst als höchst heterogene Gruppe zu verstehen. Ob eine Fachkraft einem Vater im Asylverfahren gegenübersitzt, dessen Sprache sie nicht spricht, oder einem akademisch geprägten Elternpaar macht einen deutlichen Unterschied für die Gesprächsgestaltung.

Die Bearbeitung dieser beiden Bezugsprobleme, oder Handlungsherausforderungen für alle Gesprächsteilnehmenden, wird auf drei verschiedene Weisen geleistet, die wir zu Typen kondensieren konnten (im Folgenden: Zehbe/Krähnert/Cloos 2021, S. 27).

Und was kann das für Praxis bedeuten?

In unserem Projekt BeikE wollen wir im Transferbereich ein Fallverstehen in der kindheitspädagogischen Qualifizierung in Hochschulen, Universitäten und Weiterbildung unterstützen. Fallverstehen kann als „purely professional act“ (Abbott 1988, S. 40) verstanden werden. In diesem Sinne werden gezielte Methoden benötigt, um Fallverstehen in der (Weiter-)Qualifizierung von pädagogischen Fachkräften anzubahnen. Wir denken, dass hier neben dem Forschenden Lernen die Kasuistik eine gute Möglichkeit darstellt, dies anzubahnen. Denn: Kasuistik zielt darauf ab zu verstehen, wie etwas in einer pädagogischen Praxis zum Fall wird. Wenn zum Beispiel in einem Elterngespräch begonnen wird über ein Kind zu sprechen, indem zunächst alle problematischen Aspekte zusammengetragen werden, dann wird der Fall – als ein problematischer – potenziell auch sonderpädagogischer Fall zugerichtet.

Kasuistik versucht Blicke auf Fälle zu ermöglichen mit dem Ziel zu irritieren, neue Perspektiven zu entwickeln und eigene Positionen zu Fällen herzustellen. Kasuistik ermöglicht darüber nachzudenken, ob ich etwas, das als Fall entworfen ist, ganz anders denken würde. Kasuistik stößt so deutlich ein Nachdenken über Handlungsoptionen an. Wie würde ich in dieser Situation handeln?

Für die oben in aller Kürze dargestellten Forschungserkenntnisse aus dem BeikE-Projekt haben wir daher eine Arbeitsbroschüre v.a. für Lehrende und Lernende in sozial- und kindheitspädagogischen sowie erziehungswissenschaftlichen Studien- und Ausbildungsgängen an Fach- und Hochschulen bzw. Universitäten sowie Interessierte in Aus-, Fort- und Weiterbildung entwickelt. In dieser wird theoretisch in Elterngespräche eingeführt und anhand von 14 Vignetten – als Vignette bezeichnen wir ein verdichtetes, exemplarisches Praxisbeispiel, das sich auf typische Handlungsherausforderungen bezieht – die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit konkreten Situationen aus Elterngesprächen geschaffen. Über die Arbeit mit der Broschüre wollen wir damit einen reflexiven Blick auf Elterngespräche als vulnerante Settings schärfen, indem wir zu jeder Vignette Impulsfragen und ein Angebot zur Kurzinterpretation eingefügt haben. Damit geht es darum,

  • Für was Allgemeines steht der Fall?
  • In welcher Weise helfen mir die Theorien, einen Fall zu verstehen?
  • die eigenen Orientierungen und praktischen Erfahrungen mit dem empirischen Fall und den daraus abgeleiteten Ergebnissen in Beziehung zu setzen.
  • Fälle zu kontrastieren.

Unsere Broschüre „Elterngespräche und die Gestaltung von (inklusionsorientierten) Übergängen in Kindertageseinrichtungen“ steht kostenfrei auf der Online-Plattform Plattform für Forschungs- und Fallorientiertes Lernen | Fallzentrale | https://doi.org/10.18442/pforle zur Verfügung und kann als Download vor allem für die hochschulische Lehre in der Kindheitspädagogik, aber auch der Aus-, Fort- und Weiterbildung und von alle Interessierten genutzt werden.

https://hildok.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/1205

Die Ergebnisse unseres Projekts können ausführlich und kostenfrei hier nachgelesen werden:

Krähnert, I./Zehbe, K./Cloos, P. (2022): Polyvalenz und Vulneranz: Empirische Perspektiven auf inklusionsorientierte Übergangsgestaltung in Elterngesprächen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/produkte/details/47425-polyvalenz-und-vulneranz.html

Literaturverweise

Abbott, A. (1988). The System of Profession. Chicago: University of Chicago Press.

Betz, T. (2015). Das Ideal der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft. Kritische Fragen an eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtungen, Grundschulen und Familien. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Cloos, P.,/Gerstenberg, F.  & Krähnert, I. (2019). Kind – Organisation – Feld. Komparative Perspektiven auf kindheitspädagogische Teamgespräche. Weinheim: Beltz Juventa.

Krähnert, I./Zehbe, K./Cloos, P. (2022): Polyvalenz und Vulneranz: Empirische Perspektiven auf inklusionsorientierte Übergangsgestaltung in Elterngesprächen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/produkte/details/47425-polyvalenz-und-vulneranz.html

Przyborski, A. (2004). Gesprächsanalyse und dokumentarische Methode. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Zehbe, K., Krähnert, I. & Cloos, P. (2021). Elterngespräche und die Gestaltung von (inklusionsorientierten) Übergängen in Kindertageseinrichtungen. Arbeitsmaterialien für die fallorientierte Lehre. Hildesheim: Universitätsverlag. https://dx.doi.org/10.18442/pforle-1.

Ansprechperson

Dr. Katja Zehbe, zehbe@hs-nb.de
Vertretung der Professur für Kindheit und Sozialisation mit Schwerpunkt struktur- und prozessbezogene Steuerung an der Hochschule Neubrandenburg, Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung