Der Umgang mit Besonderheit: Wie Kinder mit und ohne sog. Behinderung in der Kita gefördert werden

| Katja Zehbe |

Alle Kinder gelten als besonders und doch werden einige von ihnen als besonders besonders markiert. Das liegt zum einen an festgestellten Diagnosen einer sog. Beeinträchtigung, aber auch an impliziten Adressierungen der Kinder durch die Erwachsenen, also wie pädagogische Fachkräfte die Kinder ansprechen und (un-)gleich behandeln bzw. über sie sprechen.

In meiner Dissertation

  • habe ich mit pädagogischen Fachkräften darüber gesprochen, wie sie Kinder mit und ohne sog. Behinderung in der Kindertageseinrichtung fördern,
  • habe mir die Kita-Konzeptionen von den Einrichtungen dazu angeschaut.

Die Arbeit untersucht damit ein Grunddilemma der Pädagogik und der Umsetzung von Inklusion genauer und nimmt dafür das Handlungsfeld Kindertageseinrichtung konkret in den Blick. Der Umgang resp. die Verhandlung von individueller Besonderheit und kollektiver Norm gilt als genuines pädagogisches Spannungsfeld (vgl. Prengel 2010, S. 45; vgl. Redlich et al. 2015, S. 10). Die Forderungen zur Umsetzung von Inklusion beleuchtet dieses Spannungsfeld nun noch einmal ganz spezifisch: Wenn Individualität und Vielfalt geachtet, anerkannt und gefördert werden sollen, so müsste eine kompensatorisch-angleichende Förderung von Kindern quasi obsolet oder zumindest diskussionswürdig werden. Dies widerspräche jedoch dem an die Kindertageseinrichtungen ebenfalls gesetzlich formulierten Auftrag, die Kinder auf die Schule vorzubereiten und im Sinne von Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit familienergänzende und familienunterstützende Bildungsaufgaben zu übernehmen. Pädagogische Fachkräfte stehen damit vor der Herausforderung, zugleich präventiv und inklusiv Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten (Zehbe 2021).

Was will das Projekt/Was ist das Phänomen?

Das Dissertationsprojekt (im Folgenden: Zehbe 2021) hat herausgearbeitet, warum welche Kinder wie und mit welchem Ziel in der Kita gefördert werden. Der Fokus der Arbeit lag dabei auf der Bedeutung der Kompetenz(weiter)entwicklung der Kinder in der Förderung.  Es geht um eine Klärung, was individuelle und/oder individualisierte Förderung als spezifischer Teil der pädagogischen Adressierung von Kindern in der Kindertageseinrichtung aus Sicht der pädagogischen Fachkräfte ist, was sie ausmacht und wie sie umgesetzt wird.

Es war ein Anliegen, genau zu beleuchten, inwiefern die pädagogischen Fachkräfte in ihren Erzählungen und Beschreibungen von Förderung sich an der Individualität der Kinder, ihren Themen, Interessen, Bedürfnissen und Wohlbefinden und/oder an individuellen Bedarfen, die von Professionellen festgestellt wurden, orientieren. Erfolgt (individuelle) Förderung also vor dem Hintergrund einer standardisierten Entwicklungsnorm und/oder einer individuellen Entwicklungsnorm? Und wie legitimieren die Fachkräfte ihr Handeln, womit begründen sie die (individuelle) Förderung? Inwiefern gibt es hier Unterschiede zwischen Kindern mit und ohne sog. Behinderung? Und welche Orientierungen sind in der jeweiligen einrichtungsspezifischen Kita-Konzeption zu finden? Welche Zusammenhänge gibt es hier?

Aus diesen Entwürfen von und Orientierungen zu (individueller) Förderung lässt sich dann berechtigt fragen: (Wie) Wird Inklusion hier sichtbar? Wie werden Inklusion und Förderung von pädagogischen Fachkräften verstanden?

Wie bin ich vorgegangen?

Dafür wurde mit 21 pädagogischen Fachkräften ohne Zusatzqualifikation für Integration oder Inklusion in insgesamt vier öffentlichen Kindertagesstätten in Berlin und Brandenburg in jeweils unterschiedlicher Trägerschaft gesprochen. Mit der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2014) habe ich die volltranskribierten leitfadengestützten Expert_inneninterviews mehrschrittig ausgewertet. Bei der Rekonstruktion der Orientierungen aus dem Interviewmaterial und auch den Kita-Konzeptionen bin ich explorativ vorgegangen, d.h. ich habe nicht geschaut, inwiefern aus der Theorie stammende Definitionen von Förderung und Inklusion hier auftauchen, sondern was das Material selbst als Förderung und Inklusion setzt und entwirft.

Was ist das Ergebnis?

Individuelle Förderung wird von den pädagogischen Fachkräften in einem Spannungsfeld entworfen (im Folgenden: Zehbe 2021): Die Fachkräfte stehen vor der Herausforderung, den Umgang mit Individualität und Normen in der Förderung der Kinder selbst aushandeln zu müssen. Die Vorgaben vom Bund, den Ländern sowie der Träger und Kita selbst beinhalten einen doppelten Auftrag: nämlich inklusiv wie präventiv Kinder individuell zu fördern. Darin liegt jedoch ein nicht auflösbarer Widerspruch. Die pädagogischen Fachkräfte können damit dieses Spannungsfeld nicht auflösen, jedoch bearbeiten. Sie tun dies  auf unterschiedliche Weise (detailliert: ebd., S. 173-199).

Im Typ „Inklusive Individualisierung“ ist ein reflexives Element in der Förderung enthalten, d.h. die Fachkräfte entwickeln aus den beobachteten Bedürfnissen, Themen und Interessen des Kindes eine auf sie abgestimmte individualisierte Förderung, mitunter alltagsintegriert, segregativ, in Kleingruppen oder in einem Eins-zu-Eins-Setting. Sie sehen sich in einer begleitenden Rolle und achten die Vielfalt in der Entwicklung der Kinder. Im Hinterkopf haben sie jedoch auch normative Entwicklungsmaßstäbe, um ggf. auf mögliche Entwicklungsaufgaben bestmöglich reagieren zu können. Dabei machen sie in der Förderung von Kindern mit und ohne sog. Behinderung keinen Unterschied. In diesem Typ besteht die Gefahr, dass mögliche Bedarfe des Kindes in einer langfristigen Entwicklungsperspektive zu wenig Beachtung erhalten. Inklusion erscheint als Projekt von Anerkennung.

Im Typ „Inklusive Normierung“ orientieren sich die pädagogischen Fachkräfte vor allem an standardisierten Entwicklungserwartungen und statistischen Durchschnittswerten für die kindliche Entwicklung. Ziel der Förderung ist es, dass alle Kinder auf den gleichen Entwicklungsstand kommen. Hierfür werden die Kinder als Kollektiv angesprochen, alle bekommen die gleiche Aufgabe, der Weg zur Bearbeitung von Aufgaben und Projekten wird von den Fachkräften vorgegeben, die Kinder sollen die ‚richtige‘ Antwort herausfinden. Kinder mit sog. Behinderung oder Entwicklungsauffälligkeiten werden interdisziplinär im Team gefördert. I.d.R. erhält das Kind dann in einer leistungshomogenen Kleingruppe zusätzliche Förderung durch eine spezifisch geschulte Fachkraft, den Kindern wird hier kaum Raum zur Mitbestimmung gegeben. In diesem Typ könnte die Sorge in den Raum gestellt werden, dass die Kinder nicht genug in ihrer Individualität gesehen werden. Inklusion wird hier als Normalisierungsprojekt sichtbar.

Im Typ „Inklusives Miteinander“ geht es in der (individuellen) Förderung weder um interessengeleitete noch normativ-orientierte Förderung. Die Maxime des Handelns lautet hier für die Förderung von Kindern mit und ohne sog. Behinderung: ‚Wenn ich dich liebe und dir vertraue, dass wirst du deinen Weg gehen.‘ Es zeigen sich vor allem an der mütterlichen Rolle orientierte Werte. In diesem Typ droht professionelles Handeln in den Hintergrund zu treten, zugunsten von grundlegendem Vertrauen und Zuversicht in ein ‚Verwachsen‘ möglicher Entwicklungsprobleme. Inklusion wird hier vor allem als Projekt der Teilhabe sichtbar.

Interessant ist nun, dass sich die Typen in allen vier untersuchten Einrichtungen finden lassen. Es zeigt sich demnach eine Zufälligkeit und vor allem eine Subjektivität in der Förderung von Kindern mit und ohne Behinderung. Zwar weisen die einrichtungsspezifischen Kita-Konzeptionen auf ein eher normorientiertes bzw. ein eher an der Individualität orientiertes Bildungsverständnis hin, doch in jeder Einrichtung ist jeder der oben genannten drei Typen zu finden. Der Umgang mit Norm und Individualität in der individuellen Förderung wird demnach von den Fachkräften nicht nur unterschiedlich bearbeitet.

Diese Unterschiedlichkeit, Zufälligkeit und potenzielle Subjektivität pädagogischen Handelns in der Förderung verweist nun auf eine Illusion: Aus den unterschiedlichen Vorstellungen von Förderung lässt sich kein einheitliches Konzept einer chancengerechten, diversitätssensiblen, individuellen und individualisierten Förderung für alle Kinder ableiten. Im Gegenteil ist zu erwarten, dass sich die unterschiedlichen Orientierungen in der Förderung in Kindertageseinrichtungen auch in einer unterschiedlichen pädagogischen Begleitung zeigen würde, was Aspekte der Ungleichheit und Chancengerechtigkeit weiter bestärken bzw. (re-)produzieren könnte. Die Förderung eines Kindes wäre demnach überwiegend abhängig von der pädagogischen Fachkraft, und unterliegt damit eher dem Zufall. Dementsprechend würde dies bedeuten, dass Faktoren der Professionalisierung hier entgrenzt werden, weil die Fachkräfte individuell die Förderung gestalten, anstatt sich auf eine gemeinsame professionelle Basis wie die Vermeidung sozialer Ungleichheit rückzubeziehen.

Und was kann das für Praxis bedeuten?

Für die pädagogische Praxis bedeutet dies vor allem, die Organisationsentwicklung in Bezug auf Förderung und Inklusion in den Blick zu nehmen. Bedeutsam ist hierbei, dass Träger, Einrichtungen und das Personal in den Dialog treten, ihre Arbeit und Werte reflektieren und gemeinsam getragene Orientierungen entwickeln und umsetzen (z.B. mit Hilfe von Teamentwicklungstagen, Supervision oder Fortbildungen zu Fallverstehen).

Darüber hinaus sind Theorie und Praxis aufgefordert zunehmend interdisziplinär auf kindliche Bildungsprozesse von Kindern mit und ohne sog. Behinderung zu schauen. Kinder dürfen nicht zu Fällen einer eindimensionalen Förderung gemacht werden, sondern müssen mehrperspektivisch und ganzheitlich mit allen Beteiligten begleitet werden. Eine kindorientierte und diversitätssensible Perspektive ist dabei zentral. Erreicht werden kann dies durch die Implementation von Fallkonferenzen nach methodischen Vorbildern. Auch Video-Interaktions-Analysen im pädagogischen Handeln können einen Gegenstand bieten, über den die Fachkräfte in den Dialog kommen können. Ein gemeinsames Verständnis von Förderung bedingt eine gemeinsame Teamentwicklung und damit Arbeit an einem professionellen Verständnis, das auf wissenschaftlichen Ergebnissen beruht.

Literaturverweise

Bohnsack, Ralf (2014): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 9. Aufl. Opladen/Toronto: Barbara Budrich.

Prengel, Annedore (2010): Inklusion der Frühpädagogik. Bildungstheoretische, empirische und pädagogische Grundlagen. Expertise für das Projekt Weiterbildungsinitiative Frühpädagogischer Fachkräfte (WiFF). München: DJI.

Redlich, Hubertus/Schäfer, Lea/Wachtel, Grit/Zehbe, Katja/Moser, Vera (2015): Einleitung. In: Redlich, Hubertus/Schäfer, Lea/Wachtel, Grit/Zehbe, Katja/Moser, Vera (Hrsg.): Veränderung und Beständigkeit in Zeiten der Inklusion. Perspektiven sonderpädagogischer Professionalisierung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S. 9–15.

Zehbe, Katja (2021): Individuelle Förderung als pädagogisches Programm der frühkindlichen institutionellen und inklusiven Bildung. Eine rekonstruktive Studie zu Orientierungen von pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Ansprechperson

Dr. Katja Zehbe, zehbe@hs-nb.de
Vertretungsprofessorin für Kindheit und Sozialisation an der Hochschule Neubrandenburg, Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung

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