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Handlungsprogramm „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ – ein kommunales Programm zur Unterstützung von Kitas in belasteten Sozialräumen

| Annekatrin Lorenz und Silke Stöcker |

Kindertageseinrichtungen übernehmen neben der Familie eine wachsende Verantwortung für die Bildung und Entwicklung von Kindern im Vorschulalter. Sie bieten Kindern einen Ort, an dem sie sich wohlfühlen können und die Chance, sich nach ihren Interessen und Neigungen zu entfalten, Wissen anzueignen, Vielfalt zu erleben und soziale Erfahrungen zu sammeln.

Pädagogische Fachkräfte stellen sich der Aufgabe, den Potenzialen und besonderen Bedürfnissen aller Kinder gerecht zu werden. Sie stehen dabei vor der Herausforderung, die individuellen Lebenslagen der Kinder noch stärker als bisher in den Blick zu nehmen, um den Alltag in der Kindertagesstätte für alle Kinder anschlussfähig zu machen.

Was will das Projekt? Was ist das Phänomen?

Kitas in Stadträumen mit einer hohen Verdichtung sozialer Problemlagen sind in mehrfacher Weise herausgefordert. Sie begleiten eine hohe Anzahl an Kindern mit schwierigen Aufwachsensbedingungen (Armutslagen, psychisch erkrankte Eltern, Flucht- und Migrationserfahrung) und den damit verbundenen Risiken und Folgen für ihre Entwicklung. Zugleich sind die Kitas dadurch oft strukturell und fachlich besonders beansprucht. Beide Risikolagen, die auf Seiten der Kinder und Familien, wie auch auf Seiten der Institution, verdichten sich und schaukeln einander gegenseitig auf (Doppelkumulation, vgl. Sehm-Schurig 2023).

Das Dresdner Handlungsprogramm möchte Kitateams darin unterstützen, diesen Herausforderungen fachlich gestärkt zu begegnen und die Kita zu einem guten und sicheren Lern- und Entfaltungsort für alle Kinder mit ihren je individuellen Bedürfnissen und Vorerfahrungen zu entwickeln. Der Blick liegt aber auch darauf, was pädagogische Fachkräfte brauchen, um der andauernden Beanspruchung gut gewachsen zu sein und die eigenen Ressourcen zu erhalten. 

Wie sind wir vorgegangen?

Seit 2008 werden im Abstand von 3 bis 5 Jahren Kitas nach einrichtungs- und stadtteilbezogenen Sozialdaten für die Beteiligung am Programm ausgewählt (Dresdner Mehrbedarfsindex). In den auf diese Weise vorausgewählten Kitas werden Gruppendiskussionen mit mindestens der Hälfte des Teams geführt, um deren Binnenperspektive auf die Situation der Einrichtung und die Lebenslagen der Kinder und Familien, die sie betreuen, zu erfassen. Dieser partizipative Ansatz dient der Validierung der statistischen Vorauswahl, führt aber auch zu einer ersten Sensibilisierung der Pädagog*innen für die Ziele und inhaltlichen Orientierungen im Programm und unterstützt damit die Motivation für die Beteiligung.

Abbildung 1 Struktur im Dresdner Handlungsprogramm „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ (eigene Darstellung)

Das Kompetenz- und Beratungszentrum (KBZ) begleitet die Einrichtungen in ihren je unterschiedlichen Entwicklungswegen mit dem Ziel, eine lebenslagenorientierte Alltagspraxis zu entwickeln, Teilhabebarrieren aufzuspüren und abzubauen. Fachliche Grundlage hierfür ist das Entwicklungskonzept „Lebenslagensensible Kindertageseinrichtung“ (Lorenz, Stöcker et.al. 2021).

Die zusätzlichen Ressourcen für die beteiligten Kitas bestehen darüber hinaus in einer*einem sozialpädagogischen Mitarbeiter*in (SPMA) und erhöhter verfügungsfreier Zeit für das Team. In den 14 Kitas, die auf den höchsten Rängen im sog. Mehrbelastungsindex stehen, wurde das Personal um bis zu 70% in der Kernzeit aufgestockt, es erfolgt eine sehr dichte Prozessbegleitung und ein erhöhtes Sachkostenbudget steht zur Verfügung (Aktionsplan „zusätzliche Ressourcen – Kita²“).

Was ist das Ergebnis?

Schritt 1: Etablierung der Funktionsstelle der SPMA

Die zusätzliche Stelle eines/einer sozialpädagogischen Mitarbeitenden war zunächst Kernelement im Handlungsprogramm. Sie ergänzt die frühpädagogische Perspektive und deren Wirkungsfeld in den Programmeinrichtungen, indem sie den Blick auf Ursachen und Folgen sozialer Ungleichheiten in den pädagogischen Alltag einbringt. Die Umsetzung der Programmziele liegt nicht auf den Schultern dieser einzelnen Person, sondern wird vom gesamten Team der Einrichtung getragen.

Die Aufgabenfelder der/des SPMA liegen auf den Wirkungsebenen der Kinder, der Familien, des pädagogischen Teams sowie der Vernetzung im Sozialraum.

Schritt 2: Schaffung von Reflexionsräumen

Die Mitarbeiter*innen des KBZ unterstützten die Kita-Teams darin, sich für den kollegialen Austausch Freiräume zu erschließen und Kompetenzen anzueignen. Zu diesem Zweck wurde auch die Vernetzung der beteiligten Einrichtungen untereinander befördert und durch entsprechende Formate flankiert (Leitungscurriculum, Austauschformate für Leitungsteams und Reflexionsgruppen).   

In diesen Diskursräumen werden sich schwierig gestaltende Entwicklungsbegleitungen von Kindern und Familien und mögliche Ursachen in der familiären Lebenssituation reflektiert. Aber auch die eigene pädagogische Praxis wird dabei kritisch in den Blick genommen: an welcher Stelle behindern unsere Abläufe und Strukturen, aber auch die Form und Ausgestaltung unserer Angebote kindliche und familiäre Teilhabe und wo reproduzieren wir somit soziale Ungleichheiten?

Schritt 3: Erkundung und Beantwortung von spezifischen Fortbildungsbedarfen

Das KBZ bietet im Rahmen einer einrichtungsbezogen geplanten Fortbildungsstrategie fachlichen Input für die Teams (Inhouse und übergreifend), bspw. zum Lebenslagenkonzept, Kinderarmut, Umgang mit familienkultureller Vielfalt und Mehrsprachigkeit, Kinderrechte und institutioneller Kinderschutz, Traumapädagogik, Resilienz bei Kindern und Fachkräften u.v.m. Es etabliert Formate für den kollegialen fachlichen Austausch (Kollegiale Beratung, Kindbesprechung) und erarbeitet passgenau Fachempfehlungen, Methoden und Praxishandreichungen.

Schritt 4: Etablierung zielgruppenorientierter Angebote und Netzwerkarbeit

Aus den Reflexionen der pädagogischen Alltagspraxis werden Handlungsableitungen für die Gestaltung einer passfähigeren Angebotsstruktur für Kinder und Familien getroffen. Kinder, die in unsicheren Beziehungen aufwachsen, brauchen in der Kita verlässliche Bezugspersonen, vorhersehbare (Tages-)Strukturen und entwicklungsangemessene Partizipationsmöglichkeiten. Insbesondere wenn Beziehungsangebote nicht kontinuierlich gesichert werden können, bieten Visualisierungen von Abläufen/Übergängen im Kita-Alltag, vertraute Peers und räumliche Gegebenheiten wichtige Anker.

Für vielfältige Bildungsanregungen und um Kindern Erfahrungen anzubieten, die sie ggf. im familiären Umfeld nicht machen können, gibt es etablierte Kooperationen im Sozialraum (Abenteuerbauspielplatz, Familientreffs, Sportvereine, Kletterhalle). Spezifische Angebote berücksichtigen die besonderen Situationen der Familien (Krabbelgruppe für Geschwisterkinder, Vorlesetag in Familiensprachen, gemeinsames Wandern, Unterstützung bei Anträgen und Behördenkontakten). Mit Familientreffs-/beratungsstellen, dem Kinder- und Jugendärztlichen Dienst, Horten und Schulen wurden fallunabhängige Kooperationen etabliert.

Schritt 5: (Weiter)Entwicklung einer lebenslagenorientierten frühpädagogischen Praxis 

Grundlage einer zielgerichteten und lebenslagenorientierten Entwicklungsbegleitung von Kindern ist eine ressourcenorientierte Beobachtungspraxis und systematische pädagogische Planung. Die Strukturen in den Einrichtungen und die vorliegenden Konzepte und Methoden machten beides bislang nur unzureichend realisierbar. Das Kompetenz- und Beratungszentrum hat in den letzten Jahren gemeinsam mit Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen an der Entwicklung einer praxistauglichen pädagogischen Diagnostik und anschlussfähigen Planung von Bildungsanregungen gearbeitet, das über sozialpädagogisches Fallverstehen angereichert und qualifiziert wird. Hierfür ist aktuell ein spezielles Format der lebenslagenorientierten Kindbesprechung in der Erprobung, welches u.a. auf den Ergebnissen von Frühwarnscreening und Entwicklungsbeobachtung aufbaut und Informationen über die Lebenslage des Kindes systematisch einbezieht. Auch die Ableitungen von Bildungsanregungen werden lebenslagenorientiert strukturiert und aufgebaut.

Was kann das für Praxis und Forschung bedeuten?

Zusammenfassung

Gelingensbedingungen im Dresdner Programm sind folgende Aspekte:

  • Engagierte, von der Idee überzeugte Akteure mit fachlichem Anspruch auf allen Ebenen (päd. Fachkräfte, Leitung, Träger, Kommune, Kooperationspartner)
  • Zusätzliche Ressourcen für eine stringente, engmaschige externe fachliche Begleitung der Kitas
  • Frühzeitige Beteiligung und Sensibilisierung der Teams für das Anliegen und die Implikationen
  • Stabile personelle und institutionelle Rahmungen als Voraussetzung für Bereitschaft und Offenheit für Innovationsprozesse
  • Rahmenbedingungen für längerfristige Entwicklungsprozesse (kein kurzfristiges Modellvorhaben)

Pädagogische Prozesse und Strukturen in Kindertageseinrichtungen sind oftmals (noch) nicht anschlussfähig an die Heterogenität der Familienkulturen und individuellen Vorerfahrungen der Kinder, die heute und vor allem in sozial verdichteten Stadträumen in den Kitas begleitet werden.

Um Teilhabechancen zu erhöhen und Barrieren abzubauen, braucht es Wandlungsbereitschaft, Abenteuerlust und Flexibilität bei allen Beteiligten. Die zusätzlichen Ressourcen sind wesentliche Gelingensbedingung und erhöhen Motivation und Gestaltungsspielräume. Einige Impulse und Anregungen können aber auch jenseits von Programmen und Projekten umgesetzt werden.

Grundsätzlich sind wir davon überzeugt, dass es für die Arbeit in diesen Einrichtungen eines grundlegenden Konzepts einer lebenslagenorientierten Pädagogik bedarf. Der Einsatz von Sozialpädagog*innen ergänzt die Frühpädagogik in den Einrichtungen, ein lebenslagenorientiertes Konzept würde diese Expertise integrieren.

Lebenslagenorientiert ausgebildete Pädagog*innen reagieren auf einen stabilen fachlichen Bedarf innerhalb der Frühpädagogik. Die lebenslagenorientierte Motivation der Fachkräfte ist von vornherein und grundsätzlich Teil der Spezialisierung. Sie können in jeder Kita arbeiten, während es umgekehrt von der persönlichen Eignung und Motivation einzelner Fachkräfte abhinge, ob das in Kitas belasteter Sozialräume gelingt. Lebenslagenorientierte Pädagogik ist auf Dauer angelegt und nicht an Programme gebunden.

Literaturverweise

Programm-Website: https://aufwachsen-in-sozialer-verantwortung.de/

Lorenz, A., Stöcker, S. (2021). Das Handlungsprogramm „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ der Landeshauptstadt Dresden. 4. Fortschreibung 2020. Dresden, Deutschland. Zugriff am 30.05.2024 unter https://aufwachsen-in-sozialer-verantwortung.de/entwicklungskonzept

Sehm-Schurig, S. (2023). Bericht der Formativen Evaluation des Aktionsplanes „Erweiterte Ressourcen Kita²“. unveröffentlichter Evaluationsbericht

Demokratiebildung in Qualitätsverfahren der Kindheitspädagogik – von Anti-Diskriminierung, Diversität und Inklusion: Was steht drin, wenn’s drauf steht?

| Hoa Mai Trần |

Einleitung

Die Diskussion um Qualität in der frühkindlichen Bildung wurde maßgeblich durch den „Pisa-Schock“ 2001 vorangetrieben. Qualitätsverfahren werden als Instrumente zur Steuerung der pädagogischen Praxis angesehen. Neben quantitativem Ausbau wurden Bildungs- und Orientierungspläne erstellt, und Fragen nach „guter“ Qualität aufgeworfen. Dies führte zu einem verstärkten Fokus auf Effizienz und Wirtschaftlichkeit, wobei Qualität definiert und überprüft werden musste. Es entstanden zahlreiche Verfahren und Instrumente zur Qualitätsentwicklung und -sicherung, wobei unterschiedliche Ansätze und Modelle diskutiert wurden. Dabei wurden und werden sowohl interne als auch externe Evaluationen verwendet, um Qualität zu sichern oder zu verbessern. Kontroversen gibt es nach wie vor darüber, wer „gute“ Qualität festlegt und überprüft und wie demokratisch und inklusiv diese Verfahren sind. Peter Moss betont, dass Qualität nicht nur objektiv gemessen werden kann, sondern ein konstruierter und kollektiver Prozess der Bedeutungskonstruktion sind (Pence, Moss 1994, S. 172; Moss 2016, S. 10, 15). Er schlägt vor, Evaluation als demokratischen Prozess zu verstehen, bei dem verschiedene Akteure gemeinsam Sinn und Bedeutung konstruieren. Demokratiebildung sollte daher integraler Bestandteil der Qualitätsdiskussion sein, um ein professionelles und demokratisches Bildungssystem zu gewährleisten (Dahlberg et al. 2013, S. xv; Moss 2016, S. 11f.; Moss, Urban 2010). Im 16. Kinder- und Jugendbericht wird die Bedeutung von Demokratiebildung in der Kindertagesbetreuung hervorgehoben (BMFSFJ 2020, S. 163ff., 176). Gefordert wird eine stärkere Ausrichtung an Demokratiebildung in der Analyse von Bildungsplänen (Wolter 2021), der Bedarf der Analyse von Qualitätsdiskursen im Elementarbereich wird verdeutlicht. Diese sind folglich stärker auf Demokratiebildung auszurichten, was das Vorhaben im Rahmen des Kompetenznetzwerks „Demokratiebildung im Kindesalter“ der Fachstelle Kinderwelten (ISTA) aufgriff.

Was will das Projekt?

Verschiedene Qualitätsverständnisse führten zu den verschiedenen Verfahren und Instrumentarien, die in der kindheitspädagogischen Landschaft Anwendung fanden und finden. Doch wer definiert „gute“ Qualität auf welcher Art und Weise? Im Rahmen des Kompetenznetzwerk für Demokratiebildung im Kindesalter angesiedelt an der Fachstelle Kinderwelten (ISTA) wurde 2021-2023 eine Dokumentenanalyse zu „Demokratiebildung in Qualitätsverfahren“ durchgeführt. Ziel der Analyse ist es, einen kritischen Blick in die heterogene Qualitätslandschaft mit Fokus auf den Elementarbereich zu werfen. Es wurden 21 Qualitätsverfahren auf die Schwerpunkte: Demokratie, Partizipation, Kinderrechte, Diversität, Diskriminierung und Inklusion analysiert. Demokratiebildung wird als fortlaufender Prozess und auf Ebene der Bildungsprozesse von Kindern als Erfahrungs- und Lebensform verstanden (Oelkers 2011, S. 121ff.; Eberlein et al. 2021, S. 12, 212), der es allen Mitgliedern einer Gesellschaft ermöglichen soll, aktiv an demokratischen Entscheidungsprozessen teilzunehmen. Kinderrechte sind als grundlegende demokratierelevante Rechtsanker für Kinder, die Anforderung an pädagogische Fachkräfte zur Einhaltung von Schutz-, Beteiligungs- und Förderrechten von Kindern verankern (UN-Kinderrechtskonvention 1989). Partizipation ist historisch in reformpädagogischen Bewegungen verankert, und stellt ein zentrales Prinzip dar, welches die Beteiligung von Kindern in Inhalt und Form befördert (Ruppin 2018; Schwerdt et al. 2023, Hansen et al. 2011). Diversität wird als wichtige Perspektive hervorgehoben, da die heterogenen Zugehörigkeiten und Lebenslagen von Kindern und Familien in der pädagogischen Arbeit bedeutsam werden (Hormel 2007, S. 27, Stenger et al. 2017, S. 9). Diskriminierung, als Ausschluss oder Benachteiligung bestimmter Gruppen, wird als „Demokratiedefizit“ unvereinbar mit dem demokratischen Anspruch betrachtet und erfordert eine aktive Auseinandersetzung und Gegenmaßnahmen (BMFSFJ 2020, S. 164f.; Scherr 2016). Inklusion zielt darauf ab, die Teilhabe von Kindern an Bildung und Gesellschaft chancengerecht zu gewährleisten. Erwähnenswert ist hierbei der erfolgte Paradigmenwechsel, welcher nicht mehr ein vermeintliches Defizit bei Kindern fokussiert, sondern Behinderungen auf gesellschaftliche Defizite betrachtet, welche als Barrieren in Strukturen und Institutionen wirksam sind und entsprechend abgebaut werden müssen (Degener 2010, S. 58; Wagner 2022). Deutschland hat sich mit der Ratifizierung der UN-Behindertenkonvention verpflichtet Teilhabe im Bildungssystem umzusetzen, doch nach wie vor besteht Handlungsbedarf, um ein inklusives Bildungssystem zu schaffen. Innerhalb der Dimensionen und Zugänge über Demokratiebildung, Partizipation, Kinderrechte, Diversität, Anti-Diskriminierung und Inklusion gibt es viele inhaltliche Überschneidungen. Die Diskussion um diese in diesem Beitrag knapp skizzierten Konzepte reflektiert die komplexen demokratierelevanten Herausforderungen für die pädagogische Praxis und die Notwendigkeit einer kontinuierlichen wertebasierten Auseinandersetzung mit Qualitätsverfahren und der Weiterentwicklung von Demokratiebildung im Kindesalter auf.

Wie geht das Projekt vor?

Die Dokumentenanalyse zielt darauf ab, die Rolle der Demokratiebildung in Kitas innerhalb der Qualitätsverfahren zu untersuchen. Die Dokumentenanalyse konzentriert sich darauf, wie häufig Aspekte wie Partizipation, Kinderrechte, Inklusion, Diversität und Diskriminierung in den untersuchten Qualitätsverfahren vorkommen. Es wird eine zusätzliche qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt, die quantitative Techniken wie die Erfassung von Begriffshäufigkeiten ergänzte. Die Untersuchung schafft eine Annäherung an ein deskriptives Abbild zu verschiedenen Dimensionen der Demokratiebildung und gibt Rückschlüsse auf Weiterentwicklungspotenziale. 21 Qualitätsverfahren wurden im Sample der Dokumentenanalyse aufgenommen. Sie unterschieden sich in qualitativ und quantitativem Zugang, ihrer regionalen Verankerung sowie lokaler, bundesweiter und nationaler Anwendung, ihren Evaluationsformen (intern und/oder extern) sowie ihrer Verbreitung als ansatzbezogene, managementbezogene, trägerbezogene Formen. Verschiedene Dokumente und Methoden wurden anhand verschiedener Kriterien für die Dokumentenanalyse verwendet, darunter Beobachtungsbögen, Fragebögen bis hin zu ganzen Handbüchern und Manuals. Es wird betont, dass die Analyse auf einer begründeten Auswahl von Dokumenten basiert und keine direkten Einblicke in die pädagogische Praxis und die Verwendungsweisen in der Arbeit mit verschiedenen Verfahren aufzeigen[1]. Die Analyse liefert dadurch Impulse für den Fachdiskurs und eine Annäherung an die Frage, wie es um Demokratiebildung in verschiedenen Qualitätsverfahren steht.

Was ist das Ergebnis?

Im Folgenden wird ein Einblick in Teilergebnisse zu Diversität, Inklusion und Diskriminierung gegeben. Die vollständigen Ergebnisse sind im Werk „Demokratiebildung in Verfahren der Qualitätsentwicklung in Kitas: Eine Dokumentenanalyse Zur Stellung von Partizipation, Kinderrechten, Diversität, Diskriminierungskritik und Inklusion in der kindheitspädagogischen Qualitätslandschaft” (Trần 2024) nachzulesen.

Trotz großer Unterschiede zwischen verschiedenen Qualitätsverfahren wurden alle Schlagwörter übergreifend gefunden, was darauf hindeutet, dass grundsätzlich bestimmte Zugänge in Qualitätsverfahren verhandelt werden, wobei insbesondere Partizipation stark aufgegriffen wird und Diskriminierung als der meist vernachlässigte Teilaspekt gedeutet werden kann. Diversität wird häufiger thematisiert als Inklusion. Deutlich werden die großen Unterschiede im Profil einzelner Qualitätsverfahren.

Rang nach TreffernInhaltliche KategorieAnzahl der Kodierungen
1Partizipation10388
2Diversität9728
3Kinderrechte7230
4Demokratie4563
5Inklusion4417
6Diskriminierung3927
Gesamt40253
Tabelle 1 Absolute Häufigkeit von Treffern nach verschiedenen Zugängen (Eigene Darstellung)

Diversität in Qualitätsverfahren wird meist unter Begriffen wie „Unterschiede“ und „Vielfalt“ thematisiert. Allerdings ist der Bezug zu sozialer Differenz und Heterogenität geringer. Die Sprachwahl variiert stark, wobei „Vielfalt“ und „Unterschiede“ öfter verwendet werden als „Diversität“. Unterschiedliche Verfahren handhaben Diversität unterschiedlich. Es geht einerseits darum, Unterschiede anerkennend und respektvoll als Teil der pädagogischen Arbeit aufzugreifen. Andererseits wird die inhaltliche Spannbreite von Diversität teils oberflächlich abgehandelt und sehr unterschiedlich bis einseitig-stereotyp zur Sprache gebracht und auch hier gibt es große Disparitäten zwischen einzelnen Qualitätsverfahren. Diversität zeigt sich in verschiedenen Differenzkategorien (abgefragt wurden beispielsweise natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit, Alter, Geschlecht, psychische und physische Einschränkungen, sozialer Herkünfte etc.), wobei das Alter und die ethnische Zugehörigkeit am häufigsten erwähnt werden, während psychische und physische Einschränkungen und sexuelle Orientierung wenig Beachtung finden. Kinder sind die häufigste Zielgruppe, aber auch Familien und ethnische Zugehörigkeit werden oft genannt. Dennoch sind bestimmte Aspekte der Diversität, wie nicht-binäre Geschlechtlichkeit oder verschiedene Religionen unterrepräsentiert. Die Sprache und Herangehensweise zu Diversität in Qualitätsverfahren zeigen eine Affirmation von Vielfalt, während eine machtkritische Perspektive weniger präsent ist. Seltener wird die Beteiligung der Fachkräfte an der Herstellung von Differenz von Kindern und Familien thematisiert, sondern vorwiegend der Umgang mit Heterogenität in den Blick genommen. Es besteht Bedarf an einer umfassenderen Berücksichtigung diverser Lebensrealitäten von Kindern und an einer kritischeren Auseinandersetzung mit Diversität in der pädagogischen Praxis und in Qualitätsverfahren.

Die Analyse zeigt, dass das Verständnis von Inklusion in Qualitätsverfahren uneinheitlich ist, und die Umsetzung variiert stark. „Inklusion“ wird insgesamt 262-mal benannt in der Spannbreite von gar keiner Benennung in acht Qualitätsverfahren bis hin zu 125 Treffern in einem Qualitätsverfahren. Häufig wird Inklusion einseitig betont, ohne Exklusion zu berücksichtigen. Das „Gemeinsame“ in Sinne von Zusammen sein „aller“ wird oft hervorgehoben, während Teilhabe, Zugehörigkeit und Barrierefreiheit selten angesprochen werden. Die Formel „alle Kinder“ bleibt unpräzise, birgt Widersprüche und bleibt vage in Hinblick auf konkrete Maßnahmen, die bestimmte Zielgruppen von Kindern betreffen. Der Begriff „Inklusion“ wird mit Kindergruppen entlang physisch-psychischer Fähigkeit, natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit und ihres Alters erwähnt, was das Spannungsfeld der Spezifik des inklusiven Auftrags für bestimmte Kinder und seiner Generalisierbarkeit von „allen“ Kindern verdeutlicht. Bestimmte Qualitätsverfahren weisen deutlich dazu an, „Inklusion“ als Zielwert pädagogischer Qualität zu adressieren, doch es gibt auch einige Verfahren, die sich kaum (und vor allem nicht explizit) mit Inklusion befassen. Die Thematisierung von Exklusion muss verstärkt werden, um Barrieren abzubauen. Die Konsistenz von Integration und Sonderpädagogik ist bedenklich, da sie einerseits Benachteiligte ansprechen, andererseits aber eine Sonderbehandlung bestimmter Kindergruppen mitermöglichen. Die Herausforderung besteht darin, ein ausgewogenes Verständnis von Inklusion zu entwickeln und einen verstärkten Diskurs über Exklusion zu führen.

Die Analyse zeigt, dass Diskriminierung in Qualitätsverfahren nur am Rande thematisiert wird. Während Herrschaftsverhältnisse häufiger erwähnt werden, bleibt die explizite Auseinandersetzung mit Diskriminierung sehr gering. Es fehlt an konkreten Strategien zur Bewältigung von Diskriminierungssituationen. Die Benennung spezifischer diskriminierender Ideologien (wie beispielsweise Klassismus, Rassismus, etc.) ist selten, ebenso wie die Erwähnung von Interventionsstrategien, welche beispielsweise durch Beschwerden angesprochen werden. Es lässt sich in Bezug auf die Ergebnisse der Analyse von Diversität und Differenzmerkmalen feststellen, dass die Ansprache von beispielsweise „Kinder[n]“ mit 2446 Treffern und seinem Diskriminierungsäquivalent „Adultismus“ mit 3 Treffern eine Thematisierung in der Benennung von spezifischen Personengruppen (hier Kinder) stark gewichtig, doch ihre Ausgrenzungsrisiken kaum bis gar nicht zur Kenntnis genommen werden. Die Art und Weise, wie Diskriminierung behandelt wird, variiert stark zwischen den Qualitätsverfahren. Einige thematisieren sie ausführlicher, während andere sie kaum berücksichtigen. Die Verwendungsweisen des Diskriminierungsbegriffs in der Kita sind sehr unterschiedlich gelagert. Es kann nicht von einer systematischen Auseinandersetzung gesprochen werden, sondern mehr von einer punktuellen Ansprache ausgewählter Qualitätsverfahren. Dabei unterscheiden sich die Benennungen stark nach den jeweiligen Qualitätsverfahren. Viele Verfahren haben Diskriminierung kaum bis gar nicht in ihrem Fokus auf pädagogische Qualität. In der qualitativen Analyse zeigt sich, dass Diskriminierung mit Sensibilisierung für Vorurteile und Übergriffigkeiten in Verbindung steht. Offen bleibt, wer von wem wie diskriminiert wird und wie pädagogisch damit umgegangen werden kann. Teils wird die Idee eines diskriminierungsfreien Raums mitgetragen, die die Adressierung von Diskriminierungen im pädagogischen Alltag ausblenden. Andere Verfahren widmen sich gezielter Diskriminierungsrisiken in der Kita.

Die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen wird betont, indem die Anwendungsweisen von Qualitätsverfahren in der Praxis sowie die Perspektiven der Kinder stärker einzubeziehen sind. Zudem wird die Erwachsenenzentrierung im Diskurs über Qualität und Demokratiebildung kritisch hinterfragt und auf die Machtverhältnisse sowie Diskriminierungsrisiken als Demokratiedefizite in Kindertageseinrichtungen hingewiesen. Die wertebasierte Ausrichtung sind durch Partizipation und Demokratiebildung grundsätzlich vorhanden und in Qualitätsverfahren zu präzisieren. Kinderrechte müssen stärker expliziter Bestandteil von pädagogischer Qualität sein und Diversität tiefgründiger und kritischer verhandelt werden als bisherige Qualitätsverfahren dies tun. Das Fazit der vorliegenden Dokumentenanalyse verdeutlicht die vielfältigen Impulse für einen kritischen Qualitätsdiskurs in kindheitspädagogischen Handlungsfeldern mit dem Fokus auf Demokratiebildung. Weiterhin kann über die konsequentere Ausrichtung im Qualitätsdiskurs in Richtung Demokratiebildung verwiesen werden. Eine Unterscheidung je nach Kontext und Verwendungsweise verschiedener Qualitätsverfahren wird ebenfalls deutlich, da es große Unterschiede zwischen einzelnen Qualitätsverfahren zu verschiedenen Teilaspekten sich abgezeichnet haben.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Demokratieförderliche Prinzipien müssen stärker programmatisch und inhaltlich konturiert werden, um die Verbindung zwischen bildungspolitischen Strategien und pädagogischer Alltagspraxis zu befördern. Es bedarf einerseits formaler Strukturen, damit Demokratiebildung als Handlungspraxis ermöglicht wird und andererseits eine flexible Umsetzung und Ausrichtung an der pädagogischen Praxis und seiner verschiedenen Akteur*innengruppen – allen voran den Kindern. Diese konsequente Strategie kann als organisationale Aufgabe begriffen werden, da verschiedenen Ebenen und Subsysteme in pädagogischen Einrichtungen für eine demokratiebildenden Qualitätsdiskurs und Praxis beitragen. Die pluralen Lebenswirklichkeiten von Kindern in ihren heterogenen Ausprägungen brauchen mehr, systematische und explizitere Berücksichtigung in Qualitätsverfahren, die entsprechend zu überarbeiten sind. Es besteht die Notwendigkeit einer diversitätsbewussten Auseinandersetzung und Ansprache und Adressierung von Kindern und Familien, um den heterogenen Lebenswelten gerecht zu werden und Ungleichheiten sowie Ausschlüssen entgegenzuwirken. Diskriminierungen und deren Umgang stellen eine größere Leerstelle in Qualitätsverfahren dar. Grundlegend besteht Bedarf, Diskriminierung stärker und expliziter in den Blick zu nehmen und konkrete Handlungsorientierungen zu entwickeln, um Teilhabebarrieren und Demokratiedefiziten entgegenzuwirken. Schlussfolgernd wird deutlich, dass Inklusion viel mit der Thematisierung „aller Kinder“, dem Zusammensein sowie gemeinsamen Aktivitäten implizit angesprochen wird. Gleichzeitig wird Inklusion wenig thematisiert, wenn es um umfassende Teilhabe, Zugehörigkeit und Barrieren in pädagogischen Einrichtungen geht. Die Formel „alle“ Kinder im Sinne eines allumfassenden Einschlusses kann als unpräzise gelten, da sich darunter verschiedene Ziele, Werte und Handlungsmaßnahmen verbergen, die teils bestimmte Zielgruppen von Kindern implizit ansprechen und dennoch größeren Interpretationsspielraum aufweisen. Hier braucht es Klärung wer mit Inklusion wie gemeint und wie behandelt werden soll, um grundsätzlich die Bildungseinrichtung inklusiv zu gestalten. 

In der Betrachtung der Ergebnisse wird deutlich, dass der Umgang mit Diversität, Inklusion und Diskriminierung vor allem als Aufgabe pädagogischer Fachkräfte ausgewiesen wird. Dies erfordert einen Ausbau von demokratischen Strukturen innerhalb der Organisation, bei dem nicht nur pädagogische Fachkräfte, sondern die gesamte Organisation in die Verantwortung gezogen wird. Die vorgeschlagenen praxisnahen Rückschlüsse zielen darauf ab, die Qualitätssicherung und -weiterentwicklung in Kindertageseinrichtungen zu verbessern und Demokratiebildung als Struktur pädagogischer Einrichtungen sowie Recht von Kindern stärker zu verankern. Dabei ist eine systematische Auseinandersetzung mit Demokratiebildung und verschiedenen Zugängen wie Partizipation, Kinderrechten, Diversität, Diskriminierung und Inklusion unerlässlich. Es bedarf einer Verschiebung in der Qualitätsdebatte weg vom Effizienz-Paradigma hin zur Qualitätsentwicklung als Demokratisierungsstrategie in Inhalt und Form. So kann Demokratiebildung als Recht von Kindern in der pädagogischen Praxis umfassend realisiert werden und im Alltag als Erfahrungsform durch Qualitätsverfahren sowie in der pädagogischen Alltagspraxis gelebt werden.

Literaturverzeichnis

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ) (Hrsg.) (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter. Verfügbar unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/162232/27ac76 c3f5ca10b0e914700ee54060b2/16-kinder-und-jugendbericht-bundestagsdruck sache-data.pdf [Zugriff: 12.03.2023].

Dahlberg, Gunilla/ Moss, Peter/Pence, Alan (2013): Beyond Quality in Early Childhood Education and Care. Languages of Evaluation. 3rd Edition. London: Routledge.

Degener, Theresia (2010): Die UN-Behindertenrechtskonvention. In: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (Hrsg): Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen, 2, 2010, S. 57-63. Verfügbar unter: https://zeitschriftvereinte-nationen.de/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_2010/Heft_2_ 2010/03_Degener_beitrag_2-10_30-3-2010.pdf [Zugriff: 12.03.2023].

Oelkers, Jürgen (2011) (Hrsg.): John Dewey. Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. 5. Auflage, Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Eberlein, Noemi/Durand, Judith/Birnbacher, Leonhard (2021): Bildung und Demokratie mit den Jüngsten. Bezugstheorien, Diskurse und Konzepte zur Demokratiebildung in der Kindertagesbetreuung. Weinheim Basel: Beltz Juventa.

Hansen, Rüdiger; Knauer, Raingard; Sturzenhecker, Benedikt (2011): Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern! Weimar: Verlag das Netz.

Hormel, Ulrike (2017): Pädagogische Beobachtungsweisen. Heterogenität, Diversity, Intersektionalität. In: Stenger, Ursula/Edelmann, Doris/Nolte, David/Schulz, Marc (Hrsg.): Diversität in der Pädagogik der frühen Kindheit. Im Spannungsfeld zwischen Konstruktion und Normativität. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. S. 19- 35.

Moss, Peter (2016): Why can’t we get beyond quality? In: Contemporary Issues in Early Childhood, 17, 1, S. 8-15.

Moss, Peter; Urban, Mathias (2010): Democracy and Experimentation: Two Fundamental Values for Education. Ein Beitrag zum Projekt: Wirksame Bildungsinvestitionen der Bertelsmann Stiftung (Hrsg.). Verfügbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung. de/de/publikationen/publikation/did/democracy-and-experimentation-two-funda mental-values-for-education [Zugriff: 12.03.2023].

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Stenger, Ursula; Edelmann, Doris; Nolte, David; Schulz, Marc (Hrsg.) (2017): Diversität in der Pädagogik der frühen Kindheit. Im Spannungsfeld zwischen Konstruktion und Normativität. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

Schwerdt, Ulrich; Sieveke, Pia; Wüllner, Sabrina (2023): Janusz Korczak im Kontext der historischen Reformpädagogik. Lehrer_innenband. Baltmannsweiler: Schneider Verlag.

Trần, Hoa Mai (2024): Demokratiebildung in Verfahren der Qualitätsentwicklung in Kitas: Eine Dokumentenanalyse. Zur Stellung von Partizipation, Kinderrechten, Diversität, Diskriminierungskritik und Inklusion in der kindheitspädagogischen Qualitätslandschaft. Fachstelle Kinderwelten/ISTA (Hrsg.). Unter Mitarbeit von Ayten, Nuran; Surmund, Judith; Mildt, Manuela. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich.

UN-Kinderrechtskonvention (1989): Übereinkommen über die Rechte des Kindes. 20. November 1989. Am 5. April 1992 für Deutschland in Kraft getreten (Bekanntmachung vom 10. Juli 1992 – BGBl. II S. 990). Verfügbar unter: https://www.kinderrechte.de/kinderrechte/un-kinderrechtskonvention-im-wortlaut [22.04.2024].

Wagner, Petra (2022) (Hrsg.): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. 5. Auflage. Freiburg: Herder.

Wolter, Berit (2021): Demokratiebildung im Bereich Kita in den Bildungsprogrammen der Bundesländer. Rechercheergebnisse. Unter Mitarbeit von Hannah Louisa Schmidt. Fachstelle Kinderwelten/ISTA (Hrsg.). Verfügbar unter: https://situationsansatz.de/wp-content/uploads/2021/11/Recherche_Demokratiebildung_Bundeslaender_Zusammenfassung.pdf [Zugriff: 12.03.2023].


[1] Es werden Grenzen und Limitationen des Vorgehens in der Auswahl der Dokumente deutlich sowie technische Probleme bei der Datenverarbeitung und die begrenzte Kontextsensibilität der automatisierten Schlagwort-suche betont.

Behinderung im Bilderbuch – eine Frage der Repräsentation

| Teresa Vielstädte |

Bilderbücher besitzen eine besondere Bedeutung für die kindlichen Bildungs-, Sozialisations- und Kulturalisierungsprozesse (vgl. Burghardt & Klenk 2016; Thiele 2012). Sie bieten Kindern die Möglichkeit mit gesellschaftlichen Lebensweisen, Normen und Werten in Kontakt zu kommen. Dadurch gewinnen sie erste Vorstellungen und Bilder über das Zusammenleben in der Gesellschaft, womit Bilderbücher die Prozesse der Identitätsfindung unterstützen. Dabei bilden Bücher immer auch gesellschaftliche Realitäten ab, sodass ihn ein besonderer Stellenwert in der Auseinandersetzung mit Lebensweisen und gesellschaftlichen Wert- und Normorientierungen zukommt. Trotz des Anspruchs der Repräsentation von vielfältigen Lebenswelten in Bilderbüchern wurde das Thema ‚Behinderung‘ lange Zeit ausgegrenzt (vgl. Reese 2010). In aktuellen Diskussionen findet sich die Forderung nach einer stärkeren Verknüpfung von Disability Studies und Kinderliteraturwissenschaft, um gesellschaftliche Vorstellungen über Behinderung, Abweichung und Normalität aufzudecken (vgl. Schäfer, Ullmann & Blümer 2012, 61)

Was will das Projekt? Was ist das Phänomen?

Das Thema ‚Behinderung‘ galt lange Zeit als Tabuthema in der Kinderliteratur. Erst seit den 2000er Jahren findet sich ein breiteres Darstellungsspektrum von Behinderung im Kinderbuch. In Kinderbüchern wird das Thema Behinderung aufgegriffen, in dem die verschiedenen Wahrnehmungen und Sichtweisen der als behindert und nicht-behindert geltenden Protagonist*innen dargestellt werden. Dadurch entfalten sich Konstruktionen von Behinderung sowie damit verbundene Vorstellungen von Verhaltens-, Kommunikationsmustern und Praktiken: Wie verhalten sich Menschen mit und ohne Behinderung (in Interaktion)? Wie kommunizieren diese miteinander? Welche Praktiken gelten im Umgang mit Behinderung als gesellschaftlich anerkannt und welche erscheinen als unvereinbar?

Unter Konstruktion von Behinderung kann die gesellschaftliche Bewertung einer Schädigung oder Behinderung verstanden werden. Die Normen, die der Zuschreibung von Behinderung zugrunde liegen, sind nach diesem Verständnis gesellschaftlich oder kulturell bestimmt. Da Normen, Urteile und Kategorien das Ergebnis kommunikativer und sozialer Praktiken sind, wird Behinderung als gesellschaftlich hervorgebracht angesehen (vgl. Kast 2017, 260f.).

Durch Versprachlichung und Bebilderung wird Behinderung erst hervorgebracht, womit diese entweder zur Festschreibung beitragen können oder sich dadurch auch die mit dieser Differenz verknüpften Diskriminierung und Stigmatisierung aufdecken lassen. Diese Überlegungen aufgreifend möchte ich im Rahmen des Blogbeitrags exemplarisch zeigen, wie Behinderung im Kinderbuch konstruiert wird. Welche Vorstellungen, möglicherweise auch Stereotype und Klischees werden wie inszeniert?

Wie bin ich vorgegangen?

Exemplarisch habe ich das Sachbilderbuch „Alle behindert“ ausgewählt, da es zu Beginn der Recherche für den Artikel (vgl. Vielstädte 2022) neu erschienen ist, woraufhin es in verschiedenen Blogformaten durchaus kontrovers diskutiert und rezensiert wurde (vgl. bspw. Kollodzieyski 2020.). Wenn dem Verständnis von Behinderung als Konstruktion gefolgt wird, erfordert eine Bilderbuchanalyse den Fokus auf die Darstellungsweise von Behinderung: Wie wird Behinderung kommunikativ und interaktiv in der Geschichte zum Thema gemacht? Wie wird Behinderung medial dargestellt? Die Fragestellung, wie Behinderung im Kinderbuch dargestellt, verhandelt und konstruiert wird ist sicherlich nicht ganz unproblematisch. Hierdurch wird an der Rekonstruktion der Kategorien Behinderung und Nichtbehinderung mitgewirkt.

Ich habe mich bei der Analyse an einem explorativen Vorgehen orientiert, welches sich grob an den Analysekategorien des fünfdimensionalen Modells der Bilderbuchanalyse nach Dammers/Krichel/Staiger (2022) orientiert. Dabei habe ich die unterschiedlichen im Buch präsentierten Portraits und damit verbundenen ‚Behinderungsbilder‘ vergleichend und kontrastierend in den Blick genommen.

Was ist das Ergebnis?

  Alle behindert wurde von Heinz Klein und Monika Ostberghaus geschrieben und ist als Sachbilderbuch[1] zu klassifizieren, da es auf 25 Doppelseiten „25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild“ erläutert (Klein & Ostberghaus 2019). Das Buch richtet sich an Kinder ab 5 Jahren. Im Mittelpunkt des Sachbilderbuchs steht eine alltags- und lebensweltliche Strukturierung[2] der Inhalte. Das Buch erinnert in seiner Aufmachung an ein ‚Freundebuch‘. Auch hier zeigt sich nun wieder der alltags- und lebensweltliche Anknüpfungspunkt zur Bearbeitung des Buchthemas Behinderung. Gemäß der sprachlichen Gestaltung eines ‚Freundebuches‘ werden einzelne Begriffe oder stichpunktartige kurze Sätze verwendet. Auf jeder Seite wird mittig eine andere Figur mithilfe einer großen Zeichnung vorgestellt, ringsum finden sich stichpunktartig Informationen zu den jeweiligen Figuren entlang immer gleicher Kategorien (ebd.): „Mag gerne“, „Mag weniger“, „Lieblingssatz“, „Behinderung“, „Spitz- oder Schimpfname“, „Wie oft kommt das vor“, „Geht das wieder weg“ (…).“

  Die Angaben werden teilweise durch kleine Comic-Zeichnungen ergänzt, die alltägliche Situationen der Figuren karikaturartig darstellen. Diese Kategorien sind bereits teilweise auf Behinderungen zugeschnitten. Jede Seite vermittelt das Bild einer fiktionalen Persönlichkeit, die Behinderungserfahrungen gemacht hat. Das Buch bleibt konsequent im Aufbau eines kollektiven „Wir“, indem es am Ende zu eigenen Eintragungen auffordert und klassische Definitionen von Behinderung in Frage stellt. Es fehlt ein zusammenhängender Handlungsstrang, da die Persönlichkeiten individuell präsentiert werden und nicht miteinander interagieren. Die farbenfrohen Illustrationen im Buch sind detailliert und ikonisch. Sie müssen oft zusammen mit dem Text betrachtet werden, um vollständig verstanden zu werden und unterstützen sich gegenseitig in der Charakterdarstellung.

  Die Definition von Behinderung in diesem Buch folgt nicht streng den bekannten Klassifikations- und Definitionsversuchen, wie z.B. in der Behindertenrechtskonvention oder nach ICD-10. Die zugeschriebenen Charaktereigenschaften der Figuren sind veränderbar (z.B. Julien „der Angeber“ oder Paul „der Mitläufer“), im Gegensatz zu langfristigen und gleichbleibenden Beeinträchtigungen, wie es die Behindertenrechtskonvention definiert. Anhand der Analyse zeigt sich, dass nach der im Buch verwendeten Definition von Behinderung keine lebenslange und strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderung explizit mitgedacht bzw. sichtbar gemacht werden.

  Auf den ersten Blick weckt das Buch den Eindruck, als würde es dem Defintionsversuch folgen, dass es nicht per se die Behinderung geben, denn hier werden nicht nur die ‚geläufigen‘ und ‚bekannten‘ Behinderungsbilder wie Trisomie 21, Autismus, Beeinträchtigung des Lernens, Sprechens, Sehens oder Hörens etc. aufgeführt, sondern zur Behinderung werden hier auch „Tussi“, „Mitläufer“, „Außenseiter“, „Dicksein“, „Bildschirmsucht“, „Rüpel“ etc. erklärt. Offenbar orientiert sich die Verwendung des Behinderungsbegriffs hier an Vorstellungen von etwas Negativem, was unerwünscht ist und einer Abweichung von Normalität entspricht (vgl. Dederich 2009, S. 15). Es stellt sich hier die grundsätzliche Frage, wie die Auswahl der Prototypen erfolgt ist. Es fällt auf, dass z.B. gewisse soziale Merkmale wie Armut oder bestimmte Lebenserfahrungen wie Gewalt oder Rassismus nicht als Beeinträchtigung eingestuft werden.

  Durch die fiktiven Vorstellungen einzelner Persönlichkeiten arbeitet das Buch vielmehr die individuellen Ausprägungen der Charaktere heraus. Die dargestellten Informationen repräsentieren rekurrentes Alltagswissen, in denen die subjektiven Kategorisierungslogiken und Normalisierungsvorstellungen auftreten. Auch wenn das Buch durch die Darstellung von Persönlichkeiten wie „dem Rüpel“, „dem Angeber“ und ähnliche versucht, an der Dekategorisierung der Behinderungsdefinition mitzuwirken, verstärkt es in der Darstellung gleichzeitig stereotype Vorstellungen und reproduziert Zuschreibungen. Gesellschaftliche Herausforderungen und Diskriminierungsformen, denen Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind bleiben in dem Buch unerwähnt.

   Das Bilderbuch provoziert jedoch durch seine ironische Darstellungsart, dass mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben werden: Wie kann beispielsweise im Bilderbuch Trisomie 21 dargestellt werden, ohne auf stereotype Bebilderungen zurückzugreifen? Warum erleben wir in der Betrachtung eines Buches mit dem Titel Alle behindert das Nebeneinanderstellen von einer „Tussi“ und einem Menschen mit Autismus als ‚No-Go‘? Warum erscheint das In-Verbindung-Setzen von einem „Angeber“ oder einem „Mitläufer“ mit einem Menschen mit Trisomie 21 in der Präsentation von ‚Behinderungserfahrungen‘ als Tabuzone? Warum kommt „Rüpel als Behinderung“ „immer öfter“ (Klein & Ostberghaus 2019, S. 18) vor? Was hat es mit dem Gen bei Trisomie 21 im Detail auf sich?

  In jedem Fall gelingt es dem Buch aufzuzeigen, wie schwer es ist, eine angemessene Sprache und Begriffsverwendung im Diskurs, um Behinderung zu finden. Dabei ist die Rede über Behinderung noch längst nicht barrierefrei (vgl. auch Oetken 2012). Für ein reflexives Inklusionsverständnis (Budde & Hummrich 2014) braucht es allerdings eine Differenzkategorie Behinderung, in der dem Phänomen eingeschriebene Benachteiligungen, Ausgrenzungsmechanismen, gesellschaftliches Wissen und daraus resultierende Effekte und Produkte auch in der Kinderliteratur und in dessen Rezeption erkennbar werden. Dabei stehen analytische Methoden vor der Herausforderung, statt zu einer Dekonstruktion von Differenzen vielmehr zu deren Rekonstruktion beizutragen.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Insgesamt bleibt das Buch hinter seinen Möglichkeiten zurück, was die kindliche Identitätsfindung sowie das Kennenlernen diverser Lebensweisen und Normorientierungen betrifft. Stattdessen beschränkt es sich in seiner Narration einseitig auf Behinderung als ‚individuellem Defekt‘ oder Normabweichung, wenngleich es sein Verdienst ist, einem breiten Lesepublikum einen niedrigschwelligen Zugang zum Thema durch seine ironisch-witzige Darstellungsweise zu verschaffen. Dabei erhalten Kinder und Erwachsene Einblicke in verbreitetes Alltagswissen und damit zusammenhängende gesellschaftliche Praktiken und Effekte. Dennoch bedarf es beim Einsatz des Buches in privaten Kontexten und pädagogischen Institutionen eines reflektierten Umgangs, der in einen Kommunikations- und Aneignungsprozess zwischen Erwachsenen und Kindern eingebettet ist. Dabei bieten das Buch allerdings einen lohnenden Anlass, um mit Kindern über die verwendeten stereotypen Darstellungen ins Gespräch zu kommen. Die abschließende Frage, ob die angeführten Kategorien mit ihren Eigenschaftsbeschreibungen zum Stigma für Menschen mit Behinderung werden oder nicht, können an erster Stelle nur Betroffene selbst, dann aber auch Rezipierende entscheiden. Dies im Blick zu behalten, gilt sicherlich als eine zentrale Herausforderung, die das Buch an seine Leser*innenschaft stellt.

Literaturverweise

Budde, J. & Hummrich, M. (2014): Reflexive Inklusion. Zeitschrift für Inklusion, 4. Online verfügbar unter: https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/193, Zugriff am 18.02.2020.

Burghardt, L. & Klenk, F. C. (2016): Geschlechterdarstellungen in Bilderbüchern. Eine empirische Analyse. GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 8 (3), 61–80.

Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD) (2020): Definition von Behinderung. Online verfügbar unter: https://www.behindertenrechtskonvention.info/definition-von-behinderung-3121/, Zugriff am 18.02.2020.

Dammers, B., Krichel, A. & Staiger, M. (2022): Das Bilderbuch. Theoretische Grundlagen und analytische Zugänge. Wiesbaden: Springer

Dederich, M. (2009): Behinderung als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie. In: M. Dederich & W. Jantzen (Hrsg.), Behinderung und Anerkennung (S. 15–39). Stuttgart: Kohlhammer.

Kastl, J.-M. (2017): Einführung in die Soziologie der Behinderung (2. Auflage). Wiesbaden: Springer.

Klein, H. & Ostberghaus, M. (2019): Alle behindert! 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild. Leipzig: Klett Kinderbuch Verlag.

Kollodzieyski, T. (2020): Kinderbuch „Alle behindert!“ Inklusion braucht Unterschiede. Online verfügbar unter: https://dieneuenorm.de/kultur/kinderbuch-alle-behindert/, Zugriff am 28.05.2021.

Oetken, M. (2012): b-b-b-barrierefrei? Inszenierungen von Behinderung im Bilderbuch. Kjl&m – Kinder-/Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek, 66 (3), 34–45.

Reese, I. (2010): Strickmuster und Stereotypen. Die Darstellung von Behinderung im Kinder- und Jugendbuch. JuLit, 1, 3–10.

Schäfer, I., Ullmann, A. & Blümann, A. (2012): Aktuelle Tendenzen zu Krankheit und Behinderung in Kinder- und Jugendliteratur und -medien. Kjl&m – Kinder-/Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek, 66 (3), 58–63.

Thiele, J. (2012): Das Bilderbuch. In: G. Lange (Hrsg.), Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Grundlagen, Gattungen, Medien, Lesesozialisation und Didaktik (S. 217–233). Baltmannsweiler: Schneider.

Wocken, H. (2015): Dekategorisierung. Eine Einladung zur kategorialen Bescheidenheit. Sozialpsychologische Grundlagen und inklusionspädagogische Konsequenzen. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 84 (2), 100–112.

Vielstädte, T. (2022): „Alle behindert!“ Zur Konstruktion von Behinderung im Kinderbuch. In: E. Schulze (Hrsg.), Diversität im Kinderbuch: Wie Vielfalt (nicht) vermittelt wird. (S. 88-102) Stuttgart: Kohlhammer.


[1]  Das Sachbilderbuch gehört in die Sparte des Bilderbuches und zeichnet sich besonders durch seine themenspezifische Veranschaulichung in Bild und Text und weniger durch einen fiktionalen Erzählstrang aus (Thiele 2012, S. 222). Das Sachbilderbuch ist als Rubrik Bilderbuch in das Kinderbuchgenre einzuordnen.

[2]  Eine weitere Option wäre an dieser Stelle entsprechend eines Sachbilderbuches der fachkundliche Ausgangspunkt.

Projekt: Integrationsbegleiterinnen in Kitas

| Franziska Eisenhuth und Maria Günther-Decuns |

Integrationsbegleiterinnen unterstützen Kitas in Zeiten des Fachkräftemangels und fördern Integration. Sie kümmern sich gezielt um eingewanderte Kinder und Familien und geben ihnen die benötigte Hilfe. So können sich Erzieher*innen besser auf ihre pädagogische Arbeit konzentrieren.

Innerhalb von sieben Monaten werden die Integrationsbegleiterinnen in einer Schulung auf die Arbeit in Kitas vorbereitet. Unser Projektteam berät Kommunen in NRW dazu, wie sie die Schulung am besten umsetzen und anbieten können. Gefördert wird das Projekt durch das Familienministerium NRW und die Auridis Stiftung.

Was war unsere Idee? Was war der Ausgangspunkt?

Die AWO OWL mit Sitz in Bielefeld hat über 100 Kindertageseinrichtungen in der Region Ostwestfalen-Lippe (OWL). Mit all ihren unterschiedlichen Diensten gehört sie zu den größten Arbeitgebern der Region im Sozialwesen. Ab 2015 kamen viele geflüchtete Kinder in den Einrichtungen an. Die Kitas der AWO OWL berichteten, dass sie dadurch einen hohen Unterstützungsbedarf haben. Wenn ein Kind erst seit Kurzem in Deutschland lebt und hier zum ersten Mal eine Kita besucht, begegnet es Herausforderungen. Die Familien kennen die deutschen Systeme noch nicht. Es gibt viele Bedingungen und Regeln im Zusammenhang mit einem Kitabesuch. Hinzu kommen häufig Sprachbarrieren. Dies erschwert den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zu den Fachkräften, die die Grundlage für eine pädagogische Arbeit ist.

Die AWO OWL ist bekannt dafür, neue Kitakonzepte zu entwickeln, und stellte sich der Herausforderung. Die Leitfrage lautete: Wie kann das Ankommen von eingewanderten Kindern und Familien in den Kitas besser unterstützt und wie gleichzeitig das Kita-Personal entlastet werden? Schnell wurde klar, Menschen mit Integrationserfahrung haben selbst die Erfahrung gemacht, wie es ist, sich in der deutschen Kultur und Gesellschaft einzufinden. Das Projekt der „Integrationsbegleiterinnen in Kitas“ wurde aufgrund dieser Entwicklungen gegründet.  Mit ihren Sprachkenntnissen und ihrem kulturellen Wissen stehen Integrationsbegleiterinnen sowohl Familien als auch Fachkräften zur Seite. Sie übersetzen z.B. bei einem Elterngespräch oder erklären anderen Familien, warum bestimmte Bedingungen, wie z.B. eine Masernimpfung, erfüllt sein müssen.

Abbildung 1: „Integrationsbegleiterinnen in Kitas“ (eigene Darstellung)

Wie wurde die Idee umgesetzt?

Als erster Schritt erstellte die AWO OWL ein Konzept, wie eingewanderte Frauen im Rahmen einer Schulung auf die Arbeit in Kitas vorbereitet werden können. Frauen übernehmen nach wie vor die Care-Arbeit der eigenen Kinder. Dadurch haben sie weniger Chancen, sich beruflich zu betätigen. Das Aufgabenfeld einer Integrationsbegleiterin umfasst je nach Eignung und Interesse:

  • Begleitung von Kindern im pädagogischen Alltag
  • Kommunikationshilfe zwischen Fachkräften und geflüchteten und migrierten Kindern bzw. Eltern mit Unterstützungsbedarf
  • Interkulturelle Vermittlung
  • Durchführung niedrigschwelliger Angebote, z. B. Basteln, Backen, Turnen oder Vorlesen in der eigenen Muttersprache
  • Unterstützung bei hauswirtschaftlichen Tätigkeiten

Die Schulung geht über sieben Monate. Die ersten zwei Monate beschäftigen sich mit den theoretischen Grundlagen der Kita-Arbeit. Danach schließen sich zu der Theorie wöchentliche Hospitationen in einer Kita für zwei Monate an. In den letzten drei Monaten absolvieren die Teilnehmerinnen ein Praktikum in einer Kita. Pro Schulungsrunde nehmen 14 – 25 Frauen teil.

Um die Schulung so niedrigschwellig wie möglich zu halten, gibt es nur wenige Anforderungen:

  1. Integrationserfahrung durch Migration oder Flucht
  2. Mündliche Deutschkenntnisse, die eine Verständigung im Alltag ermöglichen. Es wird kein spezielles Deutschzertifikat gefordert.
  3. Interesse und Eignung für die Arbeit mit Kindern

Die erste Erprobung einer Schulungsrunde fand 2017 in den Kitas der AWO OWL statt. Im Jahr darauf wurde die Schulung für alle Träger in der Region geöffnet. 2019 erteilten das Familienministerium NRW und die Auridis Stiftung den Auftrag, die Schulung in NRW zu verbreiten. Seitdem berät und begleitet das Projektteam der AWO OWL Kommunen, um die Schulung vor Ort zu implementieren und durchzuführen. Zu den relevanten Akteur*innen gehören Kitaträger, Bildungsträger sowie Jobcenter und Agenturen für Arbeit. Letztere finanzieren den Teilnehmerinnen die Schulung durch einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein. Idealerweise kommt es zu einer Anstellung nach der Schulung. Die Arbeitszeit einer Integrationsbegleiterin wird mit dem Träger je nach Bedarf individuell vereinbart. In den meisten Fällen arbeitet sie 20 Stunden in der Woche. Aber auch Vollzeit ist möglich, oder dass eine Integrationsbegleiterin zwischen zwei oder drei Kitas pendelt.

Die Aufgaben richten sich auch wie in der Schulung nach der Eignung der Integrationsbegleiterin und dem Bedarf der Kita. Grundsätzlich gilt, dass eine Integrationsbegleiterin im allgemeinen Kitabetrieb die gesamte Gruppe unterstützt. Dazu gehört u. a. den Kindern zu helfen beim Umziehen, beim Spielen begleiten oder eigene Spiel- bzw. Kreativangebote machen. Eine Integrationsbegleiterin hat keine Aufsichtspflicht und arbeitet immer unter Anleitung einer Fachkraft. Individuelle Aufgaben ergeben sich aus den Bedürfnissen einzelner Kinder oder Eltern. Wenn ein Kind noch kein Deutsch kann, kann die Integrationsbegleiterin in der Erstsprache die Eingewöhnung in der Kita begleiten. Bei Elterngesprächen mit Kita-Fachkräften hilft die Integrationsbegleiterin durch Sprachmittlung. Themen umfassen die kindliche Entwicklung sowie alltägliche Dinge wie das Erklären einer „Matschhose“. Darüber hinaus kann die Integrationsbegleiterin Formulare für Transferleistungen übersetzen.

Im Gruppenkontext leistet die Integrationsbegleiterin spielerisch Kulturvermittlung. Sie liest oder singt z. B. in ihrer Herkunftssprache vor. Auch wenn nicht alle Kinder die einzelnen Wörter verstehen, spüren sie die Einzigartigkeit einer Sprache durch Klang, Rhythmus und Intonation. Des Weiteren können alle gemeinsame landestypische Gerichte zubereiten und erfahren so etwas über die Bräuche einer anderen Kultur. Unabhängig davon, ob eine Integrationsbegleiterin dieselbe Herkunft hat oder dieselbe Sprache spricht wie die eingewanderten Kinder und Familien, kann sie eine Identifikationsfigur für alle mit Migrationshintergrund darstellen. Es gibt den Familien ein Gefühl von Sicherheit und des Willkommenseins, wenn Teammitglieder der Kita ähnliche Erfahrungen wie sie im Rahmen ihres Ankommens in Deutschland erlebt haben.

Was war das Ergebnis? Wie war die Resonanz?

Eine externe Evaluation durch Interval bestätigt, dass Integrationsbegleiterinnen eine Bereicherung sowohl für zugewanderte Kinder und ihre Familien als auch Fachkräfte in den Einrichtungen sind. Die befragten Integrationsbegleiterinnen beobachteten positive Veränderungen bei den Kindern, die sie auf ihre Arbeit zurückführten: Die Kinder wurden als sicherer, offener und vertrauensvoller als zu Beginn ihres Einsatzes in den Kitas beschrieben. Die Nutzung der eigenen Erstsprache durch die Integrationsbegleiterin erleben die Kinder aus Sicht befragter Eltern, Einrichtungsleitungen und Integrationsbegleiterinnen als positiv und vertrauensbildend. Eine Integrationsbegleiterin berichtet z. B.: „Ja, wenn ich mit einem Kind auf meine Sprache gesprochen habe. Das Kind wird offener, hat Vertrauen, hat Spaß beim Spielen, Essen, Singen, Tanzen und Schlafen.“ Eine andere schreibt: „Ich bemerkte die Freude und das Vertrauen der Kinder, eine Situation in ihrer Muttersprache zu erklären.“

Vonseiten der Fachkräfte kommen immer wieder persönliche Rückmeldungen aus den Kitas, dass Integrationsbegleiterinnen insbesondere im Bereich der Sprachmittlung eine große Hilfe sind. Eingewanderte Kinder und Familien fühlen sich wohler und können besser in die Angebote der Kita einbezogen werden.

Knapp 66 Prozent der Teilnehmerinnen finden direkt eine Anstellung nach der Schulung. Womit niemand gerechnet hat: 10 Prozent der Teilnehmerinnen der Schulungsrunden in OWL gehen nach der Schulung in die Ausbildung als Erzieherin oder Kinderpflegerin. Weitere 12 Prozent planen eine Ausbildung. Sie müssen evtl. noch Abschlüsse nachholen bzw. anerkennen lassen oder warten, bis ihre eigenen Kinder größer sind. Dadurch unterstützt diese Schulung nicht nur im Kita-Alltag, sondern sie leistet auch einen Beitrag für die langfristige Gewinnung von weiteren Fachkräften. Seit 2023 sind die Integrationsbegleiterinnen Teil des Sofortprogramm Kita der Landesregierung NRW, um dem Fachkräftemangel in Kitas besser zu begegnen. Ein Monitoring soll ab 2024 den mittel- und langfristigen beruflichen Verbleib von den Integrationsbegleiterinnen erfassen.

Was kann das für Forschung und Praxis bedeuten?

Kinder sind mit Blick auf ganz unterschiedliche Differenzlinien vielfältig und Kindertageseinrichtungen müssen dieser Vielfalt Rechnung tragen. Dabei lässt sich Diversität nur begrenzt in einem Workshop lernen. Wenn Menschen mit diversen Lebensläufen Eingang in die Kitateams finden, wird Diversität gelebt. Dafür braucht es eine Offenheit aller Fachkräfte. Natürlich sind Zahlen und Statistiken maßgeblich, um den Erfolg eines Projektes zu messen. Nichtsdestotrotz lässt sich nicht alles quantifizieren. Von Migrant*innen wird in Deutschland erwartet, dass sie sich so schnell wie möglich integrieren. Häufig wird damit aber eine Anpassung an das deutsche System gemeint. Der eigene Erfahrungsschatz aus dem Herkunftsland spielt meist keine Rolle mehr. Das Besondere am Projekt „Integrationsbegleiterinnen in Kitas“ ist, dass die Teilnehmerinnen aus ihrer eigenen Integrationserfahrung schöpfen können. Sie können daher auf besondere Weise vermitteln und erhalten dafür Wertschätzung. Diese Erfahrung und Kompetenzen fehlen häufig nicht migrierten Fachkräften trotz bester Absichten. Auch einheimische Kinder müssen lernen, sich auf Vielfalt einzustellen. Daher profitieren durch die Kulturvermittlung der Integrationsbegleiterin alle Kinder – mit oder ohne Migrationshintergrund.

Projektwebsite: AWO OWL | Integrationsbegleiterinnen in KiTas (integrationsbegleiterinnen-in-kitas.de)

Inklusive Praxis in der Kita – Vorstellung von Lehr- und Lernmaterialien für die Kindheitspädagogik

| Anja Stolakis, Jörn Borke, Annette Schmitt, Sven Hohmann, Eric Simon, Matthias Morfeld, Elena Sterdt |

Inklusive Bildung und die daraus entstehenden Aufgaben stellen komplexe Anforderungen an Fachkräfte im frühpädagogischen Feld. Der Diskurs zum Thema Inklusion wurde in der Frühpädagogik vor allem durch die Resolution der Deutschen UNESCO Kommission (DUK, 2009) „Frühkindliche Bildung inklusiv gestalten“ sowie durch die im gleichen Jahr ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention vorangetrieben (Prengel, 2014). Für die frühpädagogische Praxis resultiert daraus die Anforderung, gleichberechtigte und barrierefreie Lernprozesse zu fördern. Dies setzt eine hohe pädagogische Qualität in den Kitas voraus (Schelle & Friederich, 2015). Eine angemessene Qualifizierung frühpädagogischer Fachkräfte durch Aus-, Fort- und Weiterbildung ist dafür maßgeblich.

Darüber hinaus kommen Expertisen zu dem Schluss, dass Inklusion als integraler Bestandteil in Studienangeboten zur Pädagogik der frühen Kindheit verankert sein sollte (Albers, 2011; Heimlich, 2013; Viernickel et al., 2011). Doch insbesondere in den akademischen Ausbildungsgängen sind die Inhalte einer inklusiven Bildung nur in geringem Umfang systematisch in Studiengängen der Frühpädagogik enthalten. Die etwa 100 frühpädagogischen Studiengänge in Deutschland befassen sich zumeist nur rudimentär mit Aspekten einer inklusiven Bildung. Es besteht ein erheblicher Bedarf an wissenschaftlich fundierten Ausbildungsmaterialien (Heimlich, 2013). Studiengangskonzepte sollten zudem den Ansatz der Inklusion nicht ausschließlich in modularisierter Form behandeln, sondern in allen Modulen als Querschnittaufgabe einbeziehen (Albers, 2011; Lingenauber, 2010; Thalheim & Jerg, 2012).

Die erfolgreiche Umsetzung inklusiver Bildung in Kindertageseinrichtungen wird maßgeblich durch die Haltung der frühpädagogischen Fachkräfte beeinflusst (Berry, 2010; Lieber et al., 1998; Mulvihill et al., 2002; Taylor & Ringlaben, 2012). Sie wurde als relevante Gelingensbedingung bei der Implementierung von Inklusion im vorschulischen Bereich identifiziert (Bricker, 2000; Cross et al., 2004). Die professionelle Haltung bildet als kontinuierlich zu entwickelnde Kernkompetenz eine Basis der anderen Handlungsfelder. Sie bezieht sich einerseits auf ein handlungsleitendes professionelles Rollen- und Selbstverständnis, andererseits auf die sich beständig weiterentwickelnde Persönlichkeit der pädagogischen Fachkraft, die durch biografische Selbstreflexion sowie durch die Fähigkeit zur systematischen und methodisch fundierten Reflexion pädagogischer Handlungspraxis im Prozess der Ausbildung entwickelt und gefestigt wird (Robert-Bosch-Stiftung, 2011).

Was will das Projekt?

Das Forschungsprojekt Inklusive Kindheitspädagogik als Querschnittsthema in der Lehre (InQTheL) wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der BMBF-Förderrichtlinie „Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte für inklusive Bildung“ gefördert (FKZ: 01NV1719; Laufzeit: Februar 2018 bis April 2021). Ziel des Projekts InQTheL war die Entwicklung und Bereitstellung von empirisch fundierten Lehr- und Lernmaterialien für Lehrende im Bereich der Frühpädagogik zum Thema Inklusion[1] sowie deren Implementierung und formative Evaluation. Die Lehr- und Lernmaterialien sollen dazu beitragen, inklusive Bildungsprozesse in Kitas durch eine Ausweitung des Themenbereiches inklusive Bildung in früh- und kindheitspädagogischen Studiengängen zu fördern. Das Themenfeld Inklusion wird dabei als Querschnittsaufgabe verstanden und in den verschiedenen Lehrbereichen in kindheits-/frühpädagogischen Studiengängen, also nicht nur in einem abgrenzbaren Modul Inklusion, aufgegriffen (Albers, 2011). Somit werden die verschiedenen relevanten Ebenen einer inklusiven Bildung berücksichtigt (Prengel, 2014). Um eine enge Theorie-Praxis-Verzahnung zu gewährleisten, wurden die Good-Practice-Beispiele gemeinsam mit Kindertageseinrichtungen erarbeitet, die als besonders beispielhaft hinsichtlich einer gelungenen inklusiven Praxis identifiziert wurden.

Primäre Zielgruppe der Lehrmaterialien sind Lehrpersonen in grundständigen und berufsintegrierenden Studiengängen der Kindheitspädagogik sowie themenverwandten Studiengängen an deutschsprachigen Hochschulen. Ferner können Fachschulen die Lehrmaterialien im Rahmen von Ausbildungsgängen zum/r staatlich anerkannten Erzieher*in einsetzen. Ebenfalls denkbar ist der Einsatz im Rahmen von Fort- und Weiterbildungsangeboten, etwa von Fachberater*innen oder Kitaleitungen.

Wie sind wir vorgegangen?

Das Vorhaben wurde mittels eines mehrstufigen Mixed-Methods-Design umgesetzt. Neben einer systematischen Literaturrecherche wurden quantitative und qualitative Methoden verwendet, um die komplexen multikausalen Gelingensbedingungen einer inklusiven Praxis zu erfassen. Das Vorhaben gliederte sich dabei in folgende aufeinander aufbauende Projektphasen:

a) Erstellung eines integrativen Reviews zum (internationalen) Forschungsstand zu den Gelingensbedingungen und Bedarfen einer inklusiven frühpädagogischen Praxis

b) Bestandsaufnahme und Analyse von Gelingensbedingungen und Bedarfen einer inklusiven frühpädagogischen Praxis in den Kitas Sachsen-Anhalts

c) Entwicklung von Good-Practice-Beispielen und Erstellung der Lehrmaterialien

d) Formative Evaluation und Dissemination

Die Forschungserkenntnisse zu den Gelingensbedingungen und Bedarfen bildeten das Fundament für die Entwicklung der Lehr- und Lernmaterialien (Stolakis, Simon, Hohmann, Sterdt, Morfeld, Borke & Schmitt, 2023). Neben einer theoretischen Einbettung des Themenfeldes Inklusion und Behinderung und der Vorstellung des Forschungsprojekts umfasst der Hauptteil die Lehr- und Lernmaterialien mit den dazugehörigen Good-Practice-Beispielen. Um Inklusion als Querschnittsthema zu behandeln, gliedert sich das entwickelte Material in Handlungsfelder, die sich an den von der Robert-Bosch-Stiftung herausgegebenen Qualifikationsprofilen an Arbeitsfeldern der frühen Kindheit orientieren (Robert-Bosch-Stiftung, 2011). Hier werden die zentralen beruflichen Handlungsfelder für frühpädagogische Fachkräfte dargestellt:

  • Handlungsfeld 1 – Professionelle Haltung
  • Handlungsfeld 2 – Arbeit mit Kindern
  • Handlungsfeld 3 – Elternarbeit
  • Handlungsfeld 4 – Organisation und Management
  • Handlungsfeld 5 – Zusammenarbeit mit anderen Professionen, Kooperationen und Vernetzung im Sozialraum
  • Handlungsfeld 6 – Wissenschaft und Forschung.

Zu jedem einzelnen Handlungsfeld wird einleitend der Forschungsstand dargestellt, welcher Erkenntnisse zu den Gelingensbedingungen für eine inklusive Kindheitspädagogik, die im Rahmen des Forschungsprojekts InQTheL erhoben wurden, beinhaltet. Kernstück der Lehr- und Lernmaterialien sind die Good-Practice-Beispiele in Form von 97 Video- oder Audioaufnahmen und/oder schriftlichen Materialien wie Ausschnitten aus Expert*inneninterviews, Ergebnisse von Gruppendiskussionen oder verschriftlichte Fallbesprechungen. Alle Materialien sind online abrufbar. Begleitet werden sie durch schriftliche Situationsbeschreibungen, die gesammelt in der o.g. Publikation enthalten sind. Sie führen in das Material ein und bieten erste Vorschläge zur Einbindung der Materialien in die Lehre sowie Reflexionsansätze. Mit Hilfe der Verschriftlichung lassen sich die einzelnen Situationen im Hinblick auf eine inklusive Bildung und Betreuung kritisch reflektieren.

Ergebnisse in Bezug auf die inklusive Haltung von Fachkräften

Exemplarisch soll das Handlungsfeld 1 – Professionelle Haltung herausgegriffen werden. Bei den Lehrmaterialien dieses Kapitels handelt es sich vorrangig um Ergebnisse aus den verschiedenen Erhebungsphasen des Projekts InQTheL. Ergänzt werden diese durch zwei Praxisbeispiele aus den Kitas.

Theorieimpulse und Projektergebnisse zum Thema Inklusive Haltung

Die Theorieimpulse und Projektergebnisse bilden das Kernstück dieses Kapitels und sollen in diesem Beitrag vorgestellt werden. Das Material enthält einen Foliensatz in Form einer PowerPoint-Präsentation zum Thema Inklusive Haltung.

Dieser beinhaltet die folgenden thematischen Bereiche:

  • Theorieinput zum Behinderungsbegriff und zum Inklusionsdiskurs
  • Präsentation der Projektergebnisse des InQTheL-Projektes zum Thema Inklusive Haltung
  • Diskussion im Plenum mit der Methode Focusgroup Illustration Map
  • Präsentation der Ergebnisse eines Expert*innenforums
  • Ergebnisse von Expert*inneninterviews

Der Foliensatz kann durch Lehrende in die eigenen Lehrveranstaltungen integriert werden. Einerseits können einzelne Folien zu den Theorieimpulsen oder den Ergebnissen für eigene Lehrinhalte genutzt werden, um sie tiefgreifender zu diskutieren. Hier liegt das Potenzial darin, dass einzelne Aspekte vertieft werden können. Andererseits können die Folien auch gemeinsam genutzt werden, um über das Themenfeld Inklusive pädagogische Orientierung im Allgemeinen zu sprechen. Die Materialien sollen eine vertiefte Reflexion mit dem Thema inklusive Haltung unterstützen.

Der Theorieinput zum Behinderungsbegriff und zum Inklusionsdiskurs umfasst im Wesentlichen historische Aspekte beider Begriffe. Dadurch lässt sich verdeutlichen, dass die Definition von Behinderung nicht konstant ist, sondern sich fortwährend wandelt von einem eher personenorientierten über ein soziales bis hin zu einem eher kulturellen Verständnis. In diesem Zuge hat sich auch der pädagogische Umgang mit Behinderung verändert von der Exklusion und Segregation hin zu Integration und Inklusion. Dieser Theorieinput lässt sich nutzen, um mit Studierenden in das Thema einzusteigen.

Darauf aufbauend können die Ergebnisse aus der Literaturrecherche und der Bestandsaufnahme in Sachsen-Anhalt des InQTheL-Projekts einbezogen werden. Insbesondere werden hier Spannungsfelder bezüglich einer inklusiven Haltung aufgezeigt und die Ergebnisse unter diesen Gesichtspunkten präsentiert. So zeigen die Ergebnisse, dass Inklusion auf einer rechtlichen Ebene und auf der Ebene von Outcomes (positive Auswirkung auf soziale Kompetenzen) zwar einerseits befürwortet (Lieber et al., 1998; Nonis et al., 2016), auf einer konkreten, handlungspraktischen Ebene hingegen eher mit Skepsis betrachtet werden (Bruns & Mogharreban, 2007). Diese Ergebnisse ließen sich sowohl im internationalen Forschungsstand als auch in der Bestandsaufnahme finden. Diskrepanzen wurden auch in Bezug auf das Inklusionsverständnis deutlich. So wird Inklusion einerseits als Möglichkeit betrachtet, Barrieren in der Institution im Allgemeinen zu identifizieren und zu bearbeiten, dennoch wird mehrheitlich der Aussage zugestimmt, dass Inklusion bedeutet, Kinder mit Behinderung bei der Überwindung individueller Hürden zu unterstützen. Begrifflich kommt das eher dem klassischen Förderverständnis gleich, bei welchem die Intervention am Kind und nicht die Unterstützung von Teilhabe im Vordergrund steht (Fyssa et al., 2014, Knauf & Graffe, 2016). Dieses Ergebnis fand sich ebenfalls in beiden Forschungsschritten. Gleichzeitig zeigen sich sowohl im internationalen Forschungsstand als auch in der Bestandsaufnahme in Sachsen-Anhalt Tendenzen von Zuschreibungen. So werden mit Behinderung eine höhere Bedürftigkeit sowie starke Abweichungen im Verhalten assoziiert (Alexander et al., 2016; Dimitrova-Radojichikj et al., 2016). Die Bestandsaufnahme konnte zudem zeigen, dass die Einstellung zur Umsetzung von Inklusion uneinheitlich ist. So wird zwar die inklusive Betreuung von Kindern mit Behinderung befürwortet, gleichzeitig geben die Einrichtungen aber an, dass für die Betreuung speziell ausgebildete Fachkräfte erforderlich sind und pädagogische Fachkräfte aus Regeleinrichtungen den Bedürfnissen dieser Kinder keinesfalls gerecht werden können.

Diese Projektergebnisse bieten sich als Impuls für eine nachfolgende Diskussion an. Sie können zum Anlass genommen werden, um über den Begriff Inklusion ins Gespräch zu kommen, was dieser für jede*n einzelne*n bedeutet und welche Implikationen sich für das pädagogische Handeln ergeben. Die Diskrepanz zwischen einer positiven Grundeinstellung einerseits und Zweifel bei der Umsetzung in der pädagogischen Praxis andererseits kann zudem genutzt werden, um mit Studierenden über ihre eigenen Wertvorstellungen, aber auch über Unsicherheiten und Ängste bzgl. einer inklusiven Bildung und Betreuung ins Gespräch zu kommen. So kann ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, welche Kompetenzen es braucht, um Handlungssicherheit zu erlangen, so dass sich diese gezielter ausbauen lassen. An die Ergebnisse anknüpfend könnte aber auch über stereotype Vorstellungen über Menschen mit Behinderungen gesprochen werden und darüber, was es braucht, um diese abzubauen. Dabei können Aspekte, wie bspw. Behinderungsbegriff und -verständnis vertieft werden.

Um eine Auseinandersetzung mit den genannten Spannungsfeldern anzuregen, werden im Lehrmaterial eine Reihe von Reflexionsfragen zur Verfügung gestellt. Zudem können die weiteren Folien des Foliensatzes als Vergleichshorizont für die Diskussion genutzt werden. Sie enthalten Ergebnisse einer Gruppendiskussion, eines Expert*innenforums und Zitate von Expert*inneninterview mit Kita-Leitungen und Fachkräften. Die Ergebnisse des Expert*innenforums, zeigen bspw., dass hier darüber diskutiert wurde, wie eine inklusive Haltung entwickelt und gefördert werden kann. Hier wurde insbesondere ein möglichst früher Praxisbezug in der Ausbildung und dabei auch eine Begegnung mit verschiedenen Heterogenitätsdimensionen (in Form von Selbsterfahrung) als förderlich hervorgehoben, um stereotype Vorstellungen abbauen zu können. Weiter wurde betont, dass die Arbeit mit Fallbeispielen dazu beitragen kann, Handlungssicherheit herzustellen.  Dies sind nur Beispiele und womöglich können Studierende durch die Auseinandersetzung und Reflexion dazu angeregt werden, selbst Ideen darüber zu entwickeln, was sie brauchen, um sich auf eine inklusive Praxis gut vorbereitet zu fühlen.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Die Qualifizierung des (zukünftigen) Fachpersonals ist von entscheidender Bedeutung, um inklusive Bildungsprozesse zu fördern. Die Reflexion wesentlicher Einflussfaktoren, welche die eigenen Denk- und Handlungsweisen ursächlich prägen, können dazu beitragen, fehlende Kompetenzen, Leerstellen o.ä. zu erkennen. Diese können dann anhand der eigenen Normen und Werte abgeglichen und integriert werden, um ein selbstsicheres, situationsübergreifend kontextsensibles und kohärentes Handeln zu ermöglichen (Kuhl, Schwer & Solzbacher, 2014). Durch die Unterstützung systematischer und methodisch fundierter Reflexionsprozesse kann sich eine inklusive Haltung herausbilden und festigen. Dafür erscheinen die entwickelten Lehr- und Lernmaterialien besonders geeignet, da sie die selbstständige Auseinandersetzung mit Lerninhalten fördern und zu einer gezielten Diskussion und Reflexion anregen. Zugleich wird eine Verbindung von Theorie und Praxis ermöglicht, die in ein kritisches, analytisches Verhältnis zueinander gesetzt werden können.

Ziel jeglicher akademischen Ausbildung ist die Herausbildung eines kritischen, fachbezogenen Denkens. Dafür ist eine verstärkte Studierendenzentrierung in der Lehre grundlegend (Messner, 2016). Studierende als Lernende sollten sukzessiv in die Lage versetzt werden, Lerninhalte eigenständig zu bearbeiten. Good-Practice-Beispiele bieten den Vorteil einer geringeren Abstraktion, sodass die Studierenden selbstständig Vorstellungen darüber entwickeln können, was Dimensionen einer inklusiven Praxis sein können. Die Notwendigkeit solcher Materialien wurde in verschiedenen Formaten, in denen sie vorgestellt wurden, deutlich. Zudem konnten erste Einsätze in Lehrveranstaltungen zeigen, dass sie vielfältige Anlässe zur Auseinandersetzung mit Inklusion innerhalb der verschiedenen Handlungsfelder bieten.

Zugang zu den Lehrmaterialien:

Stolakis, A., Simon, E., Hohmann, S., Sterdt, E., Morfeld, M., Borke, J. & Schmitt, A. (2023). Inklusive Praxis in der Kita: Lehr- und Lernmaterialien für die Kindheitspädagogik. Beltz Juventa.

Das gesamte Arbeitsmaterial wird online zur Verfügung gestellt unter: https://www.beltz.de/fach- medien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/produkte/details/46373-inklusive-praxis-in-der-kita.html bzw. auf der Produktseite zum Buch auf www.beltz.de. Hier geht es zum Kompetenzzentrum Frühe Bildung der Hochschule Magdeburg Stendal.

Literatur

Albers, T. (2011). Inklusion in den frühpädagogischen Studiengängen. Zeitschrift für Inklusion, 5(3).

Alexander, S. T., Brody, D. L., Muller, M., Gor Ziv, H., Achituv, S., Gorsetman, C. R., Harris, J., Tal, C., Goodman, R., Schein, D., Vogelstein, I. & Miller, L. (2016). Voices of american and israeli early childhood educators on inclusion. International Journal of Early Childhood Special Education, 8(1), 16–38.

Berry, R. (2010). Preservice and early career teachers’ attitudes toward inclusion, instructional accommodations, and fairness: three profiles. The teacher educator, 45(2), 75–95.

Bricker, D. (2000). Inclusion: How the Scene Has Changed. Topics in Early Childhood Special Education, 20(1), 14–19.

Bruns, D. A. & Mogharreban, C. C. (2007). The gap between beliefs and practices: early childhood practitioners’ perceptions about inclusion. Journal of Research in Childhood Education, 21(3), 229–241.

Cross, A. F., Traub, E. K., Hutter-Pishgahi, L. & Shelton, G. (2004). Elements for successful inclusion for children with significant disabilities. Topics in Early Childhood Special Education, 24(3), 169–183.

Deutsche UNESCO-Kommission (DUK) (2009). Frühkindliche Bildung inklusiv gestalten: Chancengleichheit und Qualität sichern. https://www.unesco.de/sites/default/files/2018-05/2009_Fruehkindliche_Bildung_inklusiv_gestalten.pdf

Dimitrova-Radojichikj, D., Chichevska-Jovanova, N. & Rashikj-Canevska, N. (2016). Attitudes of the macedonian preschool teachers toward students with disabilities. Alberta Journal of Education Research, 62(2), 184–198.

Fyssa, A., Vlachou, A. & Avramidis, E. (2014). Early childhood teachers’ understanding of inclusive education and associated practices: reflections from greece. International Journal of Early Years Education, 22(2), 223–237.

Heimlich, U. (2013). Ausbildung und Professionalisierung von Fachkräften für inklusive Bildung im Bereich der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung. In H. Döbert & H. Weishaupt (Hrsg.), Inklusive Bildung professionell gestalten – Situationsanalyse und Handlungsempfehlungen (S. 11–32). Waxmann.

Kuhl, J., Schwer, C. & Solzbacher, C. (2014). Professionelle pädagogische Haltung: Ver- such einer Definition des Begriffes und aus- gewählte Konsequenzen für Haltung. In C. Schwer & C. Solzbacher (Hrsg.), Professio- nelle pädagogische Haltung (107–120). Ver- lag Julius Klinkhardt.

Lingenauber, S. (2010). Integrative Elementarpädagogik und das Menschenbild der Reggio-Pädagogik. Gemeinsam leben, Zeitschrift für integrative Erziehung, 4, 165–168.

Lieber, J., Capell, K., Sandall, S. R., Wolf- berg, P., Horn, E., & Beckman, P. (1998). In- clusive preschool programs: Teachers’ be- liefs and practices. Early Childhood Research Quarterly, 13 (1), 87-105.

Messner, E. (2016). Hochschuldidaktische Herausforderungen zwischen Bologna und Humboldt. In Steirische Hochschul- konferenz (Hrsg.), Qualität in Studium und Lehre: Kompetenz- und Wissensmanagement im steirischen Hochschulraum (S. 5–7). Springer VS.

Mulvihill, B. A., Shearer, D. & Van Horn, M. L. (2002). Training, experience, and child care providers perceptions of inclusion. Early Childhood Research Quarterly, 17(2), 197–215.

Nonis, K., Chong, W. H., Moore, D. W., Thang, H. N., Koh, P. & Tang, H. N. et al. (2016). Pre-school teacher’s attitudes towards inclusion of children with developmental needs in kindergartens in Singapore. International Journal of Special Education, 31(3).

Prengel, A. (2014). Inklusion in der Frühpädagogik: Bildungstheoretische, empirische und pädagogische Grundlagen (2. Aufl.). Deutsches Jugendinstitut (DJI).

Robert-Bosch-Stiftung. (2011). Qualifikationsprofile in Arbeitsfeldern der Pädagogik der Kindheit Ausbildungswege im Überblick. https://www.bvktp.de/media/pik_qualifikationsprofile_1_.pdf

Schelle, R. & Friedrich, T. (2015). Weiterentwicklung pädagogischer Qualität durch inklusive Frühpädagogik: Eine Analyse der Schlüsselprozesse in Kitas. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 10(1), 67–80.

Stolakis, A., Simon, E., Hohmann, S., Sterdt, E., Morfeld, M., Borke, J. & Schmitt, A. (2023). Inklusive Praxis in der Kita: Lehr- und Lernmaterialien für die Kindheitspädagogik. Beltz Juventa.

Taylor, R. W. & Ringlaben, R. P. (2012). Impacting Pre-service Teachers’ Attitudes toward Inclusion. Higher Education Stu- dies, 2(3), 16–23.

Thalheim, S. & Jerg, J. (2012). Vernetzung und Förderung der Inklusionsorientierung von Forschung, Lehre und Praxisent- wicklung in Studiengängen der Frühpädagogik/frühkindlichen Bildung. In S. Simone, N.-K. Finnern, N. Korff & K. Scheidt (Hrsg.), Inklusiv gleich gerecht? Inklusion und Bildungsgerechtigkeit (S. 148–153). Klinkhardt.

Viernickel, S., Nentwig-Gesemann, I., Harms, H., Richter, S. & Schwarz, S. (2011). Profis für Krippen: Curriculare Bausteine für die Aus- und Weiterbildung frühpädagogischer Fachkräfte. FEL.


[1] Das Projekt InQTheL bezieht sich auf die Heterogenitätsdimension Behinderung, wohlwissend, dass Inklusion auch andere Heterogenitätsdimensionen (bspw. Herkunft, Geschlecht) betrifft und dass eine gute Pädagogik für jedes Kind auch automatisch eine inklusive Pädagogik, im Sinne einer Pädagogik der Vielfalt (Prengel, 2014), ist. Die vorgestellten Lehr-/Lernmaterialien sind dabei auch im Hinblick auf andere Heterogenitätsdimensionen diskutierbar.

Vielfalt vor Ort begegnen – wie geht das eigentlich?

| Barbara Lochner |

Im Modellprojekt „Vielfalt vor Ort begegnen – professioneller Umgang mit Heterogenität in Kindertageseinrichtungen“ wird80 Thüringer Kitas ermöglicht, eigene Konzepte zu entwickeln und umzusetzen. Finanziert wurde das Projekt von 2021 bis 2023 durch Mittel aus dem Gute-Kita-Gesetz des Bundes (Lochner et al. 2022). Mittlerweile hat das Land Thüringen die Förderung übernommen und sie bis Ende 2025 abgesichert. Es geht darum, dass die Kitas ihre eigenen Herausforderungen in der Wahrnehmung von und Umgang mit Heterogenität erkennen und nach praktikablen Wegen suchen, diesen im Sinne einer inklusiven, diversitätsreflexiven Praxis zu begegnen. Zur Koordination dieses Prozesses gibt es in den Einrichtungen sog. „Steuerungsfachkräfte“, die zusätzlich zum Regelpersonal finanziert werden. Sie werden durch Fachberater:innen und einem Team von Wissenschaftler:innen unterstützt und begleitet.

Was will das Projekt?

Das Zusammenleben und der Alltag in Kindertageseinrichtung ist ein Spiegel der Gesellschaft und damit in gleicher Weise von Diversität und Heterogenität geprägt. Es ist mittlerweile empirisch gut belegt, dass zentrale Differenzlinien wie race*, class, gender oder dis/ability auch in Kindertageseinrichtungen eine Rolle spielen, die Entwicklung der Identitäten von Kindern prägen und den „Zugang zu bedeutenden gesellschaftlichen Gütern wie (…) Bildung“ (Kuhn 2021) steuern. Um das Zusammenleben in institutionellen Gemeinschaften inklusiv und diversitätssensibel zu gestalten, sind Reflexionen und Veränderungen auf Struktur-, Orientierungs- und Interaktionsebene notwendig. Zum einen geht es darum, den vielfältigen Voraussetzungen, Interessen und Bedürfnissen der Kinder angemessen zu begegnen und ihnen im Sinne einer solidarischen Gemeinschaft Raum zu geben. Zum anderen ist es Teil des frühpädagogischen Bildungsauftrags Kinder für den Umgang mit Vielfalt zu befähigen.

Die Kitas sind im Modellprojekt aufgefordert, sich diesen Herausforderungen zu stellen. Aufgrund unterschiedlicher sozialstruktureller Gegebenheiten, organisationaler Rahmenbedingungen und fachlicher Schwerpunktsetzungen sind seit 2021 vielfältige Projekte in den Einrichtungen entstanden. Die begleitende Evaluation zeigt, dass bislang insbesondere die Zusammenarbeit mit und die Unterstützung von Kindern und Familien mit sog. ‚Migrationshintergrund‘, nicht-deutscher Familiensprache und/oder sozioökonomischen Belastungen im Fokus der Auseinandersetzung standen. Neben konkreten Maßnahmen (etwa dem Etablieren eines Elterncafés oder von Kita-Sozialarbeit) geht es um die Entwicklung einer reflexiven Haltung und diversitätssensibler Interaktionskompetenz – auch um dem Risiko zu begegnen, durch neue Formate und Angebote Zuweisungs- und Otheringpraktiken[1] zu reproduzieren, Ungleichheiten zu verstärken und das Potenzial von Kindertageseinrichtungen als „gesellschaftliches Allgemeinangebot“ (Thole 2012, S. 56) zu schwächen.

Aufgabe der wissenschaftlichen Begleitung ist es, die konkreten Herausforderungen vor Ort in ihrer Komplexität auszuleuchten und fachliche Unterstützungs- und Reflexionsangebote zu entwickeln, welche die diversitätsreflexive Handlungskompetenz stärken. Hierfür werden Räume geschaffen, die Perspektiverweiterungen und Reflexionen ermöglichen.

Wie sind wir vorgegangen?

Das Team der FH Erfurt begleitet den Projektprozess forschend, führt ein inhaltliches Monitoring durch und hält Fortbildungs- und Vernetzungsangebote für die Praktiker:innen und Fachberater:innen vor. Sie orientiert sich dabei an der Idee der „dialogischen Wissenstransformation“ (Blatter & Schelle 2022; Junk & Wutzler 2023). Begleitmaßnahmen sind demnach so angelegt, dass Wissensbildung und Weiterentwicklung im Dialog der wissenschaftlichen und fachpraktischen (sowie ggf. weiterer) Akteur:innen erfolgen. Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass „wissenschaftliche Erkenntnisse die Praxis (…) über eine eigenständige Rezeption durch die Praktikerinnen und Praktiker“ (Blatter und Schelle 2022, S. 18) erreichen müssen, geht es darum, einen Transformationsraum zu schaffen, der die Entstehung „neuen Wissens“ im aktiven Austausch und der Vernetzung der unterschiedlichen Akteur:innen ermöglicht.

 Im Rahmen von Forschung und Monitoring ging es in der ersten Projektphase (bis Mai 2023) vor allem um folgende Ziele:

  • Mit Hilfe von ethnografisch orientierten Hospitationen in den Einrichtungen und einer standardisierten Online-Befragung zu Beginn des Projekts wurde das Ziel verfolgt, die Ausgangslage zu dokumentieren, ein Verständnis für die Herausforderungen der Praxis zu entwickeln und herauszufinden, welche Unterstützungsbedarfe die Einrichtungen und Fachkräfte sehen.
  • Insbesondere auf Basis der ethnografisch orientierten Hospitationen und den daraus entstandenen Beobachtungsprotokollen, wurde eine Fallvignette entwickelt, die als Gesprächsimpuls für Gruppendiskussionen mit den Steuerungsfachkräften der Einrichtungen und den Fachberater:innen dient und im Weiteren als Fortbildungsmaterial eingesetzt wird. Mit den Gruppendiskussionen wurden Orientierungen, strukturähnliche Erfahrungen und Umgangsweisen mit gegenstandsimmanenten Spannungsfeldern in der Auseinandersetzung mit Diversität erfasst. 
  • Gegen Ende der ersten Projektphase (im Winter 2022/23) wurden der Projektverlauf, die Erfolge und Herausforderungen auf Basis evaluativer Gruppendiskussionen und einer weiteren standardisierten Online-Befragung in den Einrichtungen evaluiert.

Eine Grundidee war, dass durch das Zusammenspiel von forschenden, dialogisch ausgerichteten und fortbildenden Zusammenkünften praxisnahe Möglichkeiten der Perspektiverweiterung und Reflexion eröffnet werden. Bei den Beobachtungen der Wissenschaftler:innen im Rahmen der ethnografisch orientierten Hospitationen ging es etwa darum, gegenstandsimmanente Spannungsfelder in den Deutungs- und Handlungsweisen herauszuarbeiten und diese in eine Fallvignette zu transportieren, die diese Erkenntnisse nicht nur verdichtet aufgreift, sondern die Ausgangssituationen auch so verfremdet, dass sich beteiligte Fachkräfte nicht bloßgestellt fühlen, wenn sie als Teilnehmende der Gruppendiskussion auf die Vignette stoßen. Bei den Gruppendiskussionen handelte es sich dann um Reflexionen der Steuerungsfachkräfte und Fachberater:innen, die sich – vermittelt durch die Fallvignette – auf die Wahrnehmungen der Fachkräfte im Feld sowie auf die Beobachtung dieser Fachkräfte durch die Wissenschaftler:innen richteten. Auf diese Weise wurden sowohl Einordnungen der pädagogischen Praxis (was sind die Handlungsprobleme, die in der Fallvignette sichtbar werden?), Annahmen zu externen Wahrnehmungen (welche Zuschreibungen sind in der so konstruierten Fallvignette enthalten?) sowie Orientierungen und Deutungsweisen der Diskutant:innen (wie werden die Handlungsprobleme wahrgenommen und diskutiert?) der Analyse zugänglich. Der Raum der Fortbildungen bot im Anschluss daran die Möglichkeit, die unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Deutungsebenen aufzugreifen und gemeinsam zu bearbeiten.

Was sind bisherige Ergebnisse des Projekts?

Aufgrund der unterschiedlichen Forschungsstränge und -ebenen kann an dieser Stelle nur ein kleiner Ausschnitt dargestellt werden, der an das oben skizzierte Interesse der Vermittlung unterschiedlicher Perspektiven und Wahrnehmungen anknüpft.

Als relevante Themen in Bezug auf eine diversitätsreflexive Interaktionspraxis wurden auf Basis der ethnografischen Hospitationen

  • der Umgang mit Artefakten (insbesondere sog. „Vielfaltsmaterialien“),
  • das Verhältnis von Repräsentation und Besonderung (im Umgang mit Materialien und Personen),
  • die Wahrnehmung und Einordnung von Diskriminierung (z. B. als pädagogisches Problem oder „Effekt gesellschaftlicher Einteilung“ (Scheer 2011, S. 36),
  • das Zusammenspiel von Ausgrenzung und Kindbild (Verhältnis von Vulnerabilität und Akteur:innenstatus des Kindes als Ausgangspunkt pädagogischer Interventionen) sowie
  • Fragen der Teamkultur und kollegialer Kritik herausgearbeitet (Verhältnis von kollegialer Intervention und Reflexion). 

Diese Themen wurden in die o. g. Fallvignette überführt, die als verfremdete dichte Beschreibung verstanden werden kann. Sie wurde in zwei Fassungen erstellt, die sich lediglich durch den Namen der zweiten Fachkraft (Frau Ismael/Frau Meier) unterscheiden. Achtmal wurde die Vignette „Meier“ und sechsmal die Vignette „Ismael“ in den Gruppendiskussionen genutzt. Die Veränderung der Namen sollte eine weitere Ebene der Differenz hinzufügen und stellte die Vergleichbarkeit der Diskussionen über diesen Unterschied her.

Als bedeutsam haben sich in der bisherigen Auswertung der Gruppendiskussionen u. a. folgende Aspekte erwiesen:

  • In fast allen Gruppendiskussionen besteht bei den Diskutant:innen zunächst ein hohes Bedürfnis sich vom Handeln der Fachkräfte in der Fallvignette abzugrenzen. Spätere Konklusionen zu Frau Schütz lassen sich überwiegend mit der Formel „gut gemeint ist nicht immer gut gemacht“ (VGD 12, Ihln, Z. 39) zusammenfassen. Daraus werden mitunter eigene Handlungsaufträge als Steuerungsfachkräfte bzw. Fachberater:innen abgeleitet, die sich um die Förderung einer Fehler- und Kritikkultur im Team und um pädagogisch-didaktische Kompetenz drehen. Diese handlungsorientierte Bewertung lenkt den Blick auf praktische Handlungs- und Veränderungsbedarfe, überspringt jedoch den Schritt einer präzisen Analyse der Strukturlogiken, die dem Handeln, das als fehlerhaft wahrgenommen wird, zugrunde liegen.
  • Die Deutungen des Handelns der zweiten Fachkraft variieren in einer Weise, die eine Verbindung mit der jeweiligen Namensgebung sehr nahelegen (vgl. u. a. Kleen & Glock 2020). Heißt sie Fr. Ismael wird ihr Handeln häufiger in den Blick genommen und tendenziell kompetenter eingeordnet als bei Fr. Meier. Es deutet sich an, dass Fr. Ismael als „Experten für Othering- und Rassismuserfahrungen“ (Akbaş 2017, S. 377) positioniert wird. Zugleich werden Beschränkungen der Handlungsmöglichkeiten (als „Neue“, die möglicherweise eine eigene Migrationsgeschichte hat) deutlicher aufgerufen als bei Frau Meier. Diese wiederum wird stärker als Repräsentantin der Fachgemeinschaft positioniert. Sie scheint ein höheres Identifikationspotenzial zu bieten, was auch dazu führt, dass sie stärker kritisiert wird.
  • Als intersubjektiv anschlussfähiger Gesprächsmodus erweist sich vor allem eine pädagogisch-didaktische Inblicknahme der Fallvignette. Dies ist einerseits mit Blick auf den Gesprächsrahmen (die Teilnehmenden kennen sich nicht alle, die Gruppendiskussionen finden pandemiebedingt digital statt) erklärlich: Der gemeinsame Bezugspunkt ist die pädagogische Beruflichkeit. Zugleich verstellt dieser Modus mitunter den Blick auf Diskriminierungspraktiken, weil er zu begünstigen scheint, Konflikte als situierte pädagogische Probleme zu interpretieren, ohne sie ins Verhältnis zu gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu setzen.       

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Deutlich wird im Projekt nicht nur die hohe Bedeutung von Reflexionsräumen für die strukturierte Auseinandersetzung mit den Fallstricken und Bedingungen einer diversitätsreflexiven Praxis. Es deutet sich vor allem an, wie notwendig es ist, konsequent folgende Prämissen von Reflexionsprozessen zu beleuchten und zu hinterfragen:

  • In den Gruppendiskussionen zeigt sich z. B. erstens, dass die Auseinandersetzung sehr stark davon beeinflusst wird, ob die Situation als „echt“ eingeordnet und damit als relevant für die eigene Praxis zugelassen wird. Möglicherweise fungieren solche Distanzierungen als Selbstschutz gegen eine (schmerzhafte) Auseinandersetzung mit der eigenen Involviertheit in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Zugleich zeigt sich in unseren Daten, dass die Anerkennung von Authentizität die Nähe zum Gegenstand erhöht.
  • Es zeigt sich zweitens die Bedeutung kasuistischer Kompetenz in der Auseinandersetzung mit Situationen. Sie erlaubt, den Strukturlogiken des Handelns nachzugehen und damit die Ebene der Bewertung oder des affirmativen Verständnisses zu verlassen. Das schnelle Bewerten behindert den Blick auf die strukturellen Bedingungen der Praxis und begünstigt einen individualisierenden Umgang mit Handlungsproblemen.
  • Schließlich zeigt sich drittens, wie schwierig es ist, sich von impliziten Annahmen zur sozialen Positioniertheit von Personen in der Einordnung von Vorgängen und Praktiken zu lösen (von Heyden & Zeltwanger 2023; Lochner & Rehklau 2023). Eine Möglichkeit wäre ggf. sozialstrukturelle Kontexte (Alter, Geschlecht, Herkunft), die mit dem Namen transportiert werden, in Fallreflexionen zu verfremden oder durch Anonymisierungen zu entfernen (vgl. Lochner 2017), um methodische Kontrolle über implizite Ordnungen der Differenz, die den eigenen Reflexionsprozess beeinflussen, zu erlangen.  

Literaturverweise

Akbaş, B. (2017). Von Sprachdefiziten und anderen Mythen. Eine Studie zum Nicht-Verbleib von Elementarpädagoginnen und -pädagogen mit Migrationshintergrund. Wiesbaden: Springer.

Blatter, K. & Schelle, R. (2022). Transfer in der Frühpädagogik als Wissenstransformation. Theoretische Verortung und Handlungsfelder. In: Weltzien, D., Wadepohl, H., Cloos, P., Friedrich, T. & Schelle, R. (Hrsg.): Transfer in der Frühpädagogik. Freiburg i. Br.: FEL, S. 21-50.

Kleen, H. & Glock, S. (2020). Sag’ mir, wie du heißt, dann sage ich dir, wie du bist: Eine Untersuchung von Vornamen. In: Glock,S. &  Kleen, H. (Hrsg.): Stereotype in der Schule. Wiesbaden: Springer VS, S. 99–131.

Junk, D. & Wutzler, M. (2023). Dialogischer Wissenstransfer in der frühen Bildung: Kindergärten als Orte diversitätssensibler Pädagogik gestalten. In: Hoffmann, M. et al. (Hrsg.): RAUM MACHT. INKLUSION. Inklusive Räume entwickeln und erforschen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S.310–318.

Lochner, B. (2017). „Kevin kann einfach auch nicht Paul heißen“ Methodologische Überlegungen zur Anonymisierung von Namen. In: ZQF – Zeitschrift für Qualitative Forschung 2017 (18 (2), S. 283–296.

Lochner, B., Rehklau, C. (2023). Heterogenitätsreflexive Interaktionsgestaltung als Herausforderung. Sozial Extra, 47, 28–30. (Open Access).

Lochner, B., Wutzler, M., Rißmann, M., Rehklau, C. (2022). „Vielfalt vor Ort begegnen“ – wissenschaftliche Begleitung eines Modellprojekts zum professionellen Umgang mit Heterogenität in Kindertageseinrichtungen in Thüringen (WisBeV). Soziale Passagen, 14, 201–207 (Open Access).

von Heyden, N. & Zeltwanger, S. (2023). Rassismus? So was gibt es bei uns nicht! Dethematisierung von Rassismuserfahrungen im Kita-Alltag und Räume für einen offenen Dialog. Sozial Extra, 47, 36–40 (Open Access).


[1] D.h. Ausgrenzung durch Benennung zu fördern.

Antisemitismus in der Kita? Einblicke in ein Forschungsprojekt zu Differenzkonstruktionen unter jungen Kindern

| Benjamin Rensch-Kruse, Saba-Nur Cheema & Yasmine Goldhorn |

Einleitung

Antisemitismus ist in Deutschland ein gesellschaftlich breit debattiertes und empirisch gut erforschtes Phänomen. Insbesondere in den letzten Jahren sind zahlreiche Studien und Beiträge entstanden, die Judenfeindschaft im Erziehungs- und Bildungssektor untersuchen bzw. problematisieren (vgl. exempl. Bernstein/Grimm/Müller 2022; Bernstein 2020; Grimm/Müller 2020). Im Bereich der frühen Kindheit wurde Antisemitismus als Forschungsgegenstand bisher jedoch schlichtweg ausgespart. Während unlängst pädagogisch-programmatische Arbeiten erschienen sind, die Antisemitismus in Kindertagesstätten thematisieren und die Notwendigkeit einer frühestmöglichen Prävention diskutieren (vgl. Kölsch-Bunzen 2023, 2022), existieren in Bezug auf die Frage, wie und inwiefern Antisemitismen in der frühen Kindheit eine Rolle spielen, noch keine empirischen Erkenntnisse. Hier klafft eine beachtliche Forschungslücke (vgl. Rensch-Kruse et al. 2023).

Dies ist aus zweierlei Gründen erstaunlich: Einerseits gilt die frühe Kindheit als basale Lebensphase für spätere Entwicklungen, in der erzieherische Einwirkungen als richtungsweisend betrachtet werden (vgl. exempl. Fried et al. 2003, S. 7 f.). Andererseits kann diskriminierenden bzw. Differenz herstellenden Verhaltensweisen in pädagogischen Verhältnissen nur dann frühzeitig begegnet werden, wenn sie als solche erkannt und verstanden werden. Hierzu bedarf es der Forschung, d.h. der Beobachtung, Beschreibung, Interpretation und Kritik der vorhandenen (pädagogischen) Diskurse und Praktiken sowie der Einschätzung ihrer Effekte (vgl. Diehm/Radtke 1999, S. 14). Ohne grundlegende Forschung in Einrichtungen der frühen Kindheit gibt es mit Blick auf Antisemitismusprävention praktisch keine Anhaltspunkte, an die pädagogisches Handeln anschließen könnte.

Das an der Goethe-Universität Frankfurt angesiedelte und unter der Leitung von Isabell Diehm († 2023) begonnene Teilprojekt ‚Antisemitismus unter jungen Kindern. Differenzkonstruktionen im Vor- und Grundschulalter (Relcodiff_ungesteuert)‘[1] stößt in die genannte Forschungslücke vor und untersucht antisemitische Differenzierungspraktiken unter jungen Kindern in Kindertagesstätten (Kita). Der folgende Beitrag gibt temporäre Einblicke in das Forschungsprojekt und präsentiert kursorisch erste Felderkenntnisse.

Vorgeschichte

Das Anliegen, Antisemitismus unter jungen Kindern zu untersuchen, hat eine längere Vorgeschichte. Isabell Diehm hat in ihrer umfassenden Forschung zu Differenzkonstruktionen im Kontext der frühen Kindheit immer wieder festgestellt, dass das Thema ‚Antisemitismus‘ weder in der sozialwissenschaftlichen noch in der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung vorkommt. Aus dieser ersten Feststellung sind über einen längeren Zeitraum das Interesse und der Wunsch erwachsen, eingehender der Frage nachzugehen, wie Antisemitismen im elementarpädagogischen Bereich zu erforschen wären und inwieweit Judenfeindschaft dort überhaupt vorkommt. Genauer gefragt: Inwiefern eignen sich Kinder antisemitische Haltungen und Anschauungen an und wie gebrauchen sie diese in ihrem Alltag?

Diese Frage hat Isabell Diehm nicht losgelassen und ihr empirisch beizukommen war ihr eine Herzensangelegenheit. Auf der Grundlage ihrer Beobachtungen, ihres Engagements und ihrer Initiative ist schließlich u.a. das hier zur Präsentation stehende Teilprojekt hervorgegangen, in dem wir mit Isabell Diehm bis zuletzt geforscht haben und in dem wir nun in ihrem Andenken weiterforschen.

Was will das Projekt/ Was ist das Phänomen?

Im Mittelpunkt der Forschung stehen (antisemitische) Differenzkonstruktionen unter Kindern in der Kita und die Frage, inwiefern sie auf judenfeindliche Unterscheidungsweisen Bezug nehmen, wie sie diese (re)produzieren und in alltäglichen Interaktionen anwenden. Von Interesse sind damit kindliche (diskursive) Praktiken des Differenzierens, die auf eine „antisemitische Semantik“ (Holz/Haury 2021, S. 21) hin untersucht werden. Antisemitismus[2] erfüllt eine das Wissen ordnende und damit die Wahrnehmung der Welt strukturierende Funktion. Antisemitische Wissensordnungen[3] beeinflussen, wie wir die Welt sehen, d.h. wie wir denken, sprechen und handeln.

Antisemitismus als Differenzkonstruktion zeigt sich wandelbar und die Frage, wie antisemitische Wissensordnungen unter jungen Kindern verhandelt und angewandt werden, kann insofern nur kontextabhängig und situationsspezifisch rekonstruiert werden (vgl. Rensch-Kruse et al. 2023). Da sich aufgeführte Praktiken des Unterscheidens i.d.R. nicht auf eine bestimmte Differenzkategorie beschränken lassen, sondern mehrere Differenzkonstruktionen im Spiel sind, wird der Fokus nicht ausschließlich auf antisemitische Unterscheidungsweisen gerichtet. Stattdessen wird ein offener Ansatz verfolgt, der von einer grundsätzlichen Wechselwirkung bzw. Intersektionalität im Kontext von Differenzkonstruktionen unter jungen Kindern ausgeht (vgl. Bak/Machold 2022).

Kurz gesagt: Es werden zwar ausdrücklich antisemitische Wissensordnungen und ihre Aufführung in (diskursiven) Praktiken in den Blick genommen, aber auch weitere Konstruktionen, die bspw. rassialisierende, religionsbegründete, kulturelle und nationale Unterscheidungen betreffen, können vom Datenmaterial ausgehend Gegenstand der Untersuchung sein.

Wie sind wir vorgegangen?

Um Zugang zu möglichen (antisemitischen) Praktiken des Differenzierens in Kitas[4] zu bekommen, haben wir uns für ein ethnographisches Vorgehen entschieden, das sich im Kitakontext bereits als fruchtbare Herangehensweise erwiesen hat (vgl. exempl. Machold 2015; Kuhn 2013). Dabei greifen wir auf Arbeiten der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung zurück, die wichtige Erkenntnisse für die Erforschung antisemitischer Unterscheidungspraktiken bereitstellen (vgl. Rensch-Kruse et al. 2023). Neben teilnehmenden Beobachtungen veranstalten wir videogestützte Gruppengespräche[5] mit Kindern zwischen vier und acht Jahren. Darüber hinaus führen wir leitfadengestützte Interviews mit pädagogischen Fachkräften, Kitaleitungen und Eltern.[6] Während uns die teilnehmenden Beobachtungen und Gruppengespräche Einblicke in interaktive kindliche Verhaltens- und Sprechweisen geben, ermöglichen uns die Interviews kontrastive Eindrücke in Erwachsenensichtweisen. Von der so herbeigeführten Möglichkeit, kindliche Praktiken des Differenzierens mit Erwachsenenperspektiven in Relation zu setzten, versprechen wir uns aufschlussreiche Erkenntnisse über die Art und Weise der Wahrnehmung und Zirkulation antisemitischer Wissensordnungen im jeweiligen Kitakontext.

Im Gegensatz zu den Erwachseneninterviews, wird das Thema Judenfeindschaft im Kontext der teilnehmenden Beobachtungen und Gruppengespräche von unserer Seite nicht explizit gemacht. Im Kontakt mit den Kindern kommen Kinderbücher, Bilder und Handpuppen zum Einsatz, die religiöse Symbole, wie bspw. eine Synagoge, einen Davidsstern oder eine Kippa zeigen bzw. tragen. In den Gruppengesprächen werden die Kinder zunächst aufgefordert zu beschreiben, was sie sehen. Erst auf dieser Grundlage werden sodann Gespräche initiiert. Mit diesem Vorgehen soll einerseits erreicht werden, dass Aussagen und Handlungen nicht durch eine direkte Konfrontation mit dem Forschungsthema hervorgelockt werden, sondern dass es vielmehr den Kindern überlassen bleibt, welche Assoziationen die präsentierten Materialien bei ihnen hervorrufen. Andererseits soll damit berücksichtigt werden, dass eine zu starke thematische Setzung eine Reifizierung von Differenz begünstigt (vgl. Diehm/Kuhn/Machold 2010).

Wird Judenfeindschaft offensiv thematisiert, so kann das bedeuten, die Kinder aus einer Erwachsenenperspektive mit etwas zu konfrontieren, dass sie selbst noch gar nicht kennen bzw. dessen Bedeutung ihnen noch gar nicht bewusst ist. Es geht uns darum, antisemitischen Differenzkonstruktionen unter Kindern nachzuspüren und dabei zu reflektieren, dass dieses Nachspüren-Wollen selbst Differenz(ierung)en hervorbringt. Die Arbeit mit den genannten Materialien bietet eine Möglichkeit, von den Vorstellungen der Kinder ausgehend den Forscher:innenblick auf entsprechende Unterscheidungen zu richten.

Was sind bisherige Ergebnisse?

Eine erste Durchsicht der leitfadengestützten Interviews fördert zutage, dass pädagogische Fachkräfte, Kitaleitungen und Eltern das Thema ‚Antisemitismus‘ prinzipiell nicht im Kitakontext verorten und entsprechend auch nicht über judenfeindliche Vorkommnisse in der Kita berichten. Neben Aussagen, die darauf hinweisen, dass Antisemitismus unter jungen Kindern kaum bis gar nicht vorstellbar ist („Kinder grenzen noch nicht so aus; Kinder sind eher offen“) bzw. schlichtweg nicht vorkommt („Gar nicht. Also, da habe ich nichts von gehört“; „Ist überhaupt kein Thema hier“; „Ne, fällt mir jetzt direkt nicht ein“) lassen sich Bemerkungen finden, die die Abwesenheit judenfeindlicher Vorkommnisse an das vermeintlich fehlende Vorhandensein jüdischer Kinder knüpfen („Jüdische Kinder haben wir glaube ich gar nicht“).

Dabei fällt auf, dass viele der Interviewten nicht sicher sagen können, ob es überhaupt jüdische Kinder in der jeweiligen Einrichtung gibt. Hier lässt sich Unsichtbarkeit auf Seiten der Kinder und Unsicherheit auf Seiten der Erwachsenen feststellen. Während die Vorstellung, dass Antisemitismus in der Kita aufgrund des jungen Alters der Kinder nicht vorkäme, auf den Topos des ‚unschuldigen Kindes‘ (vgl. Bühler-Niederberger 2005) verweist, kann die gängige Praktik, Judenfeindschaft an jüdische Präsenz zu binden, auf fehlendes Wissen über Antisemitismus zurückgeführt werden.[7] Ohne an dieser Stelle genauer auf die Ergebnisse eingehen zu können, kann in Bezug auf die Frage, wie Antisemitismus im Kitakontext von Seiten der Erwachsenen thematisiert wird, von einer ‚Dethematisierung‘ gesprochen werden. Die überwiegende Zahl der Interviewten geht davon aus, dass Kinder weder über antisemitisches Wissen verfügen, noch dass Judenfeindschaft in der Kita vorkommt.

Dies steht in einem eklatanten Widerspruch zu den Erkenntnissen, die wir während der teilnehmenden Beobachtungen und Gruppengespräche unter den Kindern gemacht haben. So hat sich gezeigt, dass bereits junge Kinder Jüdinnen und Juden als solche identifizieren und in einzelnen Fällen mit Begriffen beschreiben, die antisemitischen Wissensordnungen entstammen. In der Auseinandersetzung mit den Kinderbüchern, Bildern und Handpuppen sind Jüdinnen und Juden von manchen Kindern als ‚reich‘, ‚wohlhabend‘ und ‚böse‘ adressiert worden. Auch phänotypische Merkmale, wie bspw. die Zuschreibung einer ‚großen Nase‘, wurden benannt.

Dabei ist es wichtig hervorzuheben, dass die Kinder die von ihnen getätigten Aussagen i.d.R. nicht begründen können und offenbar nur über wenig bis gar kein Kontextwissen verfügen. So inkonsistent und unvermittelt, wie die Aussagen kommen, so sprunghaft und aus dem Zusammenhang gerissen erscheint die Argumentation. Einen siebenjährigen Jungen gefragt, woher er wisse, dass Jüdinnen und Juden „ekelhaft“ und „gefährlich“ seien, gibt uns dieser zur Antwort: „ich weiß es selbst einfach. Ich hab nur nachgedacht“. Junge Kinder verfügen noch nicht über ein gefestigtes weltanschauliches Repertoire, auf das sie bewusst zurückgreifen. Sie sprechen aus, was ihnen in den Sinn kommt, was ihnen in der jeweiligen Situation nutzt, womit sie Aufmerksamkeit erregen und zeigen können, was sie wissen. Obgleich sie die Herkunft und Bedeutung einer getätigten Aussage nicht immer erklären können, verstehen sie doch sehr gut, dass ihr Handeln etwas bewirkt.

Was kann das für die pädagogische Praxis bedeuten?

Das vorgestellte Forschungsprojekt untersucht Antisemitismus in Einrichtungen der frühen Kindheit und stößt damit in eine sowohl in der Antisemitismusforschung als auch der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung klaffende Forschungslücke vor. Die bisherigen empirischen Erkenntnisse verweisen auf eine Dethematisierung von Antisemitismus im Kitakontext, die in deutlichem Widerspruch zu den im Feld beobachteten kindlichen Praktiken des Unterscheidens stehen. Antisemitische Wissensordnungen werden von Kindern in der Kita (re)produziert und angewandt. Mit Blick auf die pädagogische Praxis stellen sich u.E. damit folgende Fragen:

  • Inwiefern handelt es sich bzgl. der genannten Dethematisierung um ein strukturelles Problem, das auf fehlende Professionalisierungsformate und institutionelle Mechanismen zurückzuführen ist? Nur wenn über das individuelle Engagement einzelner Pädagog:innen hinaus auch auf institutioneller Ebene durchdringt, dass Judenfeindschaft bereits in der frühen Kindheit virulent ist, können weitreichende Maßnahmen ergriffen werden, die Antisemitismusprävention in Einrichtungen der frühen Kindheit fördern.
  • Wie lässt sich mit antisemitischen Differenzierungspraktiken unter jungen Kindern adäquat umgehen, wenn sie die inhaltliche Tragweite ihres Handelns noch nicht begreifen? Genauer gefragt: Wie kann mit jungen Kindern über Antisemitismus auf eine Weise gesprochen werden, die (be)schützt, erklärtund wenn nötig auch deutliche Grenzen aufzeigt?

Mit unserem Forschungsprojekt hoffen wir nicht zuletzt dazu beizutragen, dass diese und weitere Fragen Eingang in die pädagogische Praxis finden.

Literatur

Bak, R., Machold, C. (2022): Kindheit und Kindheitsforschung intersektional denken. Eine Suchbewegung. In: R. Bak & C. Machold (Hrsg.): Kindheit und Kindheitsforschung intersektional denken. Theoretische, empirische und praktische Zugänge im Kontext von Bildung und Erziehung. Wiesbaden: Springer VS, S. 1-19.

Bernstein, J. (2020): Antisemitismus an Schulen in Deutschland: Befunde – Analysen – Handlungsoptionen. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Bernstein, J., Grimm, M., Müller, S. (Hrsg.) (2022): Schule als Spiegel der Gesellschaft. Antisemitismen erkennen und handeln. Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag.

Bühler-Niederberger, D. (Hrsg.) (2005): Macht der Unschuld: Das Kind als Chiffre. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Diehm, I., Kuhn, M., Machold, C. (2010): Die Schwierigkeit, ethnische Differenz durch Forschung nicht zu reifizieren – Ethnographie im Kindergarten. In: A. Panagiotopoulou & F. Heinzel (Hrsg.): Qualitative Bildungsforschung im Elementar- und Primarbereich. Bedingungen und Kontexte kindlicher Lern- und Entwicklungsprozesse. Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 78-92.

Diehm, I., Radtke, F.-O. (1999): Erziehung und Migration. Eine Einführung. Stuttgart. Kohlhammer.

Fried, L., Dippelhofer-Stiem, B., Honig, M.-S., Liegle, L. (2003): Einleitung. In: L. Fried, B. Dippelhofer-Stiem, M.-S. Honig & L. Liegle (Hrsg.): Einführung in die Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim, Basel & Berlin: Beltz, S. 7-13.

Grimm, M., Müller, S. (Hrsg.) (2020): Bildung gegen Antisemitismus. Spannungsfelder der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag.

Holz, K., Haury, T. (2021): Antisemitismus gegen Israel. Hamburg: Hamburger Edition.

Kölsch-Bunzen, N. (2023): Kindertageseinrichtungen gegen Antisemitismus. Aus guten Geschichten lernen. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Kölsch-Bunzen, N. (2022): Gut aufgestellt gegen Antisemitismus? Die Förderung von Antisemitismusprävention in Kindertagesstätten und Schulen durch Kinderbibeln, Kinderkorane und Schulbücher. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Kuhn, M. (2013): Professionalität im Kindergarten. Eine ethnographische Studie zur Elementarpädagogik in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS.

Lendvai, P (1972): Antisemitismus ohne Juden. Entwicklungen und Tendenzen in Osteuropa. Wien. Europaverlag.

Machold, C. (2015): Kinder und Differenz. Eine ethnografische Studie im elementarpädagogischen Kontext. Wiesbaden: Springer VS.

Rensch-Kruse, B., Cheema, S.-N., Goldhorn, Y., Diehm, I. (2023): Antisemitismus unter jungen Kindern. Forschungsgrundlagen und -reflexionen im Kontext einer Differenzforschung in Einrichtungen der frühen Kindheit. In: E. Ilgün-Birhimeoğlu & S. Bostancı (Hrsg.): Elementarpädagogik in der Migrationsgesellschaft. Theoretische und empirische Zugänge zu einer rassismuskritischen Pädagogik. Weinheim & Basel: Beltz Juventa. i.E.

Reckwitz, A. (2012): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.


[1] Das Teilprojekt ist eines von drei Teilprojekten des vom BMBF geförderten Verbundprojekts ‚Antisemitismus in pädagogischen Kontexten. Religiös codierte Differenzkonstruktionen in der frühen und mittleren Kindheit (RelcoDiff)‘. Genauere Infos unter www.relcodiff.uni-frankfurt.de

[2] Ohne den Begriff und seine unterschiedlichen Definitionen und Ausprägungen an dieser Stelle eingehend diskutieren zu können, verstehen wir unter ‚Antisemitismus‘ eine Sammelbezeichnung für Diskurse und Praktiken, die als ‚Juden‘ bzw. ‚jüdisch‘ wahrgenommene Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen aufgrund eines mit bestimmten negativen Eigenschaften festgeschriebenen ‚jüdisch-Seins‘ abwerten und/oder anfeinden.

[3] ‚Wissensordnungen‘ werden im Anschluss an Andreas Reckwitz (2012, S. 146) als kollektive „Sinnmuster“ verstanden, die „das ‚Verstehen‘ der Umwelt und Welt anleiten“.

[4] Wir forschen in insgesamt vier Kindertagesstätten einer deutschen Großstadt.

[5] Wir sprechen bewusst nicht von Gruppendiskussionen, weil unter den Kindern zumeist kein wechselseitiger Austausch von Argumenten über ein bestimmtes Thema stattfindet, sondern ein offener mitunter sprunghafter Gedankenaustausch, in den die Forscher:innen nolens volens involviert sind, und der durch (Nach-)Fragen, Erklärungen, Behauptungen, inhaltliche Abschweifungen und kindliche Impulsivität gekennzeichnet ist.

[6] Bisher haben wir 19 Interviews geführt.

[7] Paul Lendvai (1972) hat bereits Anfang der 1970er Jahre auf das Phänomen eines „Antisemitismus ohne Juden“ aufmerksam gemacht.

Call for Participation: Vielfalt leben in pädagogischen Einrichtungen

| in eigener Sache |

Nachdem wir in den letzten Monaten viele Beiträge aus der Forschung zum Thema Vielfalt auf unserem Blog veröffentlichen durften, möchten wir nun Sie, liebe Träger, Stiftungen, Verbände und Einrichtungen einladen, uns zu schreiben, wie Sie Vielfalt im pädagogischen Alltag leben. Denn so unterschiedlich die Kinder und Kindheiten heute sind, so vielfältig und facettenreich sind auch pädagogische Wege, Projekte und Initiativen dieser Vielfalt zu begegnen. Sie bereichern mit Ihrer Darstellung den praxisnahen wie wissenschaftlichen Kontext, indem Sie die Stimme der Praxis stärken.

Der Umgang mit Vielfalt meint insbesondere, wie mit dem Anderssein umgegangen wird und welche Normen und Grenzen dabei möglicherweise (nicht) gezogen werden. Anderssein kann bedeuten, in einer oder mehreren Eigenschaften anders als ein anderer Mensch oder eine andere Gruppe zu sein, aber auch anders als früher einmal oder anders als mir/uns bisher bekannt (Prengel 2010, S. 20). Diese eine oder mehreren Eigenschaften können sich dabei auf ganz unterschiedliche Aspekte des Seins beziehen: bspw. Fähigkeiten und Kompetenzen, Sprache, Gender, Alter, sozio-kultureller Hintergrund.

Uns interessiert, wie in Ihrer Trägerschaft, Verbänden, Stiftungen und Einrichtungen mit Vielfalt bei Kindern in jeglicher Hinsicht umgegangen. Wie wird etwa Vielfalt in Ihren Beobachtungs- und Dokumentationsbögen berücksichtigt? Wie wird Vielfalt im Team, im Sprechen über Kinder thematisiert? Welche (konzeptionellen) Ideen gibt es, Vielfalt im Alltag zu begegnen, Abläufe zu organisieren und Peer-Kulturen zu organisieren. Welche Eigenschaften von Kindern werden dabei besonders relevant gemacht?

Mit diesem Call laden wir dazu ein, Blogbeiträge im Umfang von ca. 4000 – 10 000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) für unseren Blog Diversekindheiten.de zu verfassen. Der Blog stellt regelmäßig Beiträge u.a. zu Forschungs(zwischen)ergebnissen von Forscher*innen kostenfrei zur Verfügung, um den Austausch und Transfer zwischen Wissenschaft, Praxis und Gesellschaft praxisorientiert und aktuell zu gestalten.

Wir freuen uns auf Blogbeiträge, die die Stimme der Praxis wiedergeben und sich mit einer der folgenden Fragen befasst:

  • Welche Projekte gibt es in Ihren Einrichtungen zum Thema Vielfalt leben?
  • Welche Perspektiven haben Eltern, Kinder, pädagogische Fachkräfte und Leitungen auf den Umgang mit Vielfalt im pädagogischen Alltag?
  • Wie ist Vielfalt konzeptionell bei Ihnen verankert und wie wird der Umgang mit Vielfalt weiterentwickelt?
  • Was brauchen Einrichtungen, um Vielfalt zu leben?

Alle Beiträge werden von den Heraus­geberinnen begleitet. Für eine einheitliche Struktur auf unserem Blog bitten wir Sie, die Vorlage im Anhang zu nutzen. Gern können Sie uns auch mit einer Schreibidee kontaktieren.

Wir freuen uns auf Ihre Einreichungen bis zum 30.11.2023 an divkindheiten@uni-hildesheim.de. Die Beiträge werden voraussichtlich im Frühjahr 2024 veröffentlicht. Bei Rückfragen kontaktieren Sie uns gern.

Ihre Herausgeberinnen Svenja Garbade und Katja Zehbe

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2022). Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zum Bildungspersonal. https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2022.

Prengel, A. (2010): Inklusion in der Frühpädagogik. WiFF-Expertise Nr. 5. München: DJI.

„Ich spüre, dass diese Beobachtung eigene biografische Erlebnisse hervorruft…“ (Auto)Ethnografische Reflexionspotenziale am Beispiel neu-materialistischer Kindheitsforschung zu Akteur:innenschaft und Partizipation

| Jan-Niclas Peeters |

Einleitung

Verbunden mit dem Anliegen einer Exploration frühpädagogischer Felder konstatiert Neumann (2013) bereits vor einem Jahrzehnt einen Bedeutungszuwachs ethnografischer Zugänge innerhalb der Kindheitsforschung. Konstitutives Merkmal der Ethnografie ist das (teilnehmende) Forschen am ‚Ort des Geschehens‘, ebenjenen sogenannten Feldern. Frühpädagogische Felder wie Kindertageseinrichtungen werden in den entsprechenden Studien zunehmend aber nicht nur als Ort der Forschung, sondern zugleich als deren Gegenstand definiert (exemplarisch Göbel, 2018). Die von Neumann (2013) einst aufgeworfene Frage, „[w]enn ethnografische Forschung im Feld der Frühpädagogik beobachtet, macht sie es dann auch zum Gegenstand?“ (S.12; Herv. i. Orig.), behält jedoch ihre Relevanz. Denn ungeachtet einer Betrachtung des Feldes ‚Kindertageseinrichtung‘ als Gegenstand impliziert dies die weitergehende Frage: Inwiefern macht sie es dann auch zum Gegenstand?

Bailey (2020) folgend zeigt sich das Feld eng mit sozialen (z.B. durch Interaktionen) bzw. materiellen Praktiken (z.B. durch die Nutzung von Gegenständen) verwoben. Mit dem Entstehen von Praktiken im Feld als Ort gestaltet sich dieses zugleich und wird somit veränderlich hervorgebracht. Damit scheint ein Verständnis vom Feld als ausschließlicher Ort von Forschung also auch dann verkürzt, wenn ein scheinbar feldunabhängiges Gegenstandsinteresse vorausgesetzt wird. Vielmehr tritt das jeweilige Feld als Gegenstand immer schon dadurch in Erscheinung, da es eben nicht nur als Produzentin, sondern zugleich als Produkt sozialer bzw. materieller Praktiken verstanden werden kann. Fokussiert man auf die an den Praktiken beteiligten Akteur:innen, so muss explizit auch die Rolle von Forschenden in den Blick genommen werden – auch sie bewegen sich im Feld.

Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Beitrag im Spezifischen für die Konstitution des Feldes Kindertageseinrichtung durch die (eigene) Rolle als Forscher:in sensibilisieren. Zwar hat Clifford Geertz bereits um 1970 im Rahmen der sogenannten Krise der ethnografischen Repräsentation auf die Involviertheit von Forschenden in der ethnografischen Wissensproduktion aufmerksam gemacht (Gottowik, 1997). Doch gleichwohl dies inzwischen als ethnografisches Selbstverständnis bezeichnet werden kann, beschreibt Anderson (2006) die anhaltende „tendency to downplay or obscure the researcher as a social actor in the settings or groups“ (p. 376). Anstelle dieses Herunterspielens und Verschleierns des Einflusses von Forschenden als Akteur:innen lässt sich vielmehr vergegenwärtigen, dass das von Forscher:innen hervorgebrachte Wissen „is situated by what they ‚see‘ in the field, which in turn is situated by what they ‚look‘ for and/or are given ‚access‘ to“ (Bailey, 2020, p. 734). Das Bewusstsein um ein durch Zugang und eigener Perspektive selektives Wissen gewinnt gerade auch dann an Bedeutung, wenn verschiedentlich Befremdungsstrategien in der Hinwendung zum ‚Eigenen‘ unter dem Aspekt einer Objektivierung diskutiert werden (exemplarisch Kuhn & Neumann, 2015). Damit verdichten sich die bisherigen Darlegungen in der für diesen Beitrag zentralen Frage: Inwiefern und mit welchen Implikationen sind Forschende als Akteur:innen in die Konstitution des Feldes involviert?

Was will das Projekt/ Was ist das Phänomen?

Entlang der thematischen Fokussierung des seit 2021 laufenden Dissertationsprojekts „Partizipation als un-bestimmtes Phänomen“[1] hat sich beim Forschenden eine zunehmende Sensibilisierung für das Thema von Involviertheit eingestellt. Zuvorderst ursächlich hierfür ist der inhaltliche Rekurs auf das um 1980 im Kontext der New Social Childhood Studies (NSCS)entstandene und bis heute wirkmächtige Paradigma von Kindern als kompetente Akteur:innen (Mierendorff, 2018). Dieses Paradigma verleiht sich im Rahmen frühpädagogischer Theorie und Praxis deutlich im Partizipationsbegriff Ausdruck und misst Involviertheit damit zentrale Bedeutung bei (König, 2021). Kritisch blickt das Dissertationsprojekt dabei auf eine entlang der NSCS aufgerufenen Heuristik, die als eine Art vereinfachter Denkansatz selbstreferenziell die romantisierende Vorstellung eines a priori kompetenten Kindes (re-)produziert. Durch eine derart vorgefasste Annahme kann übersehen werden, inwiefern und durch wen oder was die im Partizipationsbegriff verankerte Involviertheit als Akteur:in in situ hervorgebracht wird (Balzer & Huf, 2019). Weiterhin berücksichtigt werden empirische Befunde, die überdies bereits eine in Bezug auf Partizipation häufig vorzufindende Engführung auf formalisierte Verfahren wie Kinderparlamente oder Abstimmungsverfahren kritisieren (Höke, 2016;  Neumann et al., 2019). Somit wird insgesamt eine vorgefasste Fokussierung auf ‚das kompetente Kind‘ sowie ein vermeintliches Wissen über spezifische Partizipationskontexte kritisch hinterfragt. In diesem Zusammenhang verschreibt sich das Dissertationsprojekt der Forderung einer Dezentrierung des Kindes innerhalb der Kindheitsforschung (Spyrou, 2018) und perspektiviert dies auf der Grundlage posthumanistischer Theorieangebote des sogenannten Neuen Materialismus. Unter Rückgriff auf die wohl prominenteste Vertreterin des Neuen Materialismus, Karen Barad (2007), wird Partizipation demnach als zunächst unbestimmtes Phänomen verstanden, das erst im Rahmen sogenannter Intra-aktionen materiell-diskursiver Praktiken partielle Bestimmtheit erlangt. Im Gegensatz zur Interaktion sind Akteur:innen im Rahmen der Intra-Aktionen nicht prädeterminiert; wer oder was als Subjekt bzw. Objekt involviert wird, (re-)konstituiert sich also erst im Geschehen selbst (Garske, 2014). Hinsichtlich der Frage nach Akteur:innenschaft und Involviertheit wird damit einerseits eine anthropozentrische Ontologie, die den Menschen in den Mittelpunkt des Seins stellt und die Umwelt vernachlässigt, grundlegend in Frage gestellt. Anerkannt wird stattdessen eine Lebendigkeit der ‚Dinge‘ (Tesar & Arndt, 2016), die in der Verbindung mit Kindern, aber auch für sich genommen, einen Subjektstatus einnehmen können. Die sich darin widerspiegelnde posthumanistische[2] Grundannahme einer aktiven ‚Welt‘, bei der Grenzen zwischen humanen und nicht-humanen Entitäten wie Menschen und Dingen fluide erscheinen, hat andererseits relevante Konsequenzen auf die einleitend gestellte zentrale Frage, inwiefern und mit welchen Implikationen auch Forschende selbst als Akteur:innen in die Konstitution des Feldes involviert sind. Barad (2007) folgend können Forschende nicht als neutrale Instanz einer vermeintlich objektiv zugänglichen und außerhalbliegenden Welt verstanden werden. Im Gegenteil: sie sind selbst Teil der Welt, die sie beforschen und somit aktiv an der Hervorbringung dieser bzw. das ‚Wissen‘ über sie beteiligt. Ontologische Fragestellungen, die die Frage nach dem ‚Seienden‘ stellen, sowie epistemologische Fragestellungen, die sich mit dem Aspekt der diesbezüglichen Wissensproduktion befassen, sind in diesem Sinne untrennbar miteinander verwoben. Forschende sind dabei nicht nur gefordert, die Art und Weise, wie sie in die Wissensproduktion involviert sind, permanent zu reflektieren. Vielmehr geht es in diesem Verständnis um eine produktive Wendung, bei der die eigene Involviertheit ebenso einer analytischen Betrachtung unterliegt.

Wie bin ich vorgegangen?

Als methodologische[3] ‚Antwort‘ auf die zur Involviertheit skizzierten Implikationen wurde sich der sogenannten Analytischen (Auto)Ethnografie (AAE) nach Anderson (2006) angeschlossen. Die Umsetzung fordert die Berücksichtigung fünf sogenannter „key features“ (p. 378) ein: Grundvoraussetzung ist (1) die Akzeptanz, dass Forscher:innen selbst Teil des von ihnen beforschten Feldes sind. Eine Fokussierung auf die eigene Person sowie das übrige Geschehen ist daher im gesamten Forschungsprozess angezeigt. Beidem möglichst gerecht zu werden, kann aber nur dann gelingen, wenn (2) eine analytische Reflexivität eingenommen wird, vor deren Hintergrund die (eigenen) komplexen Verstrickungen im Beobachtungsprozess sowie die daraus resultierenden Forschungsdaten betrachtet werden. Ein solches Bewusstsein allein reicht allerdings nicht aus. Vielmehr bedarf es (3) einer Sichtbarkeit von Forschenden in den zugehörigen Dokumenten. Im Rahmen des Dissertationsprojektes werden daher auch Beobachtungen, die auf den Forschenden rekurrieren, in Form von Feldnotizen, dichten Beschreibungen sowie der Berichtlegung analytisch aufgenommen und expliziert. Entgegen einer Überbetonung der eigenen Person gilt dabei (4) der Anspruch, das Feld in seiner Gesamtheit nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn auch wenn Forschende involviert sind, sind sie eben nur ein Teil des Feldes. Eine (5) Verpflichtung zu einer analytischen Agenda soll schließlich sicherstellen, dass diese Balance auch vor dem Hintergrund der Forschungsfrage gewahrt bleibt und die so gewonnen Forschungsdaten zielorientiert analysiert werden können.

Zur konkreten Veranschaulichung dieser Perspektive wird exemplarisch eine kurze Beobachtungssequenz aus einer Kindertageseinrichtung präsentiert, die im Rahmen einer ersten Feldphase (August-Oktober 2022) in Anlehnung an Anderson (2006) qua teilnehmender Beobachtung erhoben sowie mit Blick auf die unter Punkt (5) benannte analytische Agenda im Zusammenspiel mit der konstruktivistischen Grounded Theory nach Charmaz (2014) analysiert wurde.

Was ist das Ergebnis?

Die nachfolgende Sequenz hat sich während einer Freispielphase im Außenbereich der Kindertageseinrichtung zugetragen. Der Forschende richtet seine Aufmerksamkeit auf sechs beieinanderstehende sowie ein leicht abseitsstehendes Kind und versucht, die Bedeutung der beobachteten Positionierungen der Kinder zu ergründen.

Ich denke darüber nach, dass mir Marius schon häufiger in einer eher abseitigen Position aufgefallen ist, wenngleich er sich immer wieder aktiv in etwaige (Gruppen)Geschehen einzubringen versucht. Ich spüre, dass diese Beobachtung eigene biografische Erlebnisse hervorruft und sich eine Art Solidarisierungsempfinden gegenüber Marius einstellt. Ich schaue Marius genauer an. Sein Blick ist in Richtung der anderen Kinder gerichtet, die einen Kreis bilden, der in Richtung Marius leicht geöffnet ist. Erst in diesem direkten Vergleich fällt mir auf, dass alle unmittelbar im Kreis befindlichen Kinder einen Stock in der Hand halten, während Marius selbst keinen Stock in der Hand hält.

Mit der gedanklichen Fokussierung auf die abseitige Position von Marius wird dieser nicht nur im lokalen Geschehen, sondern auch im analytischen Zugriff durch den Forschenden separiert von jeweils unterschiedlichen Kindergruppen verortet. Dies kann insofern als eine zweifache Exklusivität beschrieben werden, als sich hier einerseits eine Ausgrenzung von Marius gegenüber den „anderen Kinder[n]“ manifestiert, Marius jedoch andererseits zugleich eine besondere Aufmerksamkeit des Forschenden zu Teil wird. Der Ursprung dieser Aufmerksamkeit hängt augenscheinlich mit der retrospektiven Einordnung der Kind(er)positionierungen zusammen. Dass der Forschende die gegenüber anderen Kindern separierte Positionierung von Marius bereits „häufiger“ wahrgenommen hat, verweist dabei auf ein iteratives, also sich wiederholendes Geschehen, das sich unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen auch dann einzustellen scheint, wenn Marius sich aktiv gegen die separierende Positionierung wendet und um Partizipation bemüht. Die dichte Beschreibung offenbart, dass der Forschende die Beobachtungen um Marius mit eigenen biografischen Erlebnissen verknüpft. Zwar werden die Evokationen im Sinne eines bewussten Hervorrufens von Erinnerungen mit Ausnahme des Solidarisierungsaspektes nicht weiter expliziert, doch lässt allein ihr bewusstes Aufkommen und die nachhaltige Materialisierung im Rahmen der dichten Beschreibung eine besondere Bedeutung des Geschehens für den Forschenden annehmen. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus plausibel, dass die Aufmerksamkeit für die Positionierung von Marius und den mithin involvierten Kindern in dieser sowie in den erinnerten Situationen ursprünglich nicht allein in den Beobachtungen vor Ort liegt. Weitergehend scheint sie auch in der spezifischen Biografie des Forschenden begründet zu sein. Die einleitend benannte Konstitution des Feldes kann demnach nicht nur allgemein mit der Involviertheit des Forschenden in situ gefasst werden. Konkreter erweitert sich das Feld in seiner vermeintlich räumlich-zeitlichen Begrenzung auf die (Beobachtung in der) Kita um die (zurückliegende) Lebenswelt des Forschenden. Gegenstandsbezogen führt die daraus resultierende Aufmerksamkeit für das Geschehen schließlich zu einer konzentrierten und vergleichenden Betrachtung der beschriebenen Kind(er)positionierungen. Bei dieser rückt über die Kinder hinaus auch ein Besitz von Stöcken in den Fokus. Die dadurch wahrgenommenen materiellen Bezugnahmen, ließen sich sich im weiteren Verlauf des Forschungsprojektes immer wieder beobachten. Mit Blick auf das Forschungsinteresse konnten sie schließlich zu der vorläufigen Kategorie einer „Partizipation durch (nicht-)humane Verschränkungen“ verdichtet werden.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Mit der AAE wurde sich um die von Anderson (2006) postulierte Anerkennung von Forschenden als involvierte Akteur:innen in der Konstitution des Feldes bemüht. Die exemplarisch dargestellte biografisch begründete Fokussierung des Forschenden veranschaulicht, dass das, was wir beobachten, eng mit der betrachtenden Person in Verbindung steht (Bailey, 2020). Allgemeiner formuliert lässt sich somit nicht nur für die Forschung, sondern auch für die pädagogische Praxis bzw. die in ihr tätigen Fachkräfte für eine reflexive Anerkennung der eigenen Involviertheit plädieren. Am dargestellten Beispiel kann zwar kritisch angemerkt werden, dass die Beobachtung um die Stöcke und die damit thematisierte Dezentrierung des Kindes (Spyrou, 2018) im Sinne einer „Partizipation durch (nicht-)humane Verschränkungen“ etwaig auch ohne eine Auseinandersetzung mit der Fokussierung auf die eigene Person entstanden wäre. Doch gerade diese Auseinandersetzung hält Antworten auf weitergehende Fragen zum eingangs aufgerufenen Aspekt, inwiefern und mit welchen Implikationen Forschende als Akteur:innen das Feld konstituieren, bereit: Wen oder was (und warum) nehme ich insbesondere wahr? Wer oder was (und warum) gerät weniger bzw. gar nicht in meinen Blick? Welche Perspektivveränderungen kann ich vornehmen und zulassen? Kurzum: Es geht um ebenjene produktive Wendung einer immer schon subjektiven Involviertheit als (forschende:r) Akteur:in in die Konstitution des Feldes.

Zwei abschließende Gedanken zu Limitationen und Weiterentwicklung:

  • Auch wenn sich in der geforderten Reflexivität der AAE gerade nicht der Anspruch einer vermeintlichen Objektivierung ausdrückt, wird Reflexivität nicht selten damit verbunden. Dies aufgreifend schlägt Barad (2007) stattdessen den Begriff der Diffraktion vor und konzeptualisiert ihn im Sinne der AAE als eine bewusste Anerkennung der jeweils unterschiedlichen Involviertheit. So gewendet wird das Ziel einer Authentizität – statt Objektivität – des Wissens über die pädagogische Praxis ggf. unmissverständlicher zum Ausdruck gebracht.
  • Trotz aller Reflexion/ Diffraktion werden blinde Flecken verbleiben. Die kurze Sequenz zeigt, dass dies auch dann gelten kann, wenn die eigene Involviertheit (an)erkannt wird. So hat der Forschende nur andeutungsweise auf eigene Ausgrenzungserfahrungen rekurriert. Die fehlende Explikation verweist auf die herausfordernde Frage, was Forschende selbst von sich preisgeben wollen. Relativierend hat das Beispiel jedoch gezeigt, dass sich der produktive Einfluss bereits bei einer geringen Preisgabe ergeben kann.

Relevant erscheint vor diesem Hintergrund vor allem eine Haltung, bei der die eigene subjektive Involviertheit überhaupt anerkannt und ernstgenommen wird.

Literatur

Anderson, L. (2006). Analytic Autoethnography. Journal of Contemporary Ethnography, 35 (4), 373-395. https://doi.org/10.1177/0891241605280449

Bailey, S. (2020). Ethnography. In D. Cook (Hrsg.), The sage encyclopedia of children and      childhood studies (S. 734-735). London: SAGE Publications.

Balzer, N., Huf, C. (2019). Kindheitsforschung und ›Neuer Materialismus‹. In J. Drerup & G.     Schweiger (Hrsg.), Handbuch Philosophie der Kindheit (S. 50-58). Stuttgart: J.B. Metzler.

Barad, K. (2007). Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham: Duke University Press.

Charmaz, K. (2014). Constructing Grounded Theory. London: Sage.

Garske, P. (2014). What’s the „matter“? Der Materialitätsbegriff des „New Materialism“ und dessen Konsequenzen für feministisch-politische Handlungsfähigkeit. Prokla 44 (174). https://www.prokla.de/index.php/PROKLA/issue/view/17

Göbel, S. (2018). Alltagspraktiken in Kindertageseinrichtungen. Wiesbaden: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22916-0

Gottowick, V. (1997). Konstruktionen des Anderen. Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Repräsentation. Berlin: Dietrich Reimer.

Höke, J. (2016). Als Gruppensprecher muss man schwindelfrei sein. Kinderperspektiven auf formale Partizipationsstrukturen in der Kita. ZSE Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 36 (3), 298-313.

König, A. (2021). Kinderrechte. Historische Ansatzpunkte und aktuelle Diskurse. Eine pädagogische Reflexion. In Pestalozzi-Fröbel-Verband (Hrsg.), Wir haben Rechte! Ein Blick auf Kinderrechte, Partizipation und Demokratie in der Kita (S. 9-15). Weimar: Verlag das Netz.

Kuhn, M., Neumann, S. (2015). Verstehen und Befremden. Objektivierungen des ‚Anderen‘ in     der ethnographischen Forschung. ZQF (1), 25-42.                https://doi.org/10.3224/zqf.v16i1.22852

Mierendorff, J. (2018). Kindheitsforschung. In K. Böllert (Hrsg.), Kompendium Kinder- und      Jugendhilfe (S. 1453–1475). Springer Fachmedien Wiesbaden.

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[1] Vollständiger Titel des Dissertationsprojekt: „Partizipation als un-bestimmtes Phänomen“ –(Auto)Ethnografische Befunde zur Re-Konstitution von Akteur:innenschaft durch materiell-diskursive Intra-aktionen“

[2] Posthumanistische Perspektiven bemühen sich um eine Überwindung traditioneller Vorstellungen von Menschlichkeit und sensibilisieren für eine Fluidität vermeintlicher Grenzen zwischen menschlichen und nicht menschlichen Elementen.

[3] Der Begriff Methodologie bezieht sich auf die systematische Vorgehensweise und die Grundsätze, die bei der Durchführung von wissenschaftlichen oder analytischen Untersuchungen verwendet werden.

Sprach(en)bewusste Pädagogik in Kindertageseinrichtungen unter Berücksichtigung geflüchteter Kinder aus der Ukraine

| Elisa Tessmer |

Einleitung

Das Thema der alltagsintegrierten Sprach(en)bildung in Kindertageseinrichtungen hat in den letzten fünfzehn Jahren einen bedeutenden Relevanzzuwachs erfahren. Dieser zeigt sich unter anderem durch hohe Investitionen aus der Politik sowie einem höheren Stellenwert in den Bildungs- und Orientierungsplänen, die eine Grundlage für die pädagogische Arbeit schaffen. Die spezifischen Bedürfnisse geflüchteter Kinder sind seit 2015 zunehmend in die Diskussion eingeflossen. Durch die aktuelle Zuwanderung ukrainischer Geflüchteter müssen die damit einhergehenden spezifischen Bedürfnisse der Kinder sowie die Anforderungen für die pädagogische Arbeit neu gedacht werden. Dabei stehen die professionellen Ansprüche aktuell in einem Spannungsfeld zu den ohnehin schon angespannten Arbeitsbedingungen, die insbesondere durch einen hohen Fachkräftemangel bei zugleich steigenden Erwartungen an die pädagogischen Fachkräfte bestimmt sind.

Das Phänomen: Monolingualer Habitus als bestehendes Element pädagogischer Haltungen

Eine Fokussierung des Erwerbs sowie der Kompetenzerweiterung der deutschen Sprache ist innerhalb des Kita- und Schulsystems nach wie vor vorzufinden. Gogolin (2008) und Dirim (1998) kritisieren diese Sichtweise, die im Kontext der Kindertageseinrichtungen insbesondere durch das Konzept der Schulfähigkeit getragen wird, mit der Bezeichnung des ‚monilingualen Habitus‘. Dem gegenüber steht die Perspektive, eine vorhandene Mehrsprachigkeit als besondere Ressource wahrzunehmen und zu unterstützen (vgl. u. a. Fleckenstein et al. 2017, S. 97ff.; Roth 2006, S. 11ff.).

Seit Kriegsbeginn befinden sich über 20 Millionen ukrainische Menschen auf der Flucht, von denen im Jahr 2022 über eine Millionen Zugänge in Deutschland registriert wurden (vgl. destatis 2023). Die Anzahl ukrainisch geflüchteter Kinder in Kindertageseinrichtungen ist nicht systematisch erhoben. Der Anteil der Säuglinge und Kleinkinder ist jedoch verhältnismäßig hoch und nach der Zuweisung zu einer Kommune besteht ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ein Rechtsanspruch auf Betreuung (vgl. Deutscher Bildungsserver 2022), sodass hieraus ein hoher Bedarf abgeleitet werden kann. Dieser Effekt verstärkt die ohnehin bestehende Heterogenität im Kitaalltag. Der prozentuale Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund lag in den Kindertageseinrichtungen vor Kriegsbeginn bereits bei knapp 30 % (vgl. bpb 2021). An dieser Stelle sei explizit darauf hingewiesen, dass zwischen einem Migrationshintergrund und einem sprachlichen Förderbedarf kein kausaler Zusammenhang hergestellt werden darf. Insbesondere Kinder mit nur einem ausländischen Elternteil, die multilingual erzogen werden, können von dem Beherrschen mehrerer Sprachen profitieren und daher äußerst sprachbegabt sein. Der Anteil der Kinder, die im Elternhaus kein Deutsch sprechen, nimmt jedoch zu und bei diesen Kindern ist häufig von einem besonderen sprachlichen Unterstützungsbedarf auszugehen, da die Sprachkontakte zur deutschen Sprache bis zum Eintritt in die Kindertageseinrichtung in diesem Fall als gering einzuschätzen sind.

Die damit verbundenen steigenden Anforderungen an Fachkräfte treffen auf zunehmende qualitative Forderungen an die pädagogische Arbeit sowie einen kontinuierlich steigenden Fachkräftemangel. Dieser ist im Feld der Elementarpädagogik im Wesentlichen bestimmt durch eine sukzessive Ausweitung des Rechtsanspruches auf frühkindliche Betreuung, steigenden Geburtenraten in den letzten Jahren und eine Ausweitung der Ganztagsbetreuung auch im Bereich der Primarstufe (vgl. u.a. Bock-Famulla et al. 2020, S. 7ff.).

Wie wurde das Phänomen untersucht?

Im Rahmen eines Dissertationsprojektes wurden pädagogische Fachkräfte mithilfe eines Fragebogens sowie anhand von Gruppendiskussionen zum Thema der alltagsintegrierten Sprach(en)bildung befragt. Die Erhebung mittels Fragebogen fand im Jahr 2016 statt. Hierzu wurden Fragebögen in Printform an niedersächsische Kindertageseinrichtungen verteilt. Die Kontaktaufnahme erfolgte per E-Mail sowie über den Kontakt von Supervisorinnen. Insgesamt beteiligten sich 345 pädagogische Fachkräfte aus 90 Kindertageseinrichtungen. Die Rücklaufquote lag damit bei 44,8 %. Von den teilnehmenden Einrichtungen beteiligten sich wiederum neun Kindertagesstätten im Anschluss an Gruppendiskussionen, in denen insgesamt 50 pädagogische Fachkräfte involviert waren. Des Weiteren stellten pädagogische Fachkräfte aus drei Einrichtungen Videoaufnahmen zur Verfügung, die von ihnen für Supervisionszwecke angefertigt wurden (vgl. Tessmer 2021, S. 167ff.).

In den 90 befragten Einrichtungen wurden insgesamt 7.769 Kinder betreut. Zur damaligen Zeit waren hierunter 2,45% geflüchtete Kinder inkludiert. Es zeigte sich jedoch zwischen den Einrichtungen eine hohe Varianz – gut ein Drittel der Einrichtungen betreute zum Erhebungszeitpunkt keine Kinder mit Fluchterfahrung, einzelne Einrichtungen wiesen hingegen einen hohen Anteil an Kindern mit Fluchterfahrung auf. Bei den Kindern mit Migrationshintergrund ohne eigener Fluchterfahrung konnten Russisch (23,3%), Polnisch (14,9%) und Türkisch (14,0%) als meist gesprochene Erstsprachen konstatiert werden. Insgesamt wurden 31 unterschiedliche Erstsprachen aufgeführt, bei den Kindern mit Fluchterfahrung wurden 18 verschiedene Herkunftssprachen genannt (vgl. ebd. S. 173f.). Dieses Sample veranschaulicht damit beispielhaft den großen Sprachreichtum, der in Bildungsinstitutionen existiert und als Ressource genutzt werden kann.

Wie sind die Ergebnisse?

Obgleich einige Fachkräfte die Mehrsprachigkeit der Kinder positiv bewerten und teilweise explizit in den Alltag einbeziehen, existieren auch Ressentiments der pädagogischen Fachkräfte gegenüber des Gebrauchs anderer Erstsprachen als der deutschen Sprache, die insbesondere innerhalb durchgeführter Gruppeninterviews deutlich werden. Hierbei zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Erstsprachen, die zum Teil mit dem Konzept des Sprachprestige (vgl. u.a. Haarmann 1990) zu erklären sind. So wird beispielsweise ein Junge mit thailändischer Erstsprache als sehr motiviert beschrieben und die Schnelligkeit des Spracherwerbs der deutschen Sprache positiv hervorgehoben. Die geflüchteten Kinder werden von den pädagogischen Fachkräften innerhalb mehrerer Gruppeninterviews als sehr bemüht dargestellt, die deutsche Sprache zu erlernen und ihnen wird ein Verständnis für Verständigungsprobleme entgegengebracht. In der Kommunikation mit den Eltern wird dabei auf Übersetzungstools oder Ähnliches zurückgegriffen. Demnach greift das Konzept des Sprachprestige als Erklärungsmodell für die Haltungen der pädagogischen Fachkräfte an dieser Stelle nicht. In Studien zum Sprachprestige einzelner Sprachen konnte gezeigt werden, dass Sprachen wie Russisch, Arabisch und Türkisch als ‚eher unsympathisch‘ empfunden werden, im Vergleich zu Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch als ‚eher sympathische‘ Sprachen (vgl. Adler/Silveira 2021, S. 4). In den Gruppeninterviews waren hingegen vor allem die Kinder mit russischer oder polnischer Erstsprache mit Ressentiments konfrontiert. Mehrere Fachkräfte vermuten, dass die russische oder polnische Sprache von den Kindern bewusst verwendet wird, um beispielsweise Schimpfwörter zu äußern. Dieses Argument dient dabei teilweise auch für das Erteilen von Verboten, sich in anderen Erstsprachen als der deutschen Sprache zu unterhalten. Die negative Sichtweise begründet sich daraus, dass die Kinder in der deutschen Sprache ebenfalls über ausreichende Sprachkompetenzen verfügen, sodass sie sich in beiden Sprachen verständigen können. Dass das Code-Switching – also der Wechsel zwischen den unterschiedlichen Sprachen – jedoch ein normales Sprechverhalten bei mehrsprachigen Sprecher:innen darstellt und zum Teil unbewusst oder adressaten- bzw. themenorientiert erfolgt (vgl. u.a. Müller 2017), wird von den pädagogischen Fachkräften nicht gesehen. Das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen wären weitere pädagogische Argumente dafür, Kindertageseinrichtungen als mehrsprachigen Sprachraum zu gestalten, die insbesondere bei Kindern mit Fluchterfahrung von besonderer Bedeutung sind. Die Kinder werden damit zudem in ihrer Lebenswelt und mit ihren Erfahrungen ernstgenommen, was gleichzeitig positive Effekte auf die Beziehungsgestaltung haben kann.

Was kann das für die Praxis in Kindertageseinrichtungen bedeuten?

In mehreren Untersuchungen (vgl. u.a. Müller-Using/Speidel 2015; Wertfein/Wirts/Wildgruber 2015; Fried 2013) konnte gezeigt werden, dass sprachunterstützende Situationen, wie das Sustained Shared Thinking, innerhalb des pädagogischen Alltags verhältnismäßig selten vorkommen. Hierbei wird ein problemlösendes Denken und Weiterentwickeln forciert, welches von einer intensiven dialogischen Interaktion geprägt ist (vgl. Siraj-Blatchford et al. 2010, S. 21ff.). Die Interaktionen im pädagogischen Alltag sind hingegen häufig beeinflusst von Unterbrechungen sowie Störungen. Diese Tatsache wurde ebenfalls im Rahmen der Gruppeninterviews innerhalb des Dissertationsprojektes angeführt (vgl. Tessmer 2021, S. 206ff.). Ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, feste Bezugspersonen sowie möglichst störungsfreie Interaktionen sind Rahmenbedingungen, die bei geflüchteten Kindern von besonderer Relevanz sind. Für jene Formen bedarf es jedoch gleichwohl Rahmenbedingungen, die ein intensives Einlassen auf einzelne Kinder ermöglichen. Die aktuellen Rahmenbedingungen unter dem Einfluss des Fachkräftemangels machen es für pädagogische Fachkräfte immer schwieriger, jene unterstützenden Verhaltensweisen zu gestalten.

Die Datenerhebung innerhalb des Dissertationsvorhabens fand vor dem Ukrainekrieg statt. Hier zeigten sich deutliche Unterschiede in der Haltung der pädagogischen Fachkräfte zwischen geflüchteten Kindern und russisch oder polnischsprachigen Kindern. Daher kann keine valide Aussage darüber getroffen werden, inwieweit sich die Einstellungen der Fachkräfte diesbezüglich geändert haben. Dies betrifft vor allem die Vorbehalte gegenüber des Gebrauchs anderer Erstsprachen als der deutschen Sprache im pädagogischen Alltag. Vorhandene Sprachfähigkeiten der Kinder, die neben dem Deutschen auch Russisch, Polnisch oder Ukrainisch darstellen, könnten nun als besondere Ressource wahrgenommen werden. Die Kinder könnten gerade zur Anfangszeit, als Übersetzer:innen fungieren. Hierbei sind jedoch weitere pädagogische Aspekte zu berücksichtigen. Hierunter zählen insbesondere die Verantwortung, die den Kindern damit zugemutet wird, aber auch gruppendynamische Fragen von Inklusion und Exklusion. Zugleich könnte der Aspekt des Sicherheitsgefühls für die geflüchteten Kinder, welches durch den Gebrauch der Herkunftssprachen unterstützt werden kann, stärker ins Bewusstsein der pädagogischen Fachkräfte geraten. Ein weiterer Aspekt, der sich insbesondere innerhalb der Gruppeninterviews gezeigt hat, bildet die Homogenisierung der ‚Gruppe geflüchteter Kinder‘. Es zeigte sich beispielsweise, dass die pädagogischen Fachkräfte teilweise nicht genau differenzieren konnten, welche Herkunftssprachen die geflüchteten Kinder sprechen. Diese homogene Betrachtungsweise differenziert sich durch die zunehmende Anzahl geflüchteter ukrainischer Kinder vermutlich zumindest zu einer Dualität. Inwieweit die damit verbundene steigende Heterogenität innerhalb der geflüchteten Kinder zu einer grundsätzlich differenzierteren Wahrnehmung der pädagogischen Fachkräfte beiträgt, könnte ebenfalls in weiteren Untersuchungen erforscht werden. Ein weiteres Forschungsdesiderat entsteht in dem Spannungsfeld von zunehmender Zuwanderung und einem steigenden Fachkräftemangel. Kinder, die ohne (oder mit sehr geringen) Kenntnissen in der deutschen Sprache in eine Einrichtung aufgenommen werden, benötigen eine besondere Aufmerksamkeit seitens der pädagogischen Fachkräfte. Bei geflüchteten Kindern ist dies aufgrund der Erfahrungen vor und während der Flucht in besonderem Maße relevant, gleichzeitig machen die Entwicklungen des Feldes – bedingt durch den stetig steigenden Fachkräftemangel – es für die pädagogischen Fachkräfte immer schwerer, diesen individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden.

Literatur

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