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Vielfalt als Ressource oder Benachteiligung? Was Erzieher*innen an berufsbildenden Schulen über Differenz lernen sollen

| Sandra Landhäußer und Melanie Kuhn |

Spätestens seit den Debatten um die PISA-Studien in den 2000er Jahren stellt Differenz im Bereich der frühkindlichen Bildung erneut ein zentrales Thema des Fachdiskurses dar. An Kindertagesbetreuung wird die Erwartung gestellt, mit einem quantitativ ausgebauten und qualitativ hochwertigen Angebot einen Beitrag zum Abbau von Bildungsungleichheiten zu leisten. Ein professioneller Umgang mit Differenz und die Förderung und Gewährleistung von Inklusion stellen mittlerweile zentrale Anforderungen an elementarpädagogische Fachkräfte dar, entsprechend breit sind diese Themen nicht nur in den Bildungsplänen der einzelnen Bundesländer für die Kindertagesbetreuung verortet (Meyer, 2017), sondern stellen auch in der Ausbildung (früh)pädagogischer Fachkräfte einen bedeutenden Professionalisierungsbereich dar. Zukünftige Erzieher*innen sollen in ihrer fachschulischen Ausbildung dazu befähigt werden, „Inklusion im Sinne des Verstehens von Verschiedenheit (Heterogenität) als Selbstverständlichkeit und Chance“ zu realisieren, wobei Inklusion „zahlreiche Dimensionen von Heterogenität“ berücksichtige (KMK, 2017, S. 4).

Was will das Projekt?

Doch es stellt sich die Frage, wie angehende Fachkräfte für diese Anforderung qualifiziert werden? In früheren Lehrplänen der Erzieher*innenausbildung wurde Differenz und Inklusion kaum eine systematische Bedeutung zugemessen. Ausgehend von einer Analyse des bundesweiten „kompetenzorientierten Qualifikationsprofil[s] für die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern an Fachschulen/Fachakademien“ (2012) und des Länderübergreifenden Lehrplans (LAOG 2012) stellt Ute Eggers (2015, S. 98) jedoch fest, dass der curricularen Verankerung diversitäts- und inklusionsorientierter Perspektiven in die länderspezifischen Lehrpläne mittlerweile der Weg geebnet sei. Hier schließt das vorliegende Projekt an und rekonstruiert die Thematisierungsweisen von Differenz in den aktuellen Curricula der 16 Bundesländer zur fachschulischen Erzieher*innenausbildung und in qualitativen Expert*inneninterviews mit Lehr- und Leitungskräften von berufsbildenden Schulen.

Wie sind wir vorgegangen?

Differenzlinien wie Geschlecht, Klasse, Rasse oder Behinderung beeinflussen die Lebensverhältnisse und -chancen von Menschen entscheidend; sie sind ungleichheits- und diskriminierungsrelevant. Leitend ist für uns die konstruktivistische Annahme, dass diese Differenzlinien keine natürlichen Eigenschaften von Menschen sind, sondern sozial konstruierte, also gesellschaftlich produzierte Phänomene. Unter dieser Auffassung haben wir analysiert, wie Differenz in der schulischen Ausbildung von Erzieher*innen hergestellt wird. Die Lehrpläne begreifen wir dabei als Rahmungen der Unterrichtspraxis, die Vorgaben dazu machen, wie die differenzbezogene Professionalisierung zukünftiger Erzieher*innen erfolgen soll. Die von uns geführten Expert*inneninterviews dokumentieren dabei ein Sprechen über die Unterrichtspraxis derjenigen, die angehende Erzieher*innen unterrichten. In diesen lässt sich analysieren, welche Perspektiven Lehr- und Leitungskräfte auf die eigene Unterrichts- und Leitungspraxis einnehmen und wie sie diese legitimieren.

Orientiert am Forschungsprogramm der Grounded Theory (Strübing, 2021) haben wir die gesamten (bislang sieben) Interviews codiert. Bei den Dokumentenanalysen der umfangreichen Lehrpläne sind wir selektiver vorgegangen und haben nur die diejenigen Textstellen, in denen Differenz in irgendeiner Form zum Thema wird, codiert. Daraufhin wurden alle Interviewsequenzen und alle Textstellen aus den Lehrplänen mit Bezug zum Thema Differenz einer sequenziellen Feinanalyse unterzogen. Das bedeutet, dass das Datenmaterial kleinschrittig Zeile für Zeile auf Ebene der einzelnen Textstelle interpretiert wird. Mit Bezug auf weitere Prinzipien der Grounded Theory wie dem Vergleichen von Materialstellen im Hinblick auf Ähnlichkeiten und Unterschiede oder dem Dimensionalisieren, mit dem Ausprägungen eines Phänomens systematisiert werden, haben wir Muster und Regelmäßigkeiten der Thematisierung von Differenz über unterschiedliche Textstellen hinweg analytisch bestimmt.

Was ist das Ergebnis?

Verortung von Differenz und Inklusion im Lehrplan

In der beruflichen Bildung wurde 1996 die Lernfeldorientierung eingeführt. Ziel war es, den berufsschulischen Unterricht nicht mehr an Unterrichtsfächern, sondern stärker an beruflichen Handlungsanforderungen auszurichten. In diesem Zusammenhang wurden länderübergreifend zusammengesetzte Rahmenlehrplankommissionen beauftragt, lernfeldorientierte Rahmenlehrpläne zu entwickeln (Tramm & Naeve-Stoß, 2020). Für die Ausbildung von Erzieher*innen liegt ein länderübergreifender Lehrplan aus dem Jahre 2012 (LOAG, 2012) und ein „Rahmenlehrplan für die Fachschule für Sozialpädagogik“ (KMK, 2020) vor, welche die Basis für länderspezifische Konkretisierungen bieten. Mittlerweise beziehen sich fünfzehn Bundesländer (außer Baden-Württemberg) auf diese länderübergreifenden Vorgaben.

Im Hinblick auf Differenz verfügt der länderübergreifende Lehrplan wie auch der Rahmenlehrplan zum einen über ein dezidiert differenzbezogenes Lernfeld mit dem Titel „Lebenswelten und Diversität wahrnehmen, verstehen und Inklusion fördern“ (LOAG 2012, S. 18; KMK 2020, S. 30ff.) und weist zum anderen „Inklusion“ (LOAG 2012, S. 4; KMK 2020, S. 4f.) als eine von sechs Querschnittsaufgaben aus. Diese doppelte curriculare Verortung von differenzbezogenen Inhalten als Querschnittsaufgabe und eigenständigem Lernfeld übernehmen nicht alle der fünfzehn an länderübergreifenden Vorgaben orientierten Bundesländer. Während vierzehn dieser Bundesländer Inklusion als Querschnittsaufgabe konzeptualisieren, formuliert Thüringen, in seinem länderspezifischen Curriculum keinerlei Querschnittsaufgaben. Elf dieser fünfzehn Bundesländer (BY, BE, BB, HE, NI, NW, RP, SL, SH, ST, TH)[1] übernehmen ein Lernfeld, in dem Diversität und Inklusion im Zentrum stehen. Bremen kennzeichnet ein entsprechendes Lernfeld etwas abweichend mit der Bezeichnung „Lebenswelten von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im gesellschaftlichen Kontext verstehen, alltagsintegrierte Sprachbildung und Sprachförderung im Elementarbereich fördern“. Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen hingegen verzichten auf die Ausweisung eines solchen Lernfeldes, definieren aber ‚Inklusion‘ als Querschnittsaufgabe. Hamburg und Sachsen thematisieren in allen ihren Lernfeldern unter der Querschnittsidee differenzbezogene Aspekte, leisten das aber in jeweils einem Lernfeld deutlich ausführlicher als in den anderen. Somit zeigt sich hier, dass die „Übersetzung“ von Dokumenten in „andere Kontexte“ (Nadai, 2012, S. 157) – von länderübergreifenden Vorgaben zu den länderspezifischen Lehrplänen – zu erheblichen Transformationen führt. Das einzige nicht an den länderübergreifenden Vorgaben ausgerichtete Bundesland, Baden-Württemberg, weist auch eine doppelte curriculare Verankerung auf: Es formuliert ein differenzbezogenes Lernfeld mit dem Titel „Unterschiedlichkeit und Vielfalt leben“ (S. 5) und legt die „Gender-Thematik“ und damit eine einzelne Differenzlinie als ein Querschnittsthema aus (S. 4).

Mit Blick auf die curriculare Verankerung lässt sich festhalten, dass mittlerweile in allen 16 Lehrplänen auf Ebene der Inhalte, Lernziele oder der von Schüler*innen zu erreichenden Kompetenzen auf Differenz Bezug genommen wird. Doch welche Differenzlinien werden dabei wie aufgerufen?

Im Lehrplan thematisierte Differenzlinien

Indem sich die an länderübergreifenden Vorgaben ausgerichteten Lehrpläne auf das Konzept der Inklusion beziehen, das konzeptuell gerade die möglichst simultane Berücksichtigung unterschiedlicher Differenzlinien nahelegt, werden hier viele Differenzkategorien in der Logik einer Aneinanderreihung aufgegriffen. Dies zeigt sich exemplarisch an der von den meisten Bundesländern im Wortlaut entnommenen Formulierung aus den länderübergreifenden Vorgaben: „Inklusion berücksichtigt zahlreiche Dimensionen von Heterogenität: geistige oder körperliche Möglichkeiten und Einschränkungen, soziale Herkunft, Geschlechterrollen, kulturelle, sprachliche und ethnische Hintergründe, sexuelle Orientierung, politische oder religiöse Überzeugung“ (LOAG 2012, S. 4; KMK 2020, S. 4f.). Über den Verweis auf die „zahlreiche[n] Dimensionen von Heterogenität“ (ebd.) wird der Fokus auf Differenz in gewisser Hinsicht vervielfältigt.

Auffallend ist an dieser Vervielfältigung, dass sich die adressierten Phänomene nicht alle den ‚klassischen‘ Differenzkategorien race (Kultur, Ethnizität, Religion, Sprache), class (soziale Herkunft), gender (Geschlechterrollen, sexuelle Orientierung) und dis/ability (geistige und körperliche Möglichkeiten) zuordnen lassen, sondern dass über den Verweis auf politische Orientierung auch Einstellungen und Haltungen aufgerufen werden, die es zu berücksichtigen gelte. Dass in der Reihung die geistigen und körperlichen Möglichkeiten der Adressat*innen zuerst genannt sind, deutet darauf hin, dass die Ausrichtung auf eine „gesunde Normalentwicklung“ – ähnlich zu früheren Lehrplänen – auch in den aktuellen Curricula noch als eine übergeordnete Referenzfolie fungiert (Haude & Volk, 2015, 192).

Benachteiligung und Ungleichheit – nur zum Teil ein Thema in Lehrplänen und Unterricht

Da die Mehrheit der Bundesländer die Formulierung von Inklusion als Querschnittsaufgabe aus den länderübergreifenden Vorgaben übernehmen, taucht die Differenzlinie class (als soziale Herkunft) als ein Aspekt von Inklusion auch in den meisten länderspezifischen Lehrplänen auf. Die Länder thematisieren diese unter unterschiedlichen Begrifflichkeiten, wie z.B. soziale Herkunft, soziale Problemlagen, soziale Kontexte oder materielle Bedingungen. Deutliche Unterschiede zeigen sich dabei darin, wie class aufgegriffen wird. Geht es bisweilen auch um den „Einfluss von sozioökonomischen […] Bedingungen auf die Lebenswelt“ von Adressat*innen (KMK 2020, S. 30; ST, S. 12; auch BB; BE; BY; BW; HB; HH; HE; NW; SH), thematisieren lediglich acht der sechzehn Bundesländer class auch bezogen auf Fragen von Armut und/oder sozialer Ungleichheit (BW, S. 5; BY, S. 63; HB, S. 21; HH, S. 45; MV, S. 16; NI, S. 23; SN, S. 1; SL, S. 98); wenn etwa formuliert wird, dass Schüler*innen über „Wissen zu sozialer Ungleichheit, insbesondere den Auswirkungen von Armut auf die Entwicklung, Lebens- und Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen und deren gesellschaftlicher Teilhabe“ verfügen (HH, S. 45) oder „ihren Blick für soziale Ungleichheit, benachteiligende Lebenslagen und deren politische Bedingtheit“ schärfen sollen (BW, S. 5).

Während hier Armut und soziale Ungleichheit als potenzielle Beeinträchtigungen von Bildungs- und Lebenschancen und deren politische Ursachen problematisiert werden, wird die Differenzlinie class häufig auch bezogen auf ihre didaktische Nutzbarmachung hin eingefordert, wie es an einer aus den länderübergreifenden Vorgaben entnommenen Formulierung deutlich wird: Die Fachschüler*innen „nutzen die soziale und kulturelle Vielfalt und berücksichtigen bei der inklusiven Arbeit mit allen Kindern besondere Bedürfnisse, die sich vor einem Migrationshintergrund oder aufgrund von physischen oder psychischen Beeinträchtigungen ergeben können“ (BE, S. 5, kursiv MK & SL, auch BB; BY; HE; NW; SH; SN). Besonderer Unterstützungsbedarf von Kindern wird hier lediglich aus den Differenzlinien race und dis/ability abgeleitet, während demgegenüber ungleiche Lebenslagen („soziale Vielfalt“) als Ressource für die Planung pädagogischer Angebote ausgewiesen werden („nutzen“). Hier zeigt sich exemplarisch eine ungleichheitsbezogene Leerstelle des Konzepts der Vielfalt: Wenn soziale Vielfalt wertgeschätzt, aufgegriffen und genutzt werden soll, dann wird eben nicht erwähnt, welche Benachteiligungen mit dieser Zugehörigkeit verknüpft sind.

Dass sich diese unterschiedlichen Thematisierungsweisen von Herkunft und Ungleichheit in den Curricula in der beruflichen Bildung weiter fortschreiben, deuten unsere Expert*inneninterviews zumindest an. Zunächst wird ein entscheidender Unterschied zwischen Lehrplänen und den Expert*inneninterviews deutlich: In den Lehrplänen geht es im Hinblick auf Differenz in erster Linie bezogen auf die Kinder als Adressat*innen der späteren Berufspraxis. Demgegenüber thematisieren die Lehr- und Leitungskräfte Differenz fast ausschließlich bezogen auf die eigenen Schüler*innen. Mit Blick auf die eigene Schüler*innenschaft wird die Kategorie class in nur drei der sieben Interviews thematisch, wenn die Fachschüler*innen insgesamt eher als „privilegiert‘, oder als „aus sozial schwächeren Milieus“ oder einzelne Schüler*innen als „arm“ beschrieben werden. Die von den Lehrkräften gezogenen Konsequenzen für den eigenen Schul- und Unterrichtsalltag unterschieden sich dabei deutlich: Von einer achselzuckenden Nichtberücksichtigung, über das Schaffen von Ausgleichsmaßnahmen (Einrichtung von Computerräumen) hin zu einer Sensibilisierung der Schüler*innen für ihre eigene Privilegiertheit als übergeordnetem Unterrichtsziel.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Alle Lehrpläne beanspruchen, Differenz wertschätzend und anerkennend zu begegnen und fordern, für spezifische Lebens- und Bedarfslagen von Adressat*innen angemessene Bildungsangebote zu konzipieren, um so Benachteiligungen auszugleichen und Chancengerechtigkeit zu gewährleisten. Weniger durchgängig richten die Curricula ihre Aufmerksamkeit auf institutionelle und gesellschaftliche Bedingungen, unter denen differenzbezogene Benachteiligungen erst ihre Wirkung entfalten. Bezogen auf die institutionellen Bedingungen wird in den Lehrplänen kaum dafür sensibilisiert, dass Differenzen in pädagogischen Kontexten nicht nur bearbeitet werden, sondern dass es pädagogische Praktiken, Routinen, Organisationslogiken und Normen der Teilhabe sind, die Unterschiede machen – etwa wenn Herkunftssprachen der Kinder als illegitim markiert werden.

In den vorliegenden Lehrplänen wird bezogen auf die gesellschaftlichen Bedingungen in einer Aneinanderreihung unterschiedlicher Differenzdimensionen zwar ‚soziale Herkunft‘ als vorsoziale Gegebenheit mitaufgelistet; Fragen von sozialer Ungleichheit und Armutslagen werden aber keineswegs durchgängig in den Blick genommen. In Bezug auf die Kategorie class fehlt vor allem ein Blick darauf, Differenz nicht (nur) als Merkmal einer Personengruppe zu verstehen, sondern auf die gesellschaftlichen Bedingungen, die Ungleichheiten erzeugen. Denn soziale Herkunft wird erst in dem Moment zu einem Differenzmerkmal, wenn andere Kinder privilegiert aufwachsen und mehr Chancen und Ressourcen zur Verfügung haben, um eine bessere Position im sozialen Gefüge einzunehmen. Insofern gelte es noch konsequenter als es bislang der Fall ist, kontextualisierende Perspektiven auf Differenz im Lehrplan zu verorten, die das Handeln der Fachkräfte, Kategorisierungen der Institution, aber auch gesellschaftliche Bewertungen miteinbeziehen. Angehende Erzieher*innen im berufsschulischen Unterricht systematisch für die gesellschaftliche Erzeugung von Differenz zu sensibilisieren, scheint uns bezogen auf den Anspruch, soziale Benachteiligung über frühkindliche Bildung abzubauen, eine weitaus aussichtsreichere Professionalisierungsstrategie zu sein, als ihnen didaktische Kniffe an die Hand zu geben, mit denen sie soziale Herkunft als Ressource im Kita-Alltag vermeintlich bestmöglich „nutzen“ können, wie es manche Lehrpläne suggerieren.

Literaturverzeichnis

Haude, C. & Volk, S. (2015). Diversity in der Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte. In C. Haude & S. Volk (Hrsg.), Diversity Education in der Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte (125-200). Beltz Juventa.

Kultusministerkonferenz. (2017). Kompetenzorientiertes Qualifikationsprofil für die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern an Fachschulen/Fachakademien [Beschluss der Kulturministerkonferenz vom 1.12.2011 i.d.F. vom 24.11.2017]. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2011/2011_12_01-ErzieherInnen-QualiProfil.pdf

Kultusministerkonferenz. (2020). RAHMENLEHRPLAN für die Fachschule für Sozialpädagogik [Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.06.2020]. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2020/2020_06_18-RVFS-RLP-Sozpaed.pdf

Länderübergreifende Arbeitsgruppe. (2012). Kompetenzorientierter länderübergreifender Lehrplan für die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern [Entwurf Stand 01.07.2012]. https://www.boefae.de/wp-content/uploads/2012/11/laenderuebergr-Lehrplan-Endversion.pdf

Meyer, S. (2017). Soziale Differenz in Bildungsplänen für die Kindertagesbetreuung: Eine diskursiv gerahmte Dokumentenanalyse. Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20239-2

Nadai, E. (2012). Von Fällen und Formularen: Ethnographie von Sozialarbeitspraxis im institutionellen Kontext. In E. Schimpf & J. Stehr (Hrsg.), Kritisches Forschen in der Sozialen Arbeit: Gegenstandsbereiche – Kontextbedingungen – Positionierungen – Perspektiven (S. 149–163). VS.

Strübing, J. (2021). Grounded Theory: Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung eines pragmatistischen Forschungsstils (4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage). Springer VS.

Tramm, T. & Naeve-Stoß, N. (2020). Curricula für die berufliche Bildung – Lernfeldstruktur zwischen Situations- und Fächerorientierung. In R. Arnold, A. Lipsmeier & M. Rohs (Hrsg.), Handbuch Berufsbildung (S. 309–324). VS.


[1] Die Abkürzungen hier und im Folgenden stehen für folgende Länder und Lehrplanversionen: Bayern 2017 (BY), Berlin 2016 (BE), Brandenburg 2024 (BB), Nordrhein-Westfalen 2014 (NW), Saarland 2013 (SL), Schleswig-Holstein 2013 (SH), Hamburg 2013 (HH), Mecklenburg-Vorpommern 2017 (MV), Niedersachsen 2016 (NI), Sachsen 2017 (SN), Sachsen-Anhalt 2015 (ST), Thüringen 2014 (TH), Hessen 2023 (HE), Baden-Württemberg 2010 (BW), Rheinland-Pfalz 2024 (RP), Bremen 2017 (HB)

Inklusiver Kita-Alltag und nutzungsfreundliche digitale Lernmedien für den Morgenkreis

| Ina-Marie Abeck, Tori L. Benn, Alice Forssman, Corinna Schmude, Antonia Schäfer |

Eine qualitativ hochwertige frühkindliche Bildung und Erziehung hat den Anspruch einer gelebten Inklusion im Kita-Alltag. Zugleich ist diese eine Herausforderung für die Arbeit von pädagogischen Fachkräften. Dieser Thematik hat sich das Projekt PIIQUE (Pro) angenommen und in einer videografischen Studie analysiert, was eine inklusive Gestaltung für gruppenpädagogische Settings bedeutet – konkret den Morgenkreis. Dabei beschränkte sich das Projekt nicht nur darauf, zu untersuchen, wie Morgenkreise inklusiv gestaltet werden können, sondern auch darauf, wie dieses Wissen alltagsnah und digital für pädagogische Fachkräfte zur Verfügung gestellt werden kann. 

Der folgende Beitrag widmet sich den beiden zentralen Themen des Projekts, die letztendlich miteinander verwoben werden: inklusiver Kita-Alltag sowie nutzungsfreundliche, digitale Lernmedien. 

Was will das Projekt?

Thematisch widmete sich das Projekt der Frage, wie Inklusion und Partizipation von Kindern im täglichen Leben einer Kindertageseinrichtung umgesetzt werden können. Dabei ging es spezifisch um die Beteiligung von Kindern in den Interaktionen mit Fachkräften in Morgenkreisen. Überprüft wurde diese anhand der Identifizierung sogenannter inkludierender und exkludierender Interaktionsmodi auf Grundlage der Diskursorganisation (Przyborski, 2005; Bohnsack & Przyborski, 2010; Nentwig-Gesemann et al., 2012). Außerdem wurden im Laufe des Projektes digitale und crossmediale – d. h. medienübergreifende – Lernformate entwickelt. Ziel war es, diese didaktisch und medial so zu gestalten, dass sie für frühpädagogische Fachkräfte im Berufsalltag leicht zugänglich sind. Die empirischen Ergebnisse zu den inkludierenden und exkludierenden Interaktionsmodi zwischen frühpädagogischen Fachkräften und Kindern speziell im Setting Morgenkreis wurden analysiert und die gewonnenen Erkenntnisse so aufbereitet, dass sie zu einer Professionalisierung der Frühpädagogik im Bereich der inklusiven Gestaltung des Kita-Alltags beitragen können. Inkludierende Interaktionsmodi werden als solche bezeichnet, wenn es innerhalb der Fachkraft-Kind-Interaktion gelingt, aufeinander abgestimmt und reziprok zu agieren – »in einem Modus der Rahmenkongruenz« (Nentwig-Gesemann et al., 2012, S. 60). Auf der anderen Seite werden solche Interaktionsmodi als exkludierend bezeichnet, in denen »in einem Modus der Rahmeninkongruenz aneinander vorbei bzw. oppositionell gegeneinander agiert wird« (ebd.).

Wie sind wir vorgegangen?

Das vom Institut für angewandte Forschung Berlin (IFAF) geförderte Forschungsprojekt PIIQUE (Pro)der Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH) und der Hochschule für Wirtschaft und Technik Berlin (HTW) lief von April 2020 bis April 2024 unter der Leitung von Prof. Dr. Corinna Schmude (ASH) und Prof. Alexander Müller-Rakow (HTW). Für die zentrale Frage nach inkludierenden und exkludierenden Interaktionsmodi fanden in den Jahren 2020 und 2022 empirische Erhebungen statt. Hierfür wurden insgesamt 24 Morgenkreise – je zwei mit 12 verschiedenen Fachkräften in unterschiedlichen Kitas in Berlin und Brandenburg – videografiert, zusätzlich wurden mit den jeweiligen Fachkräften Kurzinterviews (Helfferich, 2011) geführt. Erfragt wurden Alter, Berufserfahrung und Besonderheiten der gefilmten Morgenkreise. Im nächsten Schritt wurde ein deduktiv erarbeitetes Kategoriensystem der Interaktionsmodi erstellt. Die Kategorien wurden aus der Fachliteratur abgeleitet – genauer gesagt, aus Forschungsergebnissen zu Interaktionsmodi anhand der Dokumentarischen Methode. Dieses Kodierhandbuch diente als Grundlage der Datenanalyse und wurde im Prozess der Erarbeitung peer reviewed evaluiert. Auf dessen Grundlage erfolgte die Auswertung des Materials, angelehnt an Mayring (2015; Mayring et al., 2005) durch eine strukturierende qualitative Inhaltsanalyse mittels der Software MAXQDA. Es war eine besondere Herausforderung, die Ergebnisse der dokumentarischen Analysen von vorheriger Forschung (u. a. Nentwig-Gesemann et al., 2012) zur Grundlage der Arbeit mit der strukturierenden Inhaltsanalyse zu transformieren. Nach einer ersten Auswertung des Datenmaterials wurde die Analyseeinheit auf die in den Morgenkreisen identifizierten Gesprächsrunden fokussiert. Diese ermöglichen eine Beteiligung aller Kinder und können demzufolge inkludierende bzw. exkludierende Interaktionen sichtbar machen. Somit eignen sich diese Ausschnitte besonders zur Erfassung von inklusivem Handeln.

Parallel zur videografischen Studie hatte das Projekt das Ziel, innovative digitale Lerntools zu erarbeiten. Dazu wurden Design Research Methoden und partizipatives Design (Dalsgaard & Halskov, 2010) genutzt. Partizipatives Design ist als ein Entwicklungsprozess zu verstehen, bei dem die potentiellen Nutzer*innen, Designer*innen und Technologie-Expert*innen zusammenarbeiten. Im Projekt wurden dazu Methoden wie Cultural Probes (ein partizipativer Ansatz der ethnografischen Selbstbeobachtung, Gaver et al., 1999), Workshops (digital und in Präsenz) sowie Gruppendiskussionen durchgeführt, in denen die Perspektive der Fachkräfte im Fokus stand (Kühn & Koschel, 2018). Zusätzlich fanden Befragungen und Prototypen-Testings in den Kitas, User-Testing-Workshops (Bachmann, 2009), Expert*innen-Interviews (Bogner et al., 2014) und interdisziplinäre projektinterne Design-Sprint-Treffen statt (Schäfer & Müller-Rakow, 2022).

Um die beiden Handlungsstränge des Forschungsprojektes zu verbinden und sich somit dem übergeordneten Ziel des Theorie-Praxis-Transfers zu nähern, wurden zwei weitere Vorhaben entwickelt. Das erste Unterziel war die Überführung der fachwissenschaftlichen Formulierungen des Kategoriensystems in eine alltagsnahe Sprache. Hierfür wurden in einem iterativen[1] Prozess die einzelnen inkludierenden und exkludierenden Interaktionsmodi umformuliert und schließlich mit pädagogischen Fachkräften auf ihre Verständlichkeit und im Peer-Review-Verfahren auf die inhaltliche Korrektheit evaluiert. In enger Kooperation mit den Projektpartner*innen[2] wurden Praxisbeispiele zusammengetragen, um somit das zweite Unterziel einer Sammlung von realitätsnahen Handlungsbeispielen als Grundlage für digitale Lerninhalte zu erreichen.

Was ist das Ergebnis?

Ein wesentliches Ergebnis aus den Analysen der empirischen Erhebungen ist die Erweiterung der inkludierenden und exkludierenden um komplementäre Interaktionsmodi. Der komplementäre Modus wurde im Kontext der Unterrichtsforschung formuliert und beruht auf der Unterschiedlichkeit der Interaktionspartner*innen und der Spezifik der institutionell gerahmten und asymmetrisch organisierten Interaktionsstruktur (Martens & Asbrand, 2017). Er ist darüber hinaus spezifisch durch eine Erwachsenenorientiertheit gekennzeichnet (ebd.). Fachkräfte verfolgen dabei das Ziel, dass institutionelle Ordnungen eingehalten werden. Interaktionen, die diesem Modus folgen, unterstützen demnach einen reibungslosen Ablauf und sind im Morgenkreis typischerweise gekennzeichnet von Frage-Antwort-Rückmeldung-Runden, in denen die Fachkraft einen Gegenstand, wie z. B. Wetter, Tiere oder Regeln der Einrichtung bespricht. Langanhaltende, in die Tiefe gehende und an der Perspektive des Kindes orientierte Gespräche finden hier aber nicht statt.

Die 15 Interaktionsmodi werden in vorherigen Untersuchungen in acht inkludierende und sieben exkludierende Modi unterteilt. Ein Ergebnis des Projektes war es, zwei der inkludierenden nun den komplementären Modi zuzuordnen. Die Analysen ergaben, dass die institutionelle Rahmung und die Fokussierung aller Beteiligten in den Interaktionen auf Regeln und Normen der Einrichtung eine neue Einteilung dieser zwei Modi erfordern. In ihnen gelingt ein Bezug zwischen Fachkraft und Kind(ern), das gemeinsame Ziel konzentriert sich auf die Institution. In der weiteren Analyse der beiden komplementären Interaktionsmodi konnte ein Modus als komplementär-inkludierend und der andere Modus als komplementär-exkludierend eingestuft werden (Forssman et al., im Druck; Schmude et al., im Druck).

Im Projekt konnte festgehalten werden, dass sich die Interaktionen in den Gesprächsrunden in der Hälfte aller Morgenkreise im inkludierend-komplementären Bereich bewegten. Diese Interaktionen folgen der Logik kommunikativer Regeln, Fachkraft und Kinder sind an den Relevanzen der Fachkraft orientiert, sie basiert auf der Reziprozität der Akte – Kinder und Fachkraft verstehen sich wie selbstverständlich und schließen unmittelbar aneinander an (Nentwig-Gesemann & Gerstenberg, 2018). Die Interaktion findet hier einvernehmlich statt, das heißt, die Kinder richten sich an der von der Fachkraft vorgegebenen institutionellen Ausrichtung aus und zeigen unter anderem Interesse an dem besprochenen Gegenstand und bringen sich rege ein. Dem komplementären Interaktionsmodus mit exkludierender Ausrichtung wurden vier von 22 Gesprächsrunden zugeordnet. Es lassen sich darin miteinander korrespondierende habituelle Orientierungen beobachten, sie basieren aber auf der institutionellen Fremdrahmung der Akteur*innen (Martens & Asbrand, 2017). Im Gegensatz zur inkludierenden Ausrichtung setzt die Fachkraft ihre Orientierung hier machtvoll z.B. mittels Druck, Lob und Tadel durch, so dass sich die Kinder danach ausrichten.

Damit ist der komplementäre Modus insgesamt mit über zwei Dritteln der analysierten Gesprächsrunden vorherrschend, allerdings überwiegend in einer inkludierenden Ausrichtung. Auch die anderen beobachteten Interaktionen konnten unterschiedlichen inkludierenden Modi zugeordnet werden, rein exkludierende Interaktionsmodi wurden nicht identifiziert. 

Designmethodisch konnte herausgearbeitet werden, dass frühpädagogische Fachkräfte sich kurzweilige, unterhaltsame, modulare und digitale Lernformate wünschen. Die Lernthemen sollen individuell verfolgt werden können und sich adaptiv an die eigene Situation im Berufsfeld anpassen lassen. Die didaktische Aufbereitung von wissenschaftlichen Inhalten soll in kurz gehaltenen Informationseinheiten und in alltagsnaher Sprache gestaltet sein sowie durch illustrative Fallbeispiele veranschaulicht werden. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse aus den designbasierten Methoden wurde eine digitale Lernanwendung, ein Lern-App-Prototyp (LernSnacks), entwickelt. Ziel ist es, in dieser App aktuelle Forschungsergebnisse für Kita-Fachkräfte bereitzustellen. Hierfür wurden die Ergebnisse aus der videografischen Studie genutzt. Dazu war es notwendig, die wissenschaftlich fundiert formulierten Ergebnisse so aufzubereiten, dass sie für frühpädagogische Fachkräfte in kleinen Lerneinheiten zugänglich sind. In Workshops wurde daher gemeinsam mit pädagogischen Fachkräften an den Formulierungen sowie an den unterschiedlichen Lerneinheiten gearbeitet. Die wissenschaftliche Schärfe wurde wiederum in Gesprächen mit einer Expertin im Bereich der Kindheitsforschung und Professionalisierung der Frühpädagogik sichergestellt.

Was kann das für die pädagogische Praxis bedeuten?

Die Ergebnisse des Forschungsprojekts zeigen, dass der Morgenkreis ein intensiv genutztes pädagogisches Angebot in Kindertagesstätten mit einem hohen Stellenwert ist. Es wird aber auch deutlich, dass es noch Gestaltungspotentiale des Morgenkreises gibt. So wurden zwar im Großteil der untersuchten Morgenkreise inkludierende Fachkraft-Kind(er)-Interaktionen festgestellt, diese orientierten sich jedoch überwiegend an den Interessen, Vorstellungen, Handlungen und Ideen der Fachkräfte. Im Sinne inklusiver Bildung sind inkludierende, kindorientierte Interaktionen anzustreben. Als gruppenpädagogisches Alltagsritual kann der Morgenkreis bewusst als Ort des Austauschs und der Demokratiebildung gestaltet werden, in dem alle Kinder konsequente Teilhabe und -gabe erfahren. Dafür kann unter anderem die im Projekt untersuchte Möglichkeit kindlicher Beteiligung bei der Auswahl sowie der Gestaltung der Aktivitäten, die im Morgenkreis stattfinden, stärker und gezielter wahrgenommen werden (Abeck et al., 2023).

Die Entwicklung und Bereitstellung des Lernanwendungsprototypen, der sich nun in der Testphase befindet, sollen pädagogischen Fachkräften Zugang zu den Ergebnissen und Erkenntnissen des Projektes ermöglichen. Die wissenschaftlich fundierten Inhalte sind in alltagsnaher Sprache in kurzen Lerneinheiten nutzer*innenfreundlich aufbereitet und mit aus der Praxis entnommenen Beispielen veranschaulicht. So können trotz oft begrenzter Zeit neue Handlungsweisen erlernt und in den Arbeitsalltag integriert werden (Wirts et al., 2019). Die selbstbestimmte Auseinandersetzung mit den Inhalten kann zur Reflexion des eigenen professionellen Handelns anregen und damit zur Professionalität in der Kindheitspädagogik einen Beitrag leisten. So soll der im Projekt entwickelte Lernanwendungsprototyp eine niedrigschwellige, kostenfreie sowie flexible Ergänzung zu der unübersichtlichen Weiterbildungslandschaft darstellen. 

Der Prototyp der Lernanwendung wird vorerst auf der E-Learning-Plattform InDiPaed unter folgendem Link getestet und bereitgestellt: www.indipaed.de/courses/interaktionsqualitaet-kita 

Literatur

Abeck, I., Jegodtka, A. & Schmude, C. (2023). Partizipationsmöglichkeiten von Kindern in gruppenpädagogischen Settings. Eine empirische Untersuchung von Partizipation als Schlüsselelement einer inklusiven Alltagsgestaltung in Kindertageseinrichtungen. Frühe Bildung, 12(2), 65-116.

Bachmann, H.W. (2009). Systematische Lehrveranstaltungsbeobachtungen an einer Hochschule. Bielefeld: UVW.

Bogner, A., Littig, B. & Menz, W. (2014). Interviews mit Experten. Eine praxisorientierte Einführung. Wiesbaden: Springer VS.

Bohnsack, R. & Przyborksi, A. (2010). Diskursorganisation, Gesprächsanalyse und die Methode der Gruppendiskussion. In R. Bohnsack, A. Przyborksi, & B. Schäffer (Hrsg.), Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis (S. 233 – 248). Opladen: B. Budrich.

Dalsgaard, P. & Halskov, K. (2010). Innovation in participatory design. Proceedings of the 11th Biennial Participatory Design Conference on – PDC ’10, 281.

Forssman, A., Schmude, C., Benn, T.L., Abeck, I.-M. & Schäfer, A. (i. D.). Interaktionsqualität zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern im Kontext der Frühpädagogik: Komplementäre Interaktionsmodi im Fokus. In A. Flügel, I. Landrock, J. Lange, B. Müller-Naendrup, J. Wiesemann, P. Büker & A. Rank (Hrsg.), Jahrbuch Grundschulforschung (Bd. 28). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Gaver, B., Dunne, T. & Pacenti, E. (1999). Design: Cultural probes. Interactions, 6(1), 21-29.

Helfferich, C. (2011). Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews (4. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.

Kühn, T. & Koschel, K.-V. (2018). Gruppendiskussionen. Ein Praxis-Handbuch (2. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.

Martens, B. & Asbrand, M. (2017). Passungsverhältnisse: Methodologische und theoretische Reflexion zur Interaktionsorganisation des Unterrichts. Zeitschrift für Pädagogik, 1(63), 72-90.

Mayring, P. (2015). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken (12. Aufl.). Weinheim: Beltz Pädagogik.

Mayring, P., Gläser-Zikuda, M. & Ziegelbauer, S. (2005). Auswertung von Videoaufnahmen mit Hilfe der Qualitativen Inhaltsanalyse – Ein Beispiel aus der Unterrichtsforschung. MedienPädagogik Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 9, 1-17.

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Przyborski, A. (2005). Gesprächsanalyse und Dokumentarische Methode. Qualitative Auswertung von Gesprächen, Gruppendiskussionen und anderen Diskursen. Wiesbaden: Springer VS.

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Schmude, C., Abeck, I.-M., Herold, J., Benn, T.L., Forssman, A., Schäfer, A. & Jegodka, A. (i. D.). Professionalisierung der Interaktionsqualität im Morgenkreis als inklusives Alltagssetting. In I. Nentwig-Gesemann, K. Fröhlich-Gildhoff & K. Wedekind (Hrsg.), Forschung in der Frühpädagogik. Freiburg i.B.: FEL. 

Wirts, C., Cordes, A.-K., Egert, F., Fischer, S., Kappauf, N., Radan, J., …, Becker-Stoll, F. (2019). Abschlussbericht der Evaluationsprojekte BiSS-E1 und BiSS-E2 (Wissenschaftliche Begleitung im Rahmen der Bund-Länder-Initiative Bildung durch Sprache und Schrift). München: Staatsinstitut für Frühpädagogik.


[1] Die Arbeit in einem iterativen Prozess bedeutet, dass gleiche oder ähnliche Schritte wiederholt werden, um sich Schritt für Schritt einer Lösung bzw. einem Ergebnis zu nähern.

[2] Projektpartner*innen des Projektes sind FRÖBEL Bildung und Erziehung gGmbH, pad gGmbH und Studio Sansho sowie InDiPaed und KiGäNo. Der wissenschaftliche Beirat unter der Leitung von Prof. Dr. Aljoscha Jegodtka begleitet das Projekt durch wissenschaftliche Beratung und Qualitätssicherung.

Der Habitus der Kita. Dokumentarische Analysen zu Inklusion und Prävention in Kindertageseinrichtungen

| Isabell Krähnert |

Seit der Jahrtausendwende stehen Kitas unter Professionalisierungsdruck. Die Expansion des frühpädagogischen Handlungs-, Forschungs-, Aus- und Weiterbildungsfeldes geht mit einer Ausweitung gesellschaftlicher, bildungspolitischer und fachwissenschaftlicher, teils spannungsreicher Professionalisierungserwartungen einher, zu denen Einrichtungen sich verhalten (müssen). Empirische Ergebnisse verweisen darauf, dass Kitas als rezeptive Handlungsfelder zu verstehen sind: Sie weisen sich dadurch aus, dass sie teilweise ‚normhungrig‘ und hochadaptativ mit externen normativen Anforderungen umgehen und einen Modus der steten Selbstoptimierung grundlegen, der es nahelegt, expandierende Professionalisierungsaufforderungen fortlaufend anzunehmen (Cloos et al., 2019). Hiervon ausgehend richtete ich in meiner Dissertationsstudie (Krähnert i. E.) den Fokus auf zwei dieser Erwartungen: auf Inklusion und Prävention. Mit dem Anspruch der Inklusion wird die Forderung an Fachkräfte herangetragen, Kinder in ihrer unverwechselbaren Einzigartigkeit in den Blick zu nehmen und hierbei jegliche Varianz kindlicher Verfasstheit nicht zu bewerten, sondern wertzuschätzen. Zugleich sollen die Fachkräfte frühestmöglich Auffälligkeiten und Entwicklungsrisiken in den Blick rücken, kindliche Entwicklung also durchaus bewerten und kompensatorisch intervenieren. Dies wird in der Studie als kollisionsträchtige Auftragslage für Kitas herausgestellt, also als Anforderungen, die sich potenziell widersprechen. Ob und wie Einrichtungen diesen Anforderungen begegnen und ob und wie sie diese spannungsreichen Handlungsaufträge (nicht) in Handlungspraxis übersetzen, ist bislang empirisch nahezu unerkundet und Ausgangspunkt der Studie.

Was ist das Phänomen: Kollisionsträchtige Auftragslage für Frühpädagog:innen

Kinder einerseits in ihrer „Vielschichtigkeit, Veränderlichkeit, Vernetztheit und Unbestimmbarkeit“ (Prengel 2020, S. 35, Herv. i. O.) zu perspektivieren, als Individuen, als „unauslotbar, unvertretbar und unteilbar“ (Krönig 2017, S. 59, Herv. i. O.), kollidiert mit dem, was Helga Kelle als „Präventionsdispositiv“ (Bröckling 2008, S. 47 zit. nach Kelle 2018, S. 87) bezeichnet. Die Transformation des Handlungsfeldes Kita geht mit der Expansion der Entwicklungsdiagnostik einher: Kinder werden nunmehr von Geburt an bis zum Schuleingang immer häufiger, von immer mehr Berufsgruppen in den diagnostischen Blick genommen. Hierbei sind einerseits medizinisch-gesundheitsbezogene, andererseits pädagogisch-psychologische und kompetenzbezogene Diagnostiken zu nennen. Seit den 2000er Jahren gibt es vermehrte Maßnahmen etwa zur sog. Früherkennung, flächendeckende Screenings, verbindliche U-Untersuchungen etc., sodass vom Durchschlag des „Präventionsparadigmas“ (Seitz/Hamacher 2021, S. 120) die Rede sein kann. Der Blick auf potenzielle ‚Entwicklungsrisiken‘ des Kindes wird grundgelegt und damit eine Rangordnung kindlicher Verfasstheiten. Wird Inklusion als Aufforderung zur Anerkennung und Wertschätzung aller Vielfalt verstanden, auch bezogen auf unterschiedliche Leistungs- und Entwicklungsstände der Kinder, dann kollidiert dieses egalitäre (horizontale) Perspektivierungsgebot mit einer hierarchisierenden (vertikalen) Präventionsperspektive (Krähnert 2020). (Wie) Können Anforderungen einer „early prevention and intervention“ (Kelle 2018, S. 89) mit Ansprüchen der Inklusion vereinbart werden?

Was will die Studie?

Sollen Fachkräfte das Kind nun in jeglicher, pluraler Verfasstheit individuell anerkennen, wertschätzen und als Unvergleichbares perspektivieren? Oder sollen sie mit empfindlichen Sensoren mögliche Abweichungen frühzeitig detektieren, um Fehlentwicklungen, Unterstützungs- und Förderbedarfe frühzeitig zu identifizieren und zu kompensieren? Was genau ist inklusiv – die Kinder zu kategorisieren oder zu de-kategorisieren? Mit Boger (2015) ist offenzuhalten, wie Inklusion einzulösen ist: Sollen die Kinder in ihrem (vermeintlichen) Anders-Sein empowert werden? Und wenn ja, wie geht das mit dem Auftrag der Schulvorbereitung zusammen? Oder sollen Kinder, ganz im Gegenteil, in ihrem Wunsch nach Normalisierung – also zu sein, wie die Anderen – empowert werden?  Soll die Kategorie ‚Behinderung‘ dekonstruiert, in Frage gestellt, oder aber gerade als Sprechendenposition für die Kinder und Familien stark gemacht werden?

Das Spannungsfeld um Inklusion und Prävention ist also kaleidoskopisch[1] und mehrschichtig: Jemanden zu etikettieren und Abweichung zuzuschreiben, kann genauso schmerzhaft und kontraproduktiv sein, wie es nicht zu tun und genauso riskant wie notwendig. Was tun Einrichtungen also? Welche Aufforderungen (Inklusion und/oder Prävention) adaptiert pädagogische Praxis? Welche Perspektive auf die Kinder (egalisierend oder hierarchisierend) wird in den Einrichtungen eingenommen? Welche Zuständigkeiten schreiben sich Frühpädagog:innen dabei selbst zu, bspw. für Schutz, Bildung, Entwicklung oder Kompetenzzuwachs?

Wie bin ich vorgegangen?

Um meine Forschungsfragen zu bearbeiten habe ich eine ‚Biopsie‘[2] im Feld in vier ausgewählten und systematisch gesampelten Einrichtungen, durchgeführt. Dabei konnte ich auf Daten und Ergebnisse aus einem Vorgängerprojekt (Krähnert et al. 2022) zurückgreifen und die Dissertation als Vertiefungsstudie anlegen. Für jede der vier Einrichtungen wurden je drei Datensorten analysiert: 1) die Kita-Konzeption, 2) ein leitfadengestütztes Leitungsinterview und 3) mindestens ein Elterngespräch zwischen Fachkraft und Eltern über ein Kind, das einen sog. ‚Integrationsstatus‘ innehat. Die Studie wurde entsprechend mehrebenenanalytisch und als rekonstruktive Organisationsforschung (Vogd/Amling 2017) angelegt, alle Daten mit der dokumentarischen Methode analysiert und miteinander relationiert. Zugleich wurde eine subjektivierungsanalytische Perspektive nach Geimer und Amling (2019) in der Analyse mitgeführt, die es ermöglicht, eine besondere Scharfstellung auf subjektbezogene Normen und damit ‚Subjektideale‘ zu eröffnen: Welche Idealvorstellungen vom Kind dokumentieren sich in den verschiedenen Daten – wie sollte es also idealerweise sein? Verbunden wurde dieser Blick mit einer ableismussensiblen Perspektive, die ihren Fokus auf „gesellschaftliche Fähigkeitsordnungen“ (Buchner/Pfahl 2017, S. 211) zu richten vermag. Auf diese Weise konnten die Konstruktionen des Kindbildes und des Selbstbildes der Pädagog*innen und die hierfür relevanten identitätsbezogenen (Fähigkeits-)Normen ins Zentrum der Analyse eingerückt werden.

Was ist das Ergebnis?

Die vier mehrebenenanalytisch untersuchten Einrichtungen gehen sehr unterschiedlich – und systematisch – mit dem Spannungsfeld zwischen Inklusion und Prävention um. Das zentrale Ergebnis der Studie ist, dass Einrichtungen (kollidierende) Professionalisierungserwartungen selektiv adaptieren (annehmen) entlang eines je spezifischen Musters, das sich auf allen jeweils untersuchten Ebenen der einzelnen Einrichtung zeigt. Ob und in welcher Weise Einrichtungen Inklusion und/oder Prävention auf ihren verschiedenen Ebenen ‚einlesen‘, hängt von der, insbesondere auf der Ebene des impliziten Wissens eingelagerten, Leitnorm (auch Hypernorm) der Einrichtung ab, die ich in der Studie als Habitus der Organisation herausgearbeitet habe: Kitas selektieren (gesellschaftliche, bildungspolitische und fachwissenschaftliche) Professionalisierungserwartungen und adaptieren jene Erwartungen, die mit ihrem jeweiligen Organisationshabitus vereinbar sind. Mit der Studie ist entsprechend der Vorschlag unterbreitet, den Begriff des Habitus als Modus Operandi – als Bearbeitungsmuster externer Erwartungen – auch für Organisationen fruchtbar zu machen: Wird dem gefolgt, verfügen Einrichtungen also über einen Habitus, der bestimmt, ob und wenn ja, inwiefern sich Einrichtungen mit Professionalisierungsaufforderungen auseinandersetzen. Damit kann sich der Beantwortung der Frage angenähert werden, warum Einrichtungen je unterschiedliche Erwartungen einlesen, nämlich solche, die zu ihren „bereits vorhandenen Zügen ‚passen‘“ (Rehbein/Saalmann, 2009, S. 112). Die folgende Tabelle ordnet den Einrichtungen den jeweiligen rekonstruierten Habitus zu und listet die damit verbundenen Subjektideale: Sie sind das, was Kinder oder Fachkräfte idealerweise sein sollen.Subjektivierungsanalytisch betrachtet sind es implizite Idealvorstellungen, die in ihrer tatsächlichen Wirksamkeit und damit Praxisrelevanz rekonstruiert werden konnten.

Tabelle 1: Ausgewählte, exemplarische Ergebnislinien (eigene Darstellung)

Für die Einrichtung Kunterbunt konnte der Habitus der Progression, im Sinne eines hochtourigen Fortschrittes und permanenten Überholens, identifiziert werden. In der Einrichtung Schmetterling konnte der Habitus der Assimilation, im Sinne einer Anpassung und Angleichung von Abweichungen der Kinder an Alters- und Entwicklungsnormen rekonstruiert werden, für die Einrichtung Fliederheim der Habitus der Selbstprofessionalisierung der Fachkräfte. Hier wird nicht von kindlicher Verfasstheit und schon gar nicht vom Defizit der Kinder aus gedacht, sondern vielmehr ist das Muster einer Selbstproblematisierung und -infragestellung der Fachkräfte dominant. Für die Einrichtung Shiloh ist der Habitus der FürsorgePflichtGemeinschaft konstitutiv, wobei alle drei Komponenten gleichgewichtet sind. Grundgelegt ist damit ein Sinnmuster, das auf eine Vergemeinschaftung, auf Zusammenhalt, verpflichtet, im Sinne einer innerjüdischen Schutz-Community post Shoa im Land der Täter:innen. Der Organisation Kita wird hier ein spezifisch soziohistorisch begründeter Zweck, Funktion und damit Sinn zugeschrieben: Sie wird zum Ort der Realisierung und Bewahrung jüdischen Lebens in Deutschland.

Mit Rückblick auf meine Forschungsfragen, welche externen Erwartungen nun von den Einrichtungen adaptiert und welche Perspektiven auf Kinder – horizontale inklusionsorientierte oder präventive vertikale – angelegt werden, lässt sich sagen: Es hängt mit dem jeweiligen Habitus zusammen, ob eher eine Präventionsorientierung eingelesen wird – wie in Kunterbunt und Schmetterling, oder eine Inklusionsorientierung wie in Fliederheim oder aber, ob weder das eine noch das andere empirisch identifiziert werden kann wie in Shiloh. Die Ergebnisse der Einrichtung Shiloh verweisen exemplarisch darauf, dass Einrichtung mit starkem, hier religiös und soziohistorisch konturiertem Eigenbezug, recht geschlossene ‚Membranen‘, gegen bildungspolitische, fachwissenschaftliche Erwartungen prozessieren können. Diese externen Anforderungen erreichen Einrichtungen also selektiv: Kitas sind für das besonders rezeptiv, was mit ihrem Habitus kompatibel ist.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Die Studie kann zunächst als Plädoyer für die Anerkennung der Eigenlogik und Unverfügbarkeit der Praxis verstanden werden.[3] Sie erhellt einerseits die Voraussetzungen, Bedingungen und Potenziale von fachwissenschaftlichen und bildungspolitischen Professionalisierungsanliegen, verweist aber anderseits deutlich auf ihre Grenzen: Immer neue Aufforderungen zur Transformation und zur Fortentwicklung und Optimierung pädagogischer Handlungspraxis stoßen nicht auf unbestellte Felder, sondern auf bereits eingespielte Organisationshabitus, die die Ebenen der Organisation durchdringen und die einen je eigenlogischen und unverfügbaren Umgang mit diesen Anforderungen bedingen. Für die pädagogische Handlungspraxis lässt sich aus den Gesamtergebnissen der Studie zweierlei ableiten: Zum einen könnte es für die Praxis selbst gewinnbringend sein, über die grundgelegten impliziten Prämissen der Organisation gemeinsam zu reflektieren, Verfahren, Dokumente, Prozesse und pädagogische Interaktionen daraufhin zu befragen und in den kritischen Blick zu rücken. Zum anderen können die Ergebnisse als Hinweis darauf verstanden werden, wie voraussetzungsvoll Transformationsprozesse sind und dass sie notwendig einzubetten sind in umfassende kollektive Reflexions- und Vergewisserungsprozesse – dies erfordert umfassende Ressourcen und ein Transformationsmanagement in der Einrichtung.

Nicht zuletzt kann die Studie auch als Ermutigung für die Praxis gelesen werden, einen reflektierten Umgang mit externen Erwartungen einzuüben, normative Anforderungen dezidiert in den kritischen Blick zu rücken, auf widersprüchliche Implikationen zu überprüfen und die Implementation immer neuer Anforderungen ggfs. reflektiert und begründet abzuweisen. 

Literaturverweise

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Geimer, A./Amling, S. (2019): Subjektivierungsforschung als rekonstruktive Sozialforschung vor dem Hintergrund der Gouvernmentality und Cultural Studies. Eine Typologie der Relation zwischen Subjektnormen und Habitus als Verhältnisse der Spannung, Passung und Aneignung. In: Geimer, A./Amling, S./Bosančić, S. (Hrsg.): Subjekt und Subjektivierung. Empirische und theoretische Perspektiven auf Subjektivierungsprozesse. Wiesbaden: Springer VS, S. 19-42.

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Krähnert, I. (i. E.): Der Habitus der Organisation – Dokumentarische Perspektiven auf Inklusion und Prävention in Kindertageseinrichtungen. Weinheim: Beltz Juventa.

Krähnert, I./Zehbe, K./Cloos, P. (2022): Polyvalenz und Vulneranz. Empirische Perspektiven auf inklusionsorientierte Übergangsgestaltung in Elterngesprächen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Krähnert, I. (2020): Inklusion im frühpädagogischen Handlungsfeld – Resonanzen der ‚Aktivgesellschaft‘? In: T. Dietze, D. Gloystein, V. Moser, A. Piezunka, L. Röbenack, L. Schäfer, G. Wachtel & M. Walm (Hrsg.): Inklusion – Partizipation – Menschenrechte: Transformationen in die Teilhabegesellschaft? 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention – Eine interdisziplinäre Zwischenbilanz. Verlag Julius Klinkhardt.

Prengel, A. (2020): Pädagogik der Vielfalt im Kindergarten – ein Überblick. In: König, A./ Heimlich, U. (Hrsg.): Reihe: Inklusion in Schule und Gesellschaft, Band 13. Stuttgart: Kohlhammer, S. 31-47.

Rehbein, B./ Saalmann, G. (2009): Habitus. In: Fröhlich, G./Rehbein, B. (Hrsg.): Bourdieu Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 110-118.

Seitz, S./Hamacher, C. (2021): Schattenseiten der Optimierung – Befunde und Analysen zur Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtung und Frühförderung. Frühe Bildung, 10, S. 119-125, https://doi. org/10.1026/2191-9186/a000528.

Vogd, W./Amling, S. (2017): Einleitung: Ausgangspunkte und Herausforderungen einer dokumentarischen Organisationsforschung. In: Amling, S./Vogd, W. (Hrsg.): Dokumentarische Organisationsforschung. Perspektiven der praxeologischen Wissenssoziologie. Opladen, Berlin und Toronto: Barbara Budrich, S. 9–35.


[1] In einem Kaleidoskop (Rohr mit kantig angeordneten Spiegelflächen zum Durchschauen und Drehen, an dessen inneren Ende sich farbige Gegenstände befinden) spiegeln sich die bunten Gegenstände, je nachdem, wie sie gedreht werden, zu immer wieder neuen symmetrischen farbigen Mustern.

[2] Mit Biopsie ist hier (im Sinne einer losen Begriffsanleihe aus dem medizinischen Vokabular) gemeint, dass eine Art kleine ‚Gewebeprobe‘ aus dem gesamten Handlungsfeld Kita entnommen wurde: Die Studie hat den Versuch unternommen anhand einer mehrebenenanalytischen Untersuchung in vier Einrichtungen etwas über ‚das Handlungsfeld‘ Kita herauszuarbeiten.

[3] Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft können also nicht einfach in die Organisation Kita hineinsteuern oder nahtlos hineinwirken. Vielmehr verarbeiten Kitas externe Anforderungen in je eigenlogischer, nicht absehbarer und steuerbarer Weise und bleiben damit in gewisser Weise ‚unverfügbar‘.

Demokratiebildung in Qualitätsverfahren der Kindheitspädagogik – von Anti-Diskriminierung, Diversität und Inklusion: Was steht drin, wenn’s drauf steht?

| Hoa Mai Trần |

Einleitung

Die Diskussion um Qualität in der frühkindlichen Bildung wurde maßgeblich durch den „Pisa-Schock“ 2001 vorangetrieben. Qualitätsverfahren werden als Instrumente zur Steuerung der pädagogischen Praxis angesehen. Neben quantitativem Ausbau wurden Bildungs- und Orientierungspläne erstellt, und Fragen nach „guter“ Qualität aufgeworfen. Dies führte zu einem verstärkten Fokus auf Effizienz und Wirtschaftlichkeit, wobei Qualität definiert und überprüft werden musste. Es entstanden zahlreiche Verfahren und Instrumente zur Qualitätsentwicklung und -sicherung, wobei unterschiedliche Ansätze und Modelle diskutiert wurden. Dabei wurden und werden sowohl interne als auch externe Evaluationen verwendet, um Qualität zu sichern oder zu verbessern. Kontroversen gibt es nach wie vor darüber, wer „gute“ Qualität festlegt und überprüft und wie demokratisch und inklusiv diese Verfahren sind. Peter Moss betont, dass Qualität nicht nur objektiv gemessen werden kann, sondern ein konstruierter und kollektiver Prozess der Bedeutungskonstruktion sind (Pence, Moss 1994, S. 172; Moss 2016, S. 10, 15). Er schlägt vor, Evaluation als demokratischen Prozess zu verstehen, bei dem verschiedene Akteure gemeinsam Sinn und Bedeutung konstruieren. Demokratiebildung sollte daher integraler Bestandteil der Qualitätsdiskussion sein, um ein professionelles und demokratisches Bildungssystem zu gewährleisten (Dahlberg et al. 2013, S. xv; Moss 2016, S. 11f.; Moss, Urban 2010). Im 16. Kinder- und Jugendbericht wird die Bedeutung von Demokratiebildung in der Kindertagesbetreuung hervorgehoben (BMFSFJ 2020, S. 163ff., 176). Gefordert wird eine stärkere Ausrichtung an Demokratiebildung in der Analyse von Bildungsplänen (Wolter 2021), der Bedarf der Analyse von Qualitätsdiskursen im Elementarbereich wird verdeutlicht. Diese sind folglich stärker auf Demokratiebildung auszurichten, was das Vorhaben im Rahmen des Kompetenznetzwerks „Demokratiebildung im Kindesalter“ der Fachstelle Kinderwelten (ISTA) aufgriff.

Was will das Projekt?

Verschiedene Qualitätsverständnisse führten zu den verschiedenen Verfahren und Instrumentarien, die in der kindheitspädagogischen Landschaft Anwendung fanden und finden. Doch wer definiert „gute“ Qualität auf welcher Art und Weise? Im Rahmen des Kompetenznetzwerk für Demokratiebildung im Kindesalter angesiedelt an der Fachstelle Kinderwelten (ISTA) wurde 2021-2023 eine Dokumentenanalyse zu „Demokratiebildung in Qualitätsverfahren“ durchgeführt. Ziel der Analyse ist es, einen kritischen Blick in die heterogene Qualitätslandschaft mit Fokus auf den Elementarbereich zu werfen. Es wurden 21 Qualitätsverfahren auf die Schwerpunkte: Demokratie, Partizipation, Kinderrechte, Diversität, Diskriminierung und Inklusion analysiert. Demokratiebildung wird als fortlaufender Prozess und auf Ebene der Bildungsprozesse von Kindern als Erfahrungs- und Lebensform verstanden (Oelkers 2011, S. 121ff.; Eberlein et al. 2021, S. 12, 212), der es allen Mitgliedern einer Gesellschaft ermöglichen soll, aktiv an demokratischen Entscheidungsprozessen teilzunehmen. Kinderrechte sind als grundlegende demokratierelevante Rechtsanker für Kinder, die Anforderung an pädagogische Fachkräfte zur Einhaltung von Schutz-, Beteiligungs- und Förderrechten von Kindern verankern (UN-Kinderrechtskonvention 1989). Partizipation ist historisch in reformpädagogischen Bewegungen verankert, und stellt ein zentrales Prinzip dar, welches die Beteiligung von Kindern in Inhalt und Form befördert (Ruppin 2018; Schwerdt et al. 2023, Hansen et al. 2011). Diversität wird als wichtige Perspektive hervorgehoben, da die heterogenen Zugehörigkeiten und Lebenslagen von Kindern und Familien in der pädagogischen Arbeit bedeutsam werden (Hormel 2007, S. 27, Stenger et al. 2017, S. 9). Diskriminierung, als Ausschluss oder Benachteiligung bestimmter Gruppen, wird als „Demokratiedefizit“ unvereinbar mit dem demokratischen Anspruch betrachtet und erfordert eine aktive Auseinandersetzung und Gegenmaßnahmen (BMFSFJ 2020, S. 164f.; Scherr 2016). Inklusion zielt darauf ab, die Teilhabe von Kindern an Bildung und Gesellschaft chancengerecht zu gewährleisten. Erwähnenswert ist hierbei der erfolgte Paradigmenwechsel, welcher nicht mehr ein vermeintliches Defizit bei Kindern fokussiert, sondern Behinderungen auf gesellschaftliche Defizite betrachtet, welche als Barrieren in Strukturen und Institutionen wirksam sind und entsprechend abgebaut werden müssen (Degener 2010, S. 58; Wagner 2022). Deutschland hat sich mit der Ratifizierung der UN-Behindertenkonvention verpflichtet Teilhabe im Bildungssystem umzusetzen, doch nach wie vor besteht Handlungsbedarf, um ein inklusives Bildungssystem zu schaffen. Innerhalb der Dimensionen und Zugänge über Demokratiebildung, Partizipation, Kinderrechte, Diversität, Anti-Diskriminierung und Inklusion gibt es viele inhaltliche Überschneidungen. Die Diskussion um diese in diesem Beitrag knapp skizzierten Konzepte reflektiert die komplexen demokratierelevanten Herausforderungen für die pädagogische Praxis und die Notwendigkeit einer kontinuierlichen wertebasierten Auseinandersetzung mit Qualitätsverfahren und der Weiterentwicklung von Demokratiebildung im Kindesalter auf.

Wie geht das Projekt vor?

Die Dokumentenanalyse zielt darauf ab, die Rolle der Demokratiebildung in Kitas innerhalb der Qualitätsverfahren zu untersuchen. Die Dokumentenanalyse konzentriert sich darauf, wie häufig Aspekte wie Partizipation, Kinderrechte, Inklusion, Diversität und Diskriminierung in den untersuchten Qualitätsverfahren vorkommen. Es wird eine zusätzliche qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt, die quantitative Techniken wie die Erfassung von Begriffshäufigkeiten ergänzte. Die Untersuchung schafft eine Annäherung an ein deskriptives Abbild zu verschiedenen Dimensionen der Demokratiebildung und gibt Rückschlüsse auf Weiterentwicklungspotenziale. 21 Qualitätsverfahren wurden im Sample der Dokumentenanalyse aufgenommen. Sie unterschieden sich in qualitativ und quantitativem Zugang, ihrer regionalen Verankerung sowie lokaler, bundesweiter und nationaler Anwendung, ihren Evaluationsformen (intern und/oder extern) sowie ihrer Verbreitung als ansatzbezogene, managementbezogene, trägerbezogene Formen. Verschiedene Dokumente und Methoden wurden anhand verschiedener Kriterien für die Dokumentenanalyse verwendet, darunter Beobachtungsbögen, Fragebögen bis hin zu ganzen Handbüchern und Manuals. Es wird betont, dass die Analyse auf einer begründeten Auswahl von Dokumenten basiert und keine direkten Einblicke in die pädagogische Praxis und die Verwendungsweisen in der Arbeit mit verschiedenen Verfahren aufzeigen[1]. Die Analyse liefert dadurch Impulse für den Fachdiskurs und eine Annäherung an die Frage, wie es um Demokratiebildung in verschiedenen Qualitätsverfahren steht.

Was ist das Ergebnis?

Im Folgenden wird ein Einblick in Teilergebnisse zu Diversität, Inklusion und Diskriminierung gegeben. Die vollständigen Ergebnisse sind im Werk „Demokratiebildung in Verfahren der Qualitätsentwicklung in Kitas: Eine Dokumentenanalyse Zur Stellung von Partizipation, Kinderrechten, Diversität, Diskriminierungskritik und Inklusion in der kindheitspädagogischen Qualitätslandschaft” (Trần 2024) nachzulesen.

Trotz großer Unterschiede zwischen verschiedenen Qualitätsverfahren wurden alle Schlagwörter übergreifend gefunden, was darauf hindeutet, dass grundsätzlich bestimmte Zugänge in Qualitätsverfahren verhandelt werden, wobei insbesondere Partizipation stark aufgegriffen wird und Diskriminierung als der meist vernachlässigte Teilaspekt gedeutet werden kann. Diversität wird häufiger thematisiert als Inklusion. Deutlich werden die großen Unterschiede im Profil einzelner Qualitätsverfahren.

Rang nach TreffernInhaltliche KategorieAnzahl der Kodierungen
1Partizipation10388
2Diversität9728
3Kinderrechte7230
4Demokratie4563
5Inklusion4417
6Diskriminierung3927
Gesamt40253
Tabelle 1 Absolute Häufigkeit von Treffern nach verschiedenen Zugängen (Eigene Darstellung)

Diversität in Qualitätsverfahren wird meist unter Begriffen wie „Unterschiede“ und „Vielfalt“ thematisiert. Allerdings ist der Bezug zu sozialer Differenz und Heterogenität geringer. Die Sprachwahl variiert stark, wobei „Vielfalt“ und „Unterschiede“ öfter verwendet werden als „Diversität“. Unterschiedliche Verfahren handhaben Diversität unterschiedlich. Es geht einerseits darum, Unterschiede anerkennend und respektvoll als Teil der pädagogischen Arbeit aufzugreifen. Andererseits wird die inhaltliche Spannbreite von Diversität teils oberflächlich abgehandelt und sehr unterschiedlich bis einseitig-stereotyp zur Sprache gebracht und auch hier gibt es große Disparitäten zwischen einzelnen Qualitätsverfahren. Diversität zeigt sich in verschiedenen Differenzkategorien (abgefragt wurden beispielsweise natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit, Alter, Geschlecht, psychische und physische Einschränkungen, sozialer Herkünfte etc.), wobei das Alter und die ethnische Zugehörigkeit am häufigsten erwähnt werden, während psychische und physische Einschränkungen und sexuelle Orientierung wenig Beachtung finden. Kinder sind die häufigste Zielgruppe, aber auch Familien und ethnische Zugehörigkeit werden oft genannt. Dennoch sind bestimmte Aspekte der Diversität, wie nicht-binäre Geschlechtlichkeit oder verschiedene Religionen unterrepräsentiert. Die Sprache und Herangehensweise zu Diversität in Qualitätsverfahren zeigen eine Affirmation von Vielfalt, während eine machtkritische Perspektive weniger präsent ist. Seltener wird die Beteiligung der Fachkräfte an der Herstellung von Differenz von Kindern und Familien thematisiert, sondern vorwiegend der Umgang mit Heterogenität in den Blick genommen. Es besteht Bedarf an einer umfassenderen Berücksichtigung diverser Lebensrealitäten von Kindern und an einer kritischeren Auseinandersetzung mit Diversität in der pädagogischen Praxis und in Qualitätsverfahren.

Die Analyse zeigt, dass das Verständnis von Inklusion in Qualitätsverfahren uneinheitlich ist, und die Umsetzung variiert stark. „Inklusion“ wird insgesamt 262-mal benannt in der Spannbreite von gar keiner Benennung in acht Qualitätsverfahren bis hin zu 125 Treffern in einem Qualitätsverfahren. Häufig wird Inklusion einseitig betont, ohne Exklusion zu berücksichtigen. Das „Gemeinsame“ in Sinne von Zusammen sein „aller“ wird oft hervorgehoben, während Teilhabe, Zugehörigkeit und Barrierefreiheit selten angesprochen werden. Die Formel „alle Kinder“ bleibt unpräzise, birgt Widersprüche und bleibt vage in Hinblick auf konkrete Maßnahmen, die bestimmte Zielgruppen von Kindern betreffen. Der Begriff „Inklusion“ wird mit Kindergruppen entlang physisch-psychischer Fähigkeit, natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit und ihres Alters erwähnt, was das Spannungsfeld der Spezifik des inklusiven Auftrags für bestimmte Kinder und seiner Generalisierbarkeit von „allen“ Kindern verdeutlicht. Bestimmte Qualitätsverfahren weisen deutlich dazu an, „Inklusion“ als Zielwert pädagogischer Qualität zu adressieren, doch es gibt auch einige Verfahren, die sich kaum (und vor allem nicht explizit) mit Inklusion befassen. Die Thematisierung von Exklusion muss verstärkt werden, um Barrieren abzubauen. Die Konsistenz von Integration und Sonderpädagogik ist bedenklich, da sie einerseits Benachteiligte ansprechen, andererseits aber eine Sonderbehandlung bestimmter Kindergruppen mitermöglichen. Die Herausforderung besteht darin, ein ausgewogenes Verständnis von Inklusion zu entwickeln und einen verstärkten Diskurs über Exklusion zu führen.

Die Analyse zeigt, dass Diskriminierung in Qualitätsverfahren nur am Rande thematisiert wird. Während Herrschaftsverhältnisse häufiger erwähnt werden, bleibt die explizite Auseinandersetzung mit Diskriminierung sehr gering. Es fehlt an konkreten Strategien zur Bewältigung von Diskriminierungssituationen. Die Benennung spezifischer diskriminierender Ideologien (wie beispielsweise Klassismus, Rassismus, etc.) ist selten, ebenso wie die Erwähnung von Interventionsstrategien, welche beispielsweise durch Beschwerden angesprochen werden. Es lässt sich in Bezug auf die Ergebnisse der Analyse von Diversität und Differenzmerkmalen feststellen, dass die Ansprache von beispielsweise „Kinder[n]“ mit 2446 Treffern und seinem Diskriminierungsäquivalent „Adultismus“ mit 3 Treffern eine Thematisierung in der Benennung von spezifischen Personengruppen (hier Kinder) stark gewichtig, doch ihre Ausgrenzungsrisiken kaum bis gar nicht zur Kenntnis genommen werden. Die Art und Weise, wie Diskriminierung behandelt wird, variiert stark zwischen den Qualitätsverfahren. Einige thematisieren sie ausführlicher, während andere sie kaum berücksichtigen. Die Verwendungsweisen des Diskriminierungsbegriffs in der Kita sind sehr unterschiedlich gelagert. Es kann nicht von einer systematischen Auseinandersetzung gesprochen werden, sondern mehr von einer punktuellen Ansprache ausgewählter Qualitätsverfahren. Dabei unterscheiden sich die Benennungen stark nach den jeweiligen Qualitätsverfahren. Viele Verfahren haben Diskriminierung kaum bis gar nicht in ihrem Fokus auf pädagogische Qualität. In der qualitativen Analyse zeigt sich, dass Diskriminierung mit Sensibilisierung für Vorurteile und Übergriffigkeiten in Verbindung steht. Offen bleibt, wer von wem wie diskriminiert wird und wie pädagogisch damit umgegangen werden kann. Teils wird die Idee eines diskriminierungsfreien Raums mitgetragen, die die Adressierung von Diskriminierungen im pädagogischen Alltag ausblenden. Andere Verfahren widmen sich gezielter Diskriminierungsrisiken in der Kita.

Die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen wird betont, indem die Anwendungsweisen von Qualitätsverfahren in der Praxis sowie die Perspektiven der Kinder stärker einzubeziehen sind. Zudem wird die Erwachsenenzentrierung im Diskurs über Qualität und Demokratiebildung kritisch hinterfragt und auf die Machtverhältnisse sowie Diskriminierungsrisiken als Demokratiedefizite in Kindertageseinrichtungen hingewiesen. Die wertebasierte Ausrichtung sind durch Partizipation und Demokratiebildung grundsätzlich vorhanden und in Qualitätsverfahren zu präzisieren. Kinderrechte müssen stärker expliziter Bestandteil von pädagogischer Qualität sein und Diversität tiefgründiger und kritischer verhandelt werden als bisherige Qualitätsverfahren dies tun. Das Fazit der vorliegenden Dokumentenanalyse verdeutlicht die vielfältigen Impulse für einen kritischen Qualitätsdiskurs in kindheitspädagogischen Handlungsfeldern mit dem Fokus auf Demokratiebildung. Weiterhin kann über die konsequentere Ausrichtung im Qualitätsdiskurs in Richtung Demokratiebildung verwiesen werden. Eine Unterscheidung je nach Kontext und Verwendungsweise verschiedener Qualitätsverfahren wird ebenfalls deutlich, da es große Unterschiede zwischen einzelnen Qualitätsverfahren zu verschiedenen Teilaspekten sich abgezeichnet haben.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Demokratieförderliche Prinzipien müssen stärker programmatisch und inhaltlich konturiert werden, um die Verbindung zwischen bildungspolitischen Strategien und pädagogischer Alltagspraxis zu befördern. Es bedarf einerseits formaler Strukturen, damit Demokratiebildung als Handlungspraxis ermöglicht wird und andererseits eine flexible Umsetzung und Ausrichtung an der pädagogischen Praxis und seiner verschiedenen Akteur*innengruppen – allen voran den Kindern. Diese konsequente Strategie kann als organisationale Aufgabe begriffen werden, da verschiedenen Ebenen und Subsysteme in pädagogischen Einrichtungen für eine demokratiebildenden Qualitätsdiskurs und Praxis beitragen. Die pluralen Lebenswirklichkeiten von Kindern in ihren heterogenen Ausprägungen brauchen mehr, systematische und explizitere Berücksichtigung in Qualitätsverfahren, die entsprechend zu überarbeiten sind. Es besteht die Notwendigkeit einer diversitätsbewussten Auseinandersetzung und Ansprache und Adressierung von Kindern und Familien, um den heterogenen Lebenswelten gerecht zu werden und Ungleichheiten sowie Ausschlüssen entgegenzuwirken. Diskriminierungen und deren Umgang stellen eine größere Leerstelle in Qualitätsverfahren dar. Grundlegend besteht Bedarf, Diskriminierung stärker und expliziter in den Blick zu nehmen und konkrete Handlungsorientierungen zu entwickeln, um Teilhabebarrieren und Demokratiedefiziten entgegenzuwirken. Schlussfolgernd wird deutlich, dass Inklusion viel mit der Thematisierung „aller Kinder“, dem Zusammensein sowie gemeinsamen Aktivitäten implizit angesprochen wird. Gleichzeitig wird Inklusion wenig thematisiert, wenn es um umfassende Teilhabe, Zugehörigkeit und Barrieren in pädagogischen Einrichtungen geht. Die Formel „alle“ Kinder im Sinne eines allumfassenden Einschlusses kann als unpräzise gelten, da sich darunter verschiedene Ziele, Werte und Handlungsmaßnahmen verbergen, die teils bestimmte Zielgruppen von Kindern implizit ansprechen und dennoch größeren Interpretationsspielraum aufweisen. Hier braucht es Klärung wer mit Inklusion wie gemeint und wie behandelt werden soll, um grundsätzlich die Bildungseinrichtung inklusiv zu gestalten. 

In der Betrachtung der Ergebnisse wird deutlich, dass der Umgang mit Diversität, Inklusion und Diskriminierung vor allem als Aufgabe pädagogischer Fachkräfte ausgewiesen wird. Dies erfordert einen Ausbau von demokratischen Strukturen innerhalb der Organisation, bei dem nicht nur pädagogische Fachkräfte, sondern die gesamte Organisation in die Verantwortung gezogen wird. Die vorgeschlagenen praxisnahen Rückschlüsse zielen darauf ab, die Qualitätssicherung und -weiterentwicklung in Kindertageseinrichtungen zu verbessern und Demokratiebildung als Struktur pädagogischer Einrichtungen sowie Recht von Kindern stärker zu verankern. Dabei ist eine systematische Auseinandersetzung mit Demokratiebildung und verschiedenen Zugängen wie Partizipation, Kinderrechten, Diversität, Diskriminierung und Inklusion unerlässlich. Es bedarf einer Verschiebung in der Qualitätsdebatte weg vom Effizienz-Paradigma hin zur Qualitätsentwicklung als Demokratisierungsstrategie in Inhalt und Form. So kann Demokratiebildung als Recht von Kindern in der pädagogischen Praxis umfassend realisiert werden und im Alltag als Erfahrungsform durch Qualitätsverfahren sowie in der pädagogischen Alltagspraxis gelebt werden.

Literaturverzeichnis

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Trần, Hoa Mai (2024): Demokratiebildung in Verfahren der Qualitätsentwicklung in Kitas: Eine Dokumentenanalyse. Zur Stellung von Partizipation, Kinderrechten, Diversität, Diskriminierungskritik und Inklusion in der kindheitspädagogischen Qualitätslandschaft. Fachstelle Kinderwelten/ISTA (Hrsg.). Unter Mitarbeit von Ayten, Nuran; Surmund, Judith; Mildt, Manuela. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich.

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Wolter, Berit (2021): Demokratiebildung im Bereich Kita in den Bildungsprogrammen der Bundesländer. Rechercheergebnisse. Unter Mitarbeit von Hannah Louisa Schmidt. Fachstelle Kinderwelten/ISTA (Hrsg.). Verfügbar unter: https://situationsansatz.de/wp-content/uploads/2021/11/Recherche_Demokratiebildung_Bundeslaender_Zusammenfassung.pdf [Zugriff: 12.03.2023].


[1] Es werden Grenzen und Limitationen des Vorgehens in der Auswahl der Dokumente deutlich sowie technische Probleme bei der Datenverarbeitung und die begrenzte Kontextsensibilität der automatisierten Schlagwort-suche betont.

Behinderung im Bilderbuch – eine Frage der Repräsentation

| Teresa Vielstädte |

Bilderbücher besitzen eine besondere Bedeutung für die kindlichen Bildungs-, Sozialisations- und Kulturalisierungsprozesse (vgl. Burghardt & Klenk 2016; Thiele 2012). Sie bieten Kindern die Möglichkeit mit gesellschaftlichen Lebensweisen, Normen und Werten in Kontakt zu kommen. Dadurch gewinnen sie erste Vorstellungen und Bilder über das Zusammenleben in der Gesellschaft, womit Bilderbücher die Prozesse der Identitätsfindung unterstützen. Dabei bilden Bücher immer auch gesellschaftliche Realitäten ab, sodass ihn ein besonderer Stellenwert in der Auseinandersetzung mit Lebensweisen und gesellschaftlichen Wert- und Normorientierungen zukommt. Trotz des Anspruchs der Repräsentation von vielfältigen Lebenswelten in Bilderbüchern wurde das Thema ‚Behinderung‘ lange Zeit ausgegrenzt (vgl. Reese 2010). In aktuellen Diskussionen findet sich die Forderung nach einer stärkeren Verknüpfung von Disability Studies und Kinderliteraturwissenschaft, um gesellschaftliche Vorstellungen über Behinderung, Abweichung und Normalität aufzudecken (vgl. Schäfer, Ullmann & Blümer 2012, 61)

Was will das Projekt? Was ist das Phänomen?

Das Thema ‚Behinderung‘ galt lange Zeit als Tabuthema in der Kinderliteratur. Erst seit den 2000er Jahren findet sich ein breiteres Darstellungsspektrum von Behinderung im Kinderbuch. In Kinderbüchern wird das Thema Behinderung aufgegriffen, in dem die verschiedenen Wahrnehmungen und Sichtweisen der als behindert und nicht-behindert geltenden Protagonist*innen dargestellt werden. Dadurch entfalten sich Konstruktionen von Behinderung sowie damit verbundene Vorstellungen von Verhaltens-, Kommunikationsmustern und Praktiken: Wie verhalten sich Menschen mit und ohne Behinderung (in Interaktion)? Wie kommunizieren diese miteinander? Welche Praktiken gelten im Umgang mit Behinderung als gesellschaftlich anerkannt und welche erscheinen als unvereinbar?

Unter Konstruktion von Behinderung kann die gesellschaftliche Bewertung einer Schädigung oder Behinderung verstanden werden. Die Normen, die der Zuschreibung von Behinderung zugrunde liegen, sind nach diesem Verständnis gesellschaftlich oder kulturell bestimmt. Da Normen, Urteile und Kategorien das Ergebnis kommunikativer und sozialer Praktiken sind, wird Behinderung als gesellschaftlich hervorgebracht angesehen (vgl. Kast 2017, 260f.).

Durch Versprachlichung und Bebilderung wird Behinderung erst hervorgebracht, womit diese entweder zur Festschreibung beitragen können oder sich dadurch auch die mit dieser Differenz verknüpften Diskriminierung und Stigmatisierung aufdecken lassen. Diese Überlegungen aufgreifend möchte ich im Rahmen des Blogbeitrags exemplarisch zeigen, wie Behinderung im Kinderbuch konstruiert wird. Welche Vorstellungen, möglicherweise auch Stereotype und Klischees werden wie inszeniert?

Wie bin ich vorgegangen?

Exemplarisch habe ich das Sachbilderbuch „Alle behindert“ ausgewählt, da es zu Beginn der Recherche für den Artikel (vgl. Vielstädte 2022) neu erschienen ist, woraufhin es in verschiedenen Blogformaten durchaus kontrovers diskutiert und rezensiert wurde (vgl. bspw. Kollodzieyski 2020.). Wenn dem Verständnis von Behinderung als Konstruktion gefolgt wird, erfordert eine Bilderbuchanalyse den Fokus auf die Darstellungsweise von Behinderung: Wie wird Behinderung kommunikativ und interaktiv in der Geschichte zum Thema gemacht? Wie wird Behinderung medial dargestellt? Die Fragestellung, wie Behinderung im Kinderbuch dargestellt, verhandelt und konstruiert wird ist sicherlich nicht ganz unproblematisch. Hierdurch wird an der Rekonstruktion der Kategorien Behinderung und Nichtbehinderung mitgewirkt.

Ich habe mich bei der Analyse an einem explorativen Vorgehen orientiert, welches sich grob an den Analysekategorien des fünfdimensionalen Modells der Bilderbuchanalyse nach Dammers/Krichel/Staiger (2022) orientiert. Dabei habe ich die unterschiedlichen im Buch präsentierten Portraits und damit verbundenen ‚Behinderungsbilder‘ vergleichend und kontrastierend in den Blick genommen.

Was ist das Ergebnis?

  Alle behindert wurde von Heinz Klein und Monika Ostberghaus geschrieben und ist als Sachbilderbuch[1] zu klassifizieren, da es auf 25 Doppelseiten „25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild“ erläutert (Klein & Ostberghaus 2019). Das Buch richtet sich an Kinder ab 5 Jahren. Im Mittelpunkt des Sachbilderbuchs steht eine alltags- und lebensweltliche Strukturierung[2] der Inhalte. Das Buch erinnert in seiner Aufmachung an ein ‚Freundebuch‘. Auch hier zeigt sich nun wieder der alltags- und lebensweltliche Anknüpfungspunkt zur Bearbeitung des Buchthemas Behinderung. Gemäß der sprachlichen Gestaltung eines ‚Freundebuches‘ werden einzelne Begriffe oder stichpunktartige kurze Sätze verwendet. Auf jeder Seite wird mittig eine andere Figur mithilfe einer großen Zeichnung vorgestellt, ringsum finden sich stichpunktartig Informationen zu den jeweiligen Figuren entlang immer gleicher Kategorien (ebd.): „Mag gerne“, „Mag weniger“, „Lieblingssatz“, „Behinderung“, „Spitz- oder Schimpfname“, „Wie oft kommt das vor“, „Geht das wieder weg“ (…).“

  Die Angaben werden teilweise durch kleine Comic-Zeichnungen ergänzt, die alltägliche Situationen der Figuren karikaturartig darstellen. Diese Kategorien sind bereits teilweise auf Behinderungen zugeschnitten. Jede Seite vermittelt das Bild einer fiktionalen Persönlichkeit, die Behinderungserfahrungen gemacht hat. Das Buch bleibt konsequent im Aufbau eines kollektiven „Wir“, indem es am Ende zu eigenen Eintragungen auffordert und klassische Definitionen von Behinderung in Frage stellt. Es fehlt ein zusammenhängender Handlungsstrang, da die Persönlichkeiten individuell präsentiert werden und nicht miteinander interagieren. Die farbenfrohen Illustrationen im Buch sind detailliert und ikonisch. Sie müssen oft zusammen mit dem Text betrachtet werden, um vollständig verstanden zu werden und unterstützen sich gegenseitig in der Charakterdarstellung.

  Die Definition von Behinderung in diesem Buch folgt nicht streng den bekannten Klassifikations- und Definitionsversuchen, wie z.B. in der Behindertenrechtskonvention oder nach ICD-10. Die zugeschriebenen Charaktereigenschaften der Figuren sind veränderbar (z.B. Julien „der Angeber“ oder Paul „der Mitläufer“), im Gegensatz zu langfristigen und gleichbleibenden Beeinträchtigungen, wie es die Behindertenrechtskonvention definiert. Anhand der Analyse zeigt sich, dass nach der im Buch verwendeten Definition von Behinderung keine lebenslange und strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderung explizit mitgedacht bzw. sichtbar gemacht werden.

  Auf den ersten Blick weckt das Buch den Eindruck, als würde es dem Defintionsversuch folgen, dass es nicht per se die Behinderung geben, denn hier werden nicht nur die ‚geläufigen‘ und ‚bekannten‘ Behinderungsbilder wie Trisomie 21, Autismus, Beeinträchtigung des Lernens, Sprechens, Sehens oder Hörens etc. aufgeführt, sondern zur Behinderung werden hier auch „Tussi“, „Mitläufer“, „Außenseiter“, „Dicksein“, „Bildschirmsucht“, „Rüpel“ etc. erklärt. Offenbar orientiert sich die Verwendung des Behinderungsbegriffs hier an Vorstellungen von etwas Negativem, was unerwünscht ist und einer Abweichung von Normalität entspricht (vgl. Dederich 2009, S. 15). Es stellt sich hier die grundsätzliche Frage, wie die Auswahl der Prototypen erfolgt ist. Es fällt auf, dass z.B. gewisse soziale Merkmale wie Armut oder bestimmte Lebenserfahrungen wie Gewalt oder Rassismus nicht als Beeinträchtigung eingestuft werden.

  Durch die fiktiven Vorstellungen einzelner Persönlichkeiten arbeitet das Buch vielmehr die individuellen Ausprägungen der Charaktere heraus. Die dargestellten Informationen repräsentieren rekurrentes Alltagswissen, in denen die subjektiven Kategorisierungslogiken und Normalisierungsvorstellungen auftreten. Auch wenn das Buch durch die Darstellung von Persönlichkeiten wie „dem Rüpel“, „dem Angeber“ und ähnliche versucht, an der Dekategorisierung der Behinderungsdefinition mitzuwirken, verstärkt es in der Darstellung gleichzeitig stereotype Vorstellungen und reproduziert Zuschreibungen. Gesellschaftliche Herausforderungen und Diskriminierungsformen, denen Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind bleiben in dem Buch unerwähnt.

   Das Bilderbuch provoziert jedoch durch seine ironische Darstellungsart, dass mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben werden: Wie kann beispielsweise im Bilderbuch Trisomie 21 dargestellt werden, ohne auf stereotype Bebilderungen zurückzugreifen? Warum erleben wir in der Betrachtung eines Buches mit dem Titel Alle behindert das Nebeneinanderstellen von einer „Tussi“ und einem Menschen mit Autismus als ‚No-Go‘? Warum erscheint das In-Verbindung-Setzen von einem „Angeber“ oder einem „Mitläufer“ mit einem Menschen mit Trisomie 21 in der Präsentation von ‚Behinderungserfahrungen‘ als Tabuzone? Warum kommt „Rüpel als Behinderung“ „immer öfter“ (Klein & Ostberghaus 2019, S. 18) vor? Was hat es mit dem Gen bei Trisomie 21 im Detail auf sich?

  In jedem Fall gelingt es dem Buch aufzuzeigen, wie schwer es ist, eine angemessene Sprache und Begriffsverwendung im Diskurs, um Behinderung zu finden. Dabei ist die Rede über Behinderung noch längst nicht barrierefrei (vgl. auch Oetken 2012). Für ein reflexives Inklusionsverständnis (Budde & Hummrich 2014) braucht es allerdings eine Differenzkategorie Behinderung, in der dem Phänomen eingeschriebene Benachteiligungen, Ausgrenzungsmechanismen, gesellschaftliches Wissen und daraus resultierende Effekte und Produkte auch in der Kinderliteratur und in dessen Rezeption erkennbar werden. Dabei stehen analytische Methoden vor der Herausforderung, statt zu einer Dekonstruktion von Differenzen vielmehr zu deren Rekonstruktion beizutragen.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Insgesamt bleibt das Buch hinter seinen Möglichkeiten zurück, was die kindliche Identitätsfindung sowie das Kennenlernen diverser Lebensweisen und Normorientierungen betrifft. Stattdessen beschränkt es sich in seiner Narration einseitig auf Behinderung als ‚individuellem Defekt‘ oder Normabweichung, wenngleich es sein Verdienst ist, einem breiten Lesepublikum einen niedrigschwelligen Zugang zum Thema durch seine ironisch-witzige Darstellungsweise zu verschaffen. Dabei erhalten Kinder und Erwachsene Einblicke in verbreitetes Alltagswissen und damit zusammenhängende gesellschaftliche Praktiken und Effekte. Dennoch bedarf es beim Einsatz des Buches in privaten Kontexten und pädagogischen Institutionen eines reflektierten Umgangs, der in einen Kommunikations- und Aneignungsprozess zwischen Erwachsenen und Kindern eingebettet ist. Dabei bieten das Buch allerdings einen lohnenden Anlass, um mit Kindern über die verwendeten stereotypen Darstellungen ins Gespräch zu kommen. Die abschließende Frage, ob die angeführten Kategorien mit ihren Eigenschaftsbeschreibungen zum Stigma für Menschen mit Behinderung werden oder nicht, können an erster Stelle nur Betroffene selbst, dann aber auch Rezipierende entscheiden. Dies im Blick zu behalten, gilt sicherlich als eine zentrale Herausforderung, die das Buch an seine Leser*innenschaft stellt.

Literaturverweise

Budde, J. & Hummrich, M. (2014): Reflexive Inklusion. Zeitschrift für Inklusion, 4. Online verfügbar unter: https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/193, Zugriff am 18.02.2020.

Burghardt, L. & Klenk, F. C. (2016): Geschlechterdarstellungen in Bilderbüchern. Eine empirische Analyse. GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 8 (3), 61–80.

Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD) (2020): Definition von Behinderung. Online verfügbar unter: https://www.behindertenrechtskonvention.info/definition-von-behinderung-3121/, Zugriff am 18.02.2020.

Dammers, B., Krichel, A. & Staiger, M. (2022): Das Bilderbuch. Theoretische Grundlagen und analytische Zugänge. Wiesbaden: Springer

Dederich, M. (2009): Behinderung als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie. In: M. Dederich & W. Jantzen (Hrsg.), Behinderung und Anerkennung (S. 15–39). Stuttgart: Kohlhammer.

Kastl, J.-M. (2017): Einführung in die Soziologie der Behinderung (2. Auflage). Wiesbaden: Springer.

Klein, H. & Ostberghaus, M. (2019): Alle behindert! 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild. Leipzig: Klett Kinderbuch Verlag.

Kollodzieyski, T. (2020): Kinderbuch „Alle behindert!“ Inklusion braucht Unterschiede. Online verfügbar unter: https://dieneuenorm.de/kultur/kinderbuch-alle-behindert/, Zugriff am 28.05.2021.

Oetken, M. (2012): b-b-b-barrierefrei? Inszenierungen von Behinderung im Bilderbuch. Kjl&m – Kinder-/Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek, 66 (3), 34–45.

Reese, I. (2010): Strickmuster und Stereotypen. Die Darstellung von Behinderung im Kinder- und Jugendbuch. JuLit, 1, 3–10.

Schäfer, I., Ullmann, A. & Blümann, A. (2012): Aktuelle Tendenzen zu Krankheit und Behinderung in Kinder- und Jugendliteratur und -medien. Kjl&m – Kinder-/Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek, 66 (3), 58–63.

Thiele, J. (2012): Das Bilderbuch. In: G. Lange (Hrsg.), Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Grundlagen, Gattungen, Medien, Lesesozialisation und Didaktik (S. 217–233). Baltmannsweiler: Schneider.

Wocken, H. (2015): Dekategorisierung. Eine Einladung zur kategorialen Bescheidenheit. Sozialpsychologische Grundlagen und inklusionspädagogische Konsequenzen. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 84 (2), 100–112.

Vielstädte, T. (2022): „Alle behindert!“ Zur Konstruktion von Behinderung im Kinderbuch. In: E. Schulze (Hrsg.), Diversität im Kinderbuch: Wie Vielfalt (nicht) vermittelt wird. (S. 88-102) Stuttgart: Kohlhammer.


[1]  Das Sachbilderbuch gehört in die Sparte des Bilderbuches und zeichnet sich besonders durch seine themenspezifische Veranschaulichung in Bild und Text und weniger durch einen fiktionalen Erzählstrang aus (Thiele 2012, S. 222). Das Sachbilderbuch ist als Rubrik Bilderbuch in das Kinderbuchgenre einzuordnen.

[2]  Eine weitere Option wäre an dieser Stelle entsprechend eines Sachbilderbuches der fachkundliche Ausgangspunkt.

Antisemitismus in der Kita? Einblicke in ein Forschungsprojekt zu Differenzkonstruktionen unter jungen Kindern

| Benjamin Rensch-Kruse, Saba-Nur Cheema & Yasmine Goldhorn |

Einleitung

Antisemitismus ist in Deutschland ein gesellschaftlich breit debattiertes und empirisch gut erforschtes Phänomen. Insbesondere in den letzten Jahren sind zahlreiche Studien und Beiträge entstanden, die Judenfeindschaft im Erziehungs- und Bildungssektor untersuchen bzw. problematisieren (vgl. exempl. Bernstein/Grimm/Müller 2022; Bernstein 2020; Grimm/Müller 2020). Im Bereich der frühen Kindheit wurde Antisemitismus als Forschungsgegenstand bisher jedoch schlichtweg ausgespart. Während unlängst pädagogisch-programmatische Arbeiten erschienen sind, die Antisemitismus in Kindertagesstätten thematisieren und die Notwendigkeit einer frühestmöglichen Prävention diskutieren (vgl. Kölsch-Bunzen 2023, 2022), existieren in Bezug auf die Frage, wie und inwiefern Antisemitismen in der frühen Kindheit eine Rolle spielen, noch keine empirischen Erkenntnisse. Hier klafft eine beachtliche Forschungslücke (vgl. Rensch-Kruse et al. 2023).

Dies ist aus zweierlei Gründen erstaunlich: Einerseits gilt die frühe Kindheit als basale Lebensphase für spätere Entwicklungen, in der erzieherische Einwirkungen als richtungsweisend betrachtet werden (vgl. exempl. Fried et al. 2003, S. 7 f.). Andererseits kann diskriminierenden bzw. Differenz herstellenden Verhaltensweisen in pädagogischen Verhältnissen nur dann frühzeitig begegnet werden, wenn sie als solche erkannt und verstanden werden. Hierzu bedarf es der Forschung, d.h. der Beobachtung, Beschreibung, Interpretation und Kritik der vorhandenen (pädagogischen) Diskurse und Praktiken sowie der Einschätzung ihrer Effekte (vgl. Diehm/Radtke 1999, S. 14). Ohne grundlegende Forschung in Einrichtungen der frühen Kindheit gibt es mit Blick auf Antisemitismusprävention praktisch keine Anhaltspunkte, an die pädagogisches Handeln anschließen könnte.

Das an der Goethe-Universität Frankfurt angesiedelte und unter der Leitung von Isabell Diehm († 2023) begonnene Teilprojekt ‚Antisemitismus unter jungen Kindern. Differenzkonstruktionen im Vor- und Grundschulalter (Relcodiff_ungesteuert)‘[1] stößt in die genannte Forschungslücke vor und untersucht antisemitische Differenzierungspraktiken unter jungen Kindern in Kindertagesstätten (Kita). Der folgende Beitrag gibt temporäre Einblicke in das Forschungsprojekt und präsentiert kursorisch erste Felderkenntnisse.

Vorgeschichte

Das Anliegen, Antisemitismus unter jungen Kindern zu untersuchen, hat eine längere Vorgeschichte. Isabell Diehm hat in ihrer umfassenden Forschung zu Differenzkonstruktionen im Kontext der frühen Kindheit immer wieder festgestellt, dass das Thema ‚Antisemitismus‘ weder in der sozialwissenschaftlichen noch in der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung vorkommt. Aus dieser ersten Feststellung sind über einen längeren Zeitraum das Interesse und der Wunsch erwachsen, eingehender der Frage nachzugehen, wie Antisemitismen im elementarpädagogischen Bereich zu erforschen wären und inwieweit Judenfeindschaft dort überhaupt vorkommt. Genauer gefragt: Inwiefern eignen sich Kinder antisemitische Haltungen und Anschauungen an und wie gebrauchen sie diese in ihrem Alltag?

Diese Frage hat Isabell Diehm nicht losgelassen und ihr empirisch beizukommen war ihr eine Herzensangelegenheit. Auf der Grundlage ihrer Beobachtungen, ihres Engagements und ihrer Initiative ist schließlich u.a. das hier zur Präsentation stehende Teilprojekt hervorgegangen, in dem wir mit Isabell Diehm bis zuletzt geforscht haben und in dem wir nun in ihrem Andenken weiterforschen.

Was will das Projekt/ Was ist das Phänomen?

Im Mittelpunkt der Forschung stehen (antisemitische) Differenzkonstruktionen unter Kindern in der Kita und die Frage, inwiefern sie auf judenfeindliche Unterscheidungsweisen Bezug nehmen, wie sie diese (re)produzieren und in alltäglichen Interaktionen anwenden. Von Interesse sind damit kindliche (diskursive) Praktiken des Differenzierens, die auf eine „antisemitische Semantik“ (Holz/Haury 2021, S. 21) hin untersucht werden. Antisemitismus[2] erfüllt eine das Wissen ordnende und damit die Wahrnehmung der Welt strukturierende Funktion. Antisemitische Wissensordnungen[3] beeinflussen, wie wir die Welt sehen, d.h. wie wir denken, sprechen und handeln.

Antisemitismus als Differenzkonstruktion zeigt sich wandelbar und die Frage, wie antisemitische Wissensordnungen unter jungen Kindern verhandelt und angewandt werden, kann insofern nur kontextabhängig und situationsspezifisch rekonstruiert werden (vgl. Rensch-Kruse et al. 2023). Da sich aufgeführte Praktiken des Unterscheidens i.d.R. nicht auf eine bestimmte Differenzkategorie beschränken lassen, sondern mehrere Differenzkonstruktionen im Spiel sind, wird der Fokus nicht ausschließlich auf antisemitische Unterscheidungsweisen gerichtet. Stattdessen wird ein offener Ansatz verfolgt, der von einer grundsätzlichen Wechselwirkung bzw. Intersektionalität im Kontext von Differenzkonstruktionen unter jungen Kindern ausgeht (vgl. Bak/Machold 2022).

Kurz gesagt: Es werden zwar ausdrücklich antisemitische Wissensordnungen und ihre Aufführung in (diskursiven) Praktiken in den Blick genommen, aber auch weitere Konstruktionen, die bspw. rassialisierende, religionsbegründete, kulturelle und nationale Unterscheidungen betreffen, können vom Datenmaterial ausgehend Gegenstand der Untersuchung sein.

Wie sind wir vorgegangen?

Um Zugang zu möglichen (antisemitischen) Praktiken des Differenzierens in Kitas[4] zu bekommen, haben wir uns für ein ethnographisches Vorgehen entschieden, das sich im Kitakontext bereits als fruchtbare Herangehensweise erwiesen hat (vgl. exempl. Machold 2015; Kuhn 2013). Dabei greifen wir auf Arbeiten der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung zurück, die wichtige Erkenntnisse für die Erforschung antisemitischer Unterscheidungspraktiken bereitstellen (vgl. Rensch-Kruse et al. 2023). Neben teilnehmenden Beobachtungen veranstalten wir videogestützte Gruppengespräche[5] mit Kindern zwischen vier und acht Jahren. Darüber hinaus führen wir leitfadengestützte Interviews mit pädagogischen Fachkräften, Kitaleitungen und Eltern.[6] Während uns die teilnehmenden Beobachtungen und Gruppengespräche Einblicke in interaktive kindliche Verhaltens- und Sprechweisen geben, ermöglichen uns die Interviews kontrastive Eindrücke in Erwachsenensichtweisen. Von der so herbeigeführten Möglichkeit, kindliche Praktiken des Differenzierens mit Erwachsenenperspektiven in Relation zu setzten, versprechen wir uns aufschlussreiche Erkenntnisse über die Art und Weise der Wahrnehmung und Zirkulation antisemitischer Wissensordnungen im jeweiligen Kitakontext.

Im Gegensatz zu den Erwachseneninterviews, wird das Thema Judenfeindschaft im Kontext der teilnehmenden Beobachtungen und Gruppengespräche von unserer Seite nicht explizit gemacht. Im Kontakt mit den Kindern kommen Kinderbücher, Bilder und Handpuppen zum Einsatz, die religiöse Symbole, wie bspw. eine Synagoge, einen Davidsstern oder eine Kippa zeigen bzw. tragen. In den Gruppengesprächen werden die Kinder zunächst aufgefordert zu beschreiben, was sie sehen. Erst auf dieser Grundlage werden sodann Gespräche initiiert. Mit diesem Vorgehen soll einerseits erreicht werden, dass Aussagen und Handlungen nicht durch eine direkte Konfrontation mit dem Forschungsthema hervorgelockt werden, sondern dass es vielmehr den Kindern überlassen bleibt, welche Assoziationen die präsentierten Materialien bei ihnen hervorrufen. Andererseits soll damit berücksichtigt werden, dass eine zu starke thematische Setzung eine Reifizierung von Differenz begünstigt (vgl. Diehm/Kuhn/Machold 2010).

Wird Judenfeindschaft offensiv thematisiert, so kann das bedeuten, die Kinder aus einer Erwachsenenperspektive mit etwas zu konfrontieren, dass sie selbst noch gar nicht kennen bzw. dessen Bedeutung ihnen noch gar nicht bewusst ist. Es geht uns darum, antisemitischen Differenzkonstruktionen unter Kindern nachzuspüren und dabei zu reflektieren, dass dieses Nachspüren-Wollen selbst Differenz(ierung)en hervorbringt. Die Arbeit mit den genannten Materialien bietet eine Möglichkeit, von den Vorstellungen der Kinder ausgehend den Forscher:innenblick auf entsprechende Unterscheidungen zu richten.

Was sind bisherige Ergebnisse?

Eine erste Durchsicht der leitfadengestützten Interviews fördert zutage, dass pädagogische Fachkräfte, Kitaleitungen und Eltern das Thema ‚Antisemitismus‘ prinzipiell nicht im Kitakontext verorten und entsprechend auch nicht über judenfeindliche Vorkommnisse in der Kita berichten. Neben Aussagen, die darauf hinweisen, dass Antisemitismus unter jungen Kindern kaum bis gar nicht vorstellbar ist („Kinder grenzen noch nicht so aus; Kinder sind eher offen“) bzw. schlichtweg nicht vorkommt („Gar nicht. Also, da habe ich nichts von gehört“; „Ist überhaupt kein Thema hier“; „Ne, fällt mir jetzt direkt nicht ein“) lassen sich Bemerkungen finden, die die Abwesenheit judenfeindlicher Vorkommnisse an das vermeintlich fehlende Vorhandensein jüdischer Kinder knüpfen („Jüdische Kinder haben wir glaube ich gar nicht“).

Dabei fällt auf, dass viele der Interviewten nicht sicher sagen können, ob es überhaupt jüdische Kinder in der jeweiligen Einrichtung gibt. Hier lässt sich Unsichtbarkeit auf Seiten der Kinder und Unsicherheit auf Seiten der Erwachsenen feststellen. Während die Vorstellung, dass Antisemitismus in der Kita aufgrund des jungen Alters der Kinder nicht vorkäme, auf den Topos des ‚unschuldigen Kindes‘ (vgl. Bühler-Niederberger 2005) verweist, kann die gängige Praktik, Judenfeindschaft an jüdische Präsenz zu binden, auf fehlendes Wissen über Antisemitismus zurückgeführt werden.[7] Ohne an dieser Stelle genauer auf die Ergebnisse eingehen zu können, kann in Bezug auf die Frage, wie Antisemitismus im Kitakontext von Seiten der Erwachsenen thematisiert wird, von einer ‚Dethematisierung‘ gesprochen werden. Die überwiegende Zahl der Interviewten geht davon aus, dass Kinder weder über antisemitisches Wissen verfügen, noch dass Judenfeindschaft in der Kita vorkommt.

Dies steht in einem eklatanten Widerspruch zu den Erkenntnissen, die wir während der teilnehmenden Beobachtungen und Gruppengespräche unter den Kindern gemacht haben. So hat sich gezeigt, dass bereits junge Kinder Jüdinnen und Juden als solche identifizieren und in einzelnen Fällen mit Begriffen beschreiben, die antisemitischen Wissensordnungen entstammen. In der Auseinandersetzung mit den Kinderbüchern, Bildern und Handpuppen sind Jüdinnen und Juden von manchen Kindern als ‚reich‘, ‚wohlhabend‘ und ‚böse‘ adressiert worden. Auch phänotypische Merkmale, wie bspw. die Zuschreibung einer ‚großen Nase‘, wurden benannt.

Dabei ist es wichtig hervorzuheben, dass die Kinder die von ihnen getätigten Aussagen i.d.R. nicht begründen können und offenbar nur über wenig bis gar kein Kontextwissen verfügen. So inkonsistent und unvermittelt, wie die Aussagen kommen, so sprunghaft und aus dem Zusammenhang gerissen erscheint die Argumentation. Einen siebenjährigen Jungen gefragt, woher er wisse, dass Jüdinnen und Juden „ekelhaft“ und „gefährlich“ seien, gibt uns dieser zur Antwort: „ich weiß es selbst einfach. Ich hab nur nachgedacht“. Junge Kinder verfügen noch nicht über ein gefestigtes weltanschauliches Repertoire, auf das sie bewusst zurückgreifen. Sie sprechen aus, was ihnen in den Sinn kommt, was ihnen in der jeweiligen Situation nutzt, womit sie Aufmerksamkeit erregen und zeigen können, was sie wissen. Obgleich sie die Herkunft und Bedeutung einer getätigten Aussage nicht immer erklären können, verstehen sie doch sehr gut, dass ihr Handeln etwas bewirkt.

Was kann das für die pädagogische Praxis bedeuten?

Das vorgestellte Forschungsprojekt untersucht Antisemitismus in Einrichtungen der frühen Kindheit und stößt damit in eine sowohl in der Antisemitismusforschung als auch der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung klaffende Forschungslücke vor. Die bisherigen empirischen Erkenntnisse verweisen auf eine Dethematisierung von Antisemitismus im Kitakontext, die in deutlichem Widerspruch zu den im Feld beobachteten kindlichen Praktiken des Unterscheidens stehen. Antisemitische Wissensordnungen werden von Kindern in der Kita (re)produziert und angewandt. Mit Blick auf die pädagogische Praxis stellen sich u.E. damit folgende Fragen:

  • Inwiefern handelt es sich bzgl. der genannten Dethematisierung um ein strukturelles Problem, das auf fehlende Professionalisierungsformate und institutionelle Mechanismen zurückzuführen ist? Nur wenn über das individuelle Engagement einzelner Pädagog:innen hinaus auch auf institutioneller Ebene durchdringt, dass Judenfeindschaft bereits in der frühen Kindheit virulent ist, können weitreichende Maßnahmen ergriffen werden, die Antisemitismusprävention in Einrichtungen der frühen Kindheit fördern.
  • Wie lässt sich mit antisemitischen Differenzierungspraktiken unter jungen Kindern adäquat umgehen, wenn sie die inhaltliche Tragweite ihres Handelns noch nicht begreifen? Genauer gefragt: Wie kann mit jungen Kindern über Antisemitismus auf eine Weise gesprochen werden, die (be)schützt, erklärtund wenn nötig auch deutliche Grenzen aufzeigt?

Mit unserem Forschungsprojekt hoffen wir nicht zuletzt dazu beizutragen, dass diese und weitere Fragen Eingang in die pädagogische Praxis finden.

Literatur

Bak, R., Machold, C. (2022): Kindheit und Kindheitsforschung intersektional denken. Eine Suchbewegung. In: R. Bak & C. Machold (Hrsg.): Kindheit und Kindheitsforschung intersektional denken. Theoretische, empirische und praktische Zugänge im Kontext von Bildung und Erziehung. Wiesbaden: Springer VS, S. 1-19.

Bernstein, J. (2020): Antisemitismus an Schulen in Deutschland: Befunde – Analysen – Handlungsoptionen. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Bernstein, J., Grimm, M., Müller, S. (Hrsg.) (2022): Schule als Spiegel der Gesellschaft. Antisemitismen erkennen und handeln. Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag.

Bühler-Niederberger, D. (Hrsg.) (2005): Macht der Unschuld: Das Kind als Chiffre. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Diehm, I., Kuhn, M., Machold, C. (2010): Die Schwierigkeit, ethnische Differenz durch Forschung nicht zu reifizieren – Ethnographie im Kindergarten. In: A. Panagiotopoulou & F. Heinzel (Hrsg.): Qualitative Bildungsforschung im Elementar- und Primarbereich. Bedingungen und Kontexte kindlicher Lern- und Entwicklungsprozesse. Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 78-92.

Diehm, I., Radtke, F.-O. (1999): Erziehung und Migration. Eine Einführung. Stuttgart. Kohlhammer.

Fried, L., Dippelhofer-Stiem, B., Honig, M.-S., Liegle, L. (2003): Einleitung. In: L. Fried, B. Dippelhofer-Stiem, M.-S. Honig & L. Liegle (Hrsg.): Einführung in die Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim, Basel & Berlin: Beltz, S. 7-13.

Grimm, M., Müller, S. (Hrsg.) (2020): Bildung gegen Antisemitismus. Spannungsfelder der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag.

Holz, K., Haury, T. (2021): Antisemitismus gegen Israel. Hamburg: Hamburger Edition.

Kölsch-Bunzen, N. (2023): Kindertageseinrichtungen gegen Antisemitismus. Aus guten Geschichten lernen. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Kölsch-Bunzen, N. (2022): Gut aufgestellt gegen Antisemitismus? Die Förderung von Antisemitismusprävention in Kindertagesstätten und Schulen durch Kinderbibeln, Kinderkorane und Schulbücher. Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Kuhn, M. (2013): Professionalität im Kindergarten. Eine ethnographische Studie zur Elementarpädagogik in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS.

Lendvai, P (1972): Antisemitismus ohne Juden. Entwicklungen und Tendenzen in Osteuropa. Wien. Europaverlag.

Machold, C. (2015): Kinder und Differenz. Eine ethnografische Studie im elementarpädagogischen Kontext. Wiesbaden: Springer VS.

Rensch-Kruse, B., Cheema, S.-N., Goldhorn, Y., Diehm, I. (2023): Antisemitismus unter jungen Kindern. Forschungsgrundlagen und -reflexionen im Kontext einer Differenzforschung in Einrichtungen der frühen Kindheit. In: E. Ilgün-Birhimeoğlu & S. Bostancı (Hrsg.): Elementarpädagogik in der Migrationsgesellschaft. Theoretische und empirische Zugänge zu einer rassismuskritischen Pädagogik. Weinheim & Basel: Beltz Juventa. i.E.

Reckwitz, A. (2012): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.


[1] Das Teilprojekt ist eines von drei Teilprojekten des vom BMBF geförderten Verbundprojekts ‚Antisemitismus in pädagogischen Kontexten. Religiös codierte Differenzkonstruktionen in der frühen und mittleren Kindheit (RelcoDiff)‘. Genauere Infos unter www.relcodiff.uni-frankfurt.de

[2] Ohne den Begriff und seine unterschiedlichen Definitionen und Ausprägungen an dieser Stelle eingehend diskutieren zu können, verstehen wir unter ‚Antisemitismus‘ eine Sammelbezeichnung für Diskurse und Praktiken, die als ‚Juden‘ bzw. ‚jüdisch‘ wahrgenommene Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen aufgrund eines mit bestimmten negativen Eigenschaften festgeschriebenen ‚jüdisch-Seins‘ abwerten und/oder anfeinden.

[3] ‚Wissensordnungen‘ werden im Anschluss an Andreas Reckwitz (2012, S. 146) als kollektive „Sinnmuster“ verstanden, die „das ‚Verstehen‘ der Umwelt und Welt anleiten“.

[4] Wir forschen in insgesamt vier Kindertagesstätten einer deutschen Großstadt.

[5] Wir sprechen bewusst nicht von Gruppendiskussionen, weil unter den Kindern zumeist kein wechselseitiger Austausch von Argumenten über ein bestimmtes Thema stattfindet, sondern ein offener mitunter sprunghafter Gedankenaustausch, in den die Forscher:innen nolens volens involviert sind, und der durch (Nach-)Fragen, Erklärungen, Behauptungen, inhaltliche Abschweifungen und kindliche Impulsivität gekennzeichnet ist.

[6] Bisher haben wir 19 Interviews geführt.

[7] Paul Lendvai (1972) hat bereits Anfang der 1970er Jahre auf das Phänomen eines „Antisemitismus ohne Juden“ aufmerksam gemacht.

„Ich spüre, dass diese Beobachtung eigene biografische Erlebnisse hervorruft…“ (Auto)Ethnografische Reflexionspotenziale am Beispiel neu-materialistischer Kindheitsforschung zu Akteur:innenschaft und Partizipation

| Jan-Niclas Peeters |

Einleitung

Verbunden mit dem Anliegen einer Exploration frühpädagogischer Felder konstatiert Neumann (2013) bereits vor einem Jahrzehnt einen Bedeutungszuwachs ethnografischer Zugänge innerhalb der Kindheitsforschung. Konstitutives Merkmal der Ethnografie ist das (teilnehmende) Forschen am ‚Ort des Geschehens‘, ebenjenen sogenannten Feldern. Frühpädagogische Felder wie Kindertageseinrichtungen werden in den entsprechenden Studien zunehmend aber nicht nur als Ort der Forschung, sondern zugleich als deren Gegenstand definiert (exemplarisch Göbel, 2018). Die von Neumann (2013) einst aufgeworfene Frage, „[w]enn ethnografische Forschung im Feld der Frühpädagogik beobachtet, macht sie es dann auch zum Gegenstand?“ (S.12; Herv. i. Orig.), behält jedoch ihre Relevanz. Denn ungeachtet einer Betrachtung des Feldes ‚Kindertageseinrichtung‘ als Gegenstand impliziert dies die weitergehende Frage: Inwiefern macht sie es dann auch zum Gegenstand?

Bailey (2020) folgend zeigt sich das Feld eng mit sozialen (z.B. durch Interaktionen) bzw. materiellen Praktiken (z.B. durch die Nutzung von Gegenständen) verwoben. Mit dem Entstehen von Praktiken im Feld als Ort gestaltet sich dieses zugleich und wird somit veränderlich hervorgebracht. Damit scheint ein Verständnis vom Feld als ausschließlicher Ort von Forschung also auch dann verkürzt, wenn ein scheinbar feldunabhängiges Gegenstandsinteresse vorausgesetzt wird. Vielmehr tritt das jeweilige Feld als Gegenstand immer schon dadurch in Erscheinung, da es eben nicht nur als Produzentin, sondern zugleich als Produkt sozialer bzw. materieller Praktiken verstanden werden kann. Fokussiert man auf die an den Praktiken beteiligten Akteur:innen, so muss explizit auch die Rolle von Forschenden in den Blick genommen werden – auch sie bewegen sich im Feld.

Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Beitrag im Spezifischen für die Konstitution des Feldes Kindertageseinrichtung durch die (eigene) Rolle als Forscher:in sensibilisieren. Zwar hat Clifford Geertz bereits um 1970 im Rahmen der sogenannten Krise der ethnografischen Repräsentation auf die Involviertheit von Forschenden in der ethnografischen Wissensproduktion aufmerksam gemacht (Gottowik, 1997). Doch gleichwohl dies inzwischen als ethnografisches Selbstverständnis bezeichnet werden kann, beschreibt Anderson (2006) die anhaltende „tendency to downplay or obscure the researcher as a social actor in the settings or groups“ (p. 376). Anstelle dieses Herunterspielens und Verschleierns des Einflusses von Forschenden als Akteur:innen lässt sich vielmehr vergegenwärtigen, dass das von Forscher:innen hervorgebrachte Wissen „is situated by what they ‚see‘ in the field, which in turn is situated by what they ‚look‘ for and/or are given ‚access‘ to“ (Bailey, 2020, p. 734). Das Bewusstsein um ein durch Zugang und eigener Perspektive selektives Wissen gewinnt gerade auch dann an Bedeutung, wenn verschiedentlich Befremdungsstrategien in der Hinwendung zum ‚Eigenen‘ unter dem Aspekt einer Objektivierung diskutiert werden (exemplarisch Kuhn & Neumann, 2015). Damit verdichten sich die bisherigen Darlegungen in der für diesen Beitrag zentralen Frage: Inwiefern und mit welchen Implikationen sind Forschende als Akteur:innen in die Konstitution des Feldes involviert?

Was will das Projekt/ Was ist das Phänomen?

Entlang der thematischen Fokussierung des seit 2021 laufenden Dissertationsprojekts „Partizipation als un-bestimmtes Phänomen“[1] hat sich beim Forschenden eine zunehmende Sensibilisierung für das Thema von Involviertheit eingestellt. Zuvorderst ursächlich hierfür ist der inhaltliche Rekurs auf das um 1980 im Kontext der New Social Childhood Studies (NSCS)entstandene und bis heute wirkmächtige Paradigma von Kindern als kompetente Akteur:innen (Mierendorff, 2018). Dieses Paradigma verleiht sich im Rahmen frühpädagogischer Theorie und Praxis deutlich im Partizipationsbegriff Ausdruck und misst Involviertheit damit zentrale Bedeutung bei (König, 2021). Kritisch blickt das Dissertationsprojekt dabei auf eine entlang der NSCS aufgerufenen Heuristik, die als eine Art vereinfachter Denkansatz selbstreferenziell die romantisierende Vorstellung eines a priori kompetenten Kindes (re-)produziert. Durch eine derart vorgefasste Annahme kann übersehen werden, inwiefern und durch wen oder was die im Partizipationsbegriff verankerte Involviertheit als Akteur:in in situ hervorgebracht wird (Balzer & Huf, 2019). Weiterhin berücksichtigt werden empirische Befunde, die überdies bereits eine in Bezug auf Partizipation häufig vorzufindende Engführung auf formalisierte Verfahren wie Kinderparlamente oder Abstimmungsverfahren kritisieren (Höke, 2016;  Neumann et al., 2019). Somit wird insgesamt eine vorgefasste Fokussierung auf ‚das kompetente Kind‘ sowie ein vermeintliches Wissen über spezifische Partizipationskontexte kritisch hinterfragt. In diesem Zusammenhang verschreibt sich das Dissertationsprojekt der Forderung einer Dezentrierung des Kindes innerhalb der Kindheitsforschung (Spyrou, 2018) und perspektiviert dies auf der Grundlage posthumanistischer Theorieangebote des sogenannten Neuen Materialismus. Unter Rückgriff auf die wohl prominenteste Vertreterin des Neuen Materialismus, Karen Barad (2007), wird Partizipation demnach als zunächst unbestimmtes Phänomen verstanden, das erst im Rahmen sogenannter Intra-aktionen materiell-diskursiver Praktiken partielle Bestimmtheit erlangt. Im Gegensatz zur Interaktion sind Akteur:innen im Rahmen der Intra-Aktionen nicht prädeterminiert; wer oder was als Subjekt bzw. Objekt involviert wird, (re-)konstituiert sich also erst im Geschehen selbst (Garske, 2014). Hinsichtlich der Frage nach Akteur:innenschaft und Involviertheit wird damit einerseits eine anthropozentrische Ontologie, die den Menschen in den Mittelpunkt des Seins stellt und die Umwelt vernachlässigt, grundlegend in Frage gestellt. Anerkannt wird stattdessen eine Lebendigkeit der ‚Dinge‘ (Tesar & Arndt, 2016), die in der Verbindung mit Kindern, aber auch für sich genommen, einen Subjektstatus einnehmen können. Die sich darin widerspiegelnde posthumanistische[2] Grundannahme einer aktiven ‚Welt‘, bei der Grenzen zwischen humanen und nicht-humanen Entitäten wie Menschen und Dingen fluide erscheinen, hat andererseits relevante Konsequenzen auf die einleitend gestellte zentrale Frage, inwiefern und mit welchen Implikationen auch Forschende selbst als Akteur:innen in die Konstitution des Feldes involviert sind. Barad (2007) folgend können Forschende nicht als neutrale Instanz einer vermeintlich objektiv zugänglichen und außerhalbliegenden Welt verstanden werden. Im Gegenteil: sie sind selbst Teil der Welt, die sie beforschen und somit aktiv an der Hervorbringung dieser bzw. das ‚Wissen‘ über sie beteiligt. Ontologische Fragestellungen, die die Frage nach dem ‚Seienden‘ stellen, sowie epistemologische Fragestellungen, die sich mit dem Aspekt der diesbezüglichen Wissensproduktion befassen, sind in diesem Sinne untrennbar miteinander verwoben. Forschende sind dabei nicht nur gefordert, die Art und Weise, wie sie in die Wissensproduktion involviert sind, permanent zu reflektieren. Vielmehr geht es in diesem Verständnis um eine produktive Wendung, bei der die eigene Involviertheit ebenso einer analytischen Betrachtung unterliegt.

Wie bin ich vorgegangen?

Als methodologische[3] ‚Antwort‘ auf die zur Involviertheit skizzierten Implikationen wurde sich der sogenannten Analytischen (Auto)Ethnografie (AAE) nach Anderson (2006) angeschlossen. Die Umsetzung fordert die Berücksichtigung fünf sogenannter „key features“ (p. 378) ein: Grundvoraussetzung ist (1) die Akzeptanz, dass Forscher:innen selbst Teil des von ihnen beforschten Feldes sind. Eine Fokussierung auf die eigene Person sowie das übrige Geschehen ist daher im gesamten Forschungsprozess angezeigt. Beidem möglichst gerecht zu werden, kann aber nur dann gelingen, wenn (2) eine analytische Reflexivität eingenommen wird, vor deren Hintergrund die (eigenen) komplexen Verstrickungen im Beobachtungsprozess sowie die daraus resultierenden Forschungsdaten betrachtet werden. Ein solches Bewusstsein allein reicht allerdings nicht aus. Vielmehr bedarf es (3) einer Sichtbarkeit von Forschenden in den zugehörigen Dokumenten. Im Rahmen des Dissertationsprojektes werden daher auch Beobachtungen, die auf den Forschenden rekurrieren, in Form von Feldnotizen, dichten Beschreibungen sowie der Berichtlegung analytisch aufgenommen und expliziert. Entgegen einer Überbetonung der eigenen Person gilt dabei (4) der Anspruch, das Feld in seiner Gesamtheit nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn auch wenn Forschende involviert sind, sind sie eben nur ein Teil des Feldes. Eine (5) Verpflichtung zu einer analytischen Agenda soll schließlich sicherstellen, dass diese Balance auch vor dem Hintergrund der Forschungsfrage gewahrt bleibt und die so gewonnen Forschungsdaten zielorientiert analysiert werden können.

Zur konkreten Veranschaulichung dieser Perspektive wird exemplarisch eine kurze Beobachtungssequenz aus einer Kindertageseinrichtung präsentiert, die im Rahmen einer ersten Feldphase (August-Oktober 2022) in Anlehnung an Anderson (2006) qua teilnehmender Beobachtung erhoben sowie mit Blick auf die unter Punkt (5) benannte analytische Agenda im Zusammenspiel mit der konstruktivistischen Grounded Theory nach Charmaz (2014) analysiert wurde.

Was ist das Ergebnis?

Die nachfolgende Sequenz hat sich während einer Freispielphase im Außenbereich der Kindertageseinrichtung zugetragen. Der Forschende richtet seine Aufmerksamkeit auf sechs beieinanderstehende sowie ein leicht abseitsstehendes Kind und versucht, die Bedeutung der beobachteten Positionierungen der Kinder zu ergründen.

Ich denke darüber nach, dass mir Marius schon häufiger in einer eher abseitigen Position aufgefallen ist, wenngleich er sich immer wieder aktiv in etwaige (Gruppen)Geschehen einzubringen versucht. Ich spüre, dass diese Beobachtung eigene biografische Erlebnisse hervorruft und sich eine Art Solidarisierungsempfinden gegenüber Marius einstellt. Ich schaue Marius genauer an. Sein Blick ist in Richtung der anderen Kinder gerichtet, die einen Kreis bilden, der in Richtung Marius leicht geöffnet ist. Erst in diesem direkten Vergleich fällt mir auf, dass alle unmittelbar im Kreis befindlichen Kinder einen Stock in der Hand halten, während Marius selbst keinen Stock in der Hand hält.

Mit der gedanklichen Fokussierung auf die abseitige Position von Marius wird dieser nicht nur im lokalen Geschehen, sondern auch im analytischen Zugriff durch den Forschenden separiert von jeweils unterschiedlichen Kindergruppen verortet. Dies kann insofern als eine zweifache Exklusivität beschrieben werden, als sich hier einerseits eine Ausgrenzung von Marius gegenüber den „anderen Kinder[n]“ manifestiert, Marius jedoch andererseits zugleich eine besondere Aufmerksamkeit des Forschenden zu Teil wird. Der Ursprung dieser Aufmerksamkeit hängt augenscheinlich mit der retrospektiven Einordnung der Kind(er)positionierungen zusammen. Dass der Forschende die gegenüber anderen Kindern separierte Positionierung von Marius bereits „häufiger“ wahrgenommen hat, verweist dabei auf ein iteratives, also sich wiederholendes Geschehen, das sich unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen auch dann einzustellen scheint, wenn Marius sich aktiv gegen die separierende Positionierung wendet und um Partizipation bemüht. Die dichte Beschreibung offenbart, dass der Forschende die Beobachtungen um Marius mit eigenen biografischen Erlebnissen verknüpft. Zwar werden die Evokationen im Sinne eines bewussten Hervorrufens von Erinnerungen mit Ausnahme des Solidarisierungsaspektes nicht weiter expliziert, doch lässt allein ihr bewusstes Aufkommen und die nachhaltige Materialisierung im Rahmen der dichten Beschreibung eine besondere Bedeutung des Geschehens für den Forschenden annehmen. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus plausibel, dass die Aufmerksamkeit für die Positionierung von Marius und den mithin involvierten Kindern in dieser sowie in den erinnerten Situationen ursprünglich nicht allein in den Beobachtungen vor Ort liegt. Weitergehend scheint sie auch in der spezifischen Biografie des Forschenden begründet zu sein. Die einleitend benannte Konstitution des Feldes kann demnach nicht nur allgemein mit der Involviertheit des Forschenden in situ gefasst werden. Konkreter erweitert sich das Feld in seiner vermeintlich räumlich-zeitlichen Begrenzung auf die (Beobachtung in der) Kita um die (zurückliegende) Lebenswelt des Forschenden. Gegenstandsbezogen führt die daraus resultierende Aufmerksamkeit für das Geschehen schließlich zu einer konzentrierten und vergleichenden Betrachtung der beschriebenen Kind(er)positionierungen. Bei dieser rückt über die Kinder hinaus auch ein Besitz von Stöcken in den Fokus. Die dadurch wahrgenommenen materiellen Bezugnahmen, ließen sich sich im weiteren Verlauf des Forschungsprojektes immer wieder beobachten. Mit Blick auf das Forschungsinteresse konnten sie schließlich zu der vorläufigen Kategorie einer „Partizipation durch (nicht-)humane Verschränkungen“ verdichtet werden.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Mit der AAE wurde sich um die von Anderson (2006) postulierte Anerkennung von Forschenden als involvierte Akteur:innen in der Konstitution des Feldes bemüht. Die exemplarisch dargestellte biografisch begründete Fokussierung des Forschenden veranschaulicht, dass das, was wir beobachten, eng mit der betrachtenden Person in Verbindung steht (Bailey, 2020). Allgemeiner formuliert lässt sich somit nicht nur für die Forschung, sondern auch für die pädagogische Praxis bzw. die in ihr tätigen Fachkräfte für eine reflexive Anerkennung der eigenen Involviertheit plädieren. Am dargestellten Beispiel kann zwar kritisch angemerkt werden, dass die Beobachtung um die Stöcke und die damit thematisierte Dezentrierung des Kindes (Spyrou, 2018) im Sinne einer „Partizipation durch (nicht-)humane Verschränkungen“ etwaig auch ohne eine Auseinandersetzung mit der Fokussierung auf die eigene Person entstanden wäre. Doch gerade diese Auseinandersetzung hält Antworten auf weitergehende Fragen zum eingangs aufgerufenen Aspekt, inwiefern und mit welchen Implikationen Forschende als Akteur:innen das Feld konstituieren, bereit: Wen oder was (und warum) nehme ich insbesondere wahr? Wer oder was (und warum) gerät weniger bzw. gar nicht in meinen Blick? Welche Perspektivveränderungen kann ich vornehmen und zulassen? Kurzum: Es geht um ebenjene produktive Wendung einer immer schon subjektiven Involviertheit als (forschende:r) Akteur:in in die Konstitution des Feldes.

Zwei abschließende Gedanken zu Limitationen und Weiterentwicklung:

  • Auch wenn sich in der geforderten Reflexivität der AAE gerade nicht der Anspruch einer vermeintlichen Objektivierung ausdrückt, wird Reflexivität nicht selten damit verbunden. Dies aufgreifend schlägt Barad (2007) stattdessen den Begriff der Diffraktion vor und konzeptualisiert ihn im Sinne der AAE als eine bewusste Anerkennung der jeweils unterschiedlichen Involviertheit. So gewendet wird das Ziel einer Authentizität – statt Objektivität – des Wissens über die pädagogische Praxis ggf. unmissverständlicher zum Ausdruck gebracht.
  • Trotz aller Reflexion/ Diffraktion werden blinde Flecken verbleiben. Die kurze Sequenz zeigt, dass dies auch dann gelten kann, wenn die eigene Involviertheit (an)erkannt wird. So hat der Forschende nur andeutungsweise auf eigene Ausgrenzungserfahrungen rekurriert. Die fehlende Explikation verweist auf die herausfordernde Frage, was Forschende selbst von sich preisgeben wollen. Relativierend hat das Beispiel jedoch gezeigt, dass sich der produktive Einfluss bereits bei einer geringen Preisgabe ergeben kann.

Relevant erscheint vor diesem Hintergrund vor allem eine Haltung, bei der die eigene subjektive Involviertheit überhaupt anerkannt und ernstgenommen wird.

Literatur

Anderson, L. (2006). Analytic Autoethnography. Journal of Contemporary Ethnography, 35 (4), 373-395. https://doi.org/10.1177/0891241605280449

Bailey, S. (2020). Ethnography. In D. Cook (Hrsg.), The sage encyclopedia of children and      childhood studies (S. 734-735). London: SAGE Publications.

Balzer, N., Huf, C. (2019). Kindheitsforschung und ›Neuer Materialismus‹. In J. Drerup & G.     Schweiger (Hrsg.), Handbuch Philosophie der Kindheit (S. 50-58). Stuttgart: J.B. Metzler.

Barad, K. (2007). Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham: Duke University Press.

Charmaz, K. (2014). Constructing Grounded Theory. London: Sage.

Garske, P. (2014). What’s the „matter“? Der Materialitätsbegriff des „New Materialism“ und dessen Konsequenzen für feministisch-politische Handlungsfähigkeit. Prokla 44 (174). https://www.prokla.de/index.php/PROKLA/issue/view/17

Göbel, S. (2018). Alltagspraktiken in Kindertageseinrichtungen. Wiesbaden: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22916-0

Gottowick, V. (1997). Konstruktionen des Anderen. Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Repräsentation. Berlin: Dietrich Reimer.

Höke, J. (2016). Als Gruppensprecher muss man schwindelfrei sein. Kinderperspektiven auf formale Partizipationsstrukturen in der Kita. ZSE Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 36 (3), 298-313.

König, A. (2021). Kinderrechte. Historische Ansatzpunkte und aktuelle Diskurse. Eine pädagogische Reflexion. In Pestalozzi-Fröbel-Verband (Hrsg.), Wir haben Rechte! Ein Blick auf Kinderrechte, Partizipation und Demokratie in der Kita (S. 9-15). Weimar: Verlag das Netz.

Kuhn, M., Neumann, S. (2015). Verstehen und Befremden. Objektivierungen des ‚Anderen‘ in     der ethnographischen Forschung. ZQF (1), 25-42.                https://doi.org/10.3224/zqf.v16i1.22852

Mierendorff, J. (2018). Kindheitsforschung. In K. Böllert (Hrsg.), Kompendium Kinder- und      Jugendhilfe (S. 1453–1475). Springer Fachmedien Wiesbaden.

Neumann, S. (2013). Unter Beobachtung. Ethnografische Forschung im frühpädagogischen    Feld. ZSE – Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 33 (1), 10-25.

Neumann, S., Kuhn, M., Hekel, N., Brandenberg, K. & Tinguely, L. (2019). Der institutionelle Sinn der Partizipation. Befunde einer ethnografischen Studie in schweizerischen Kindertageseinrichtungen. In A. Sieber Egger, G. Unterweger, M. Jäger, M. Kuhn & J. Hangartner (Hrsg.), Kindheit(en) in formalen, nonformalen und informellen Bildungskontexten. Ethnografische Beiträge aus der Schweiz (S. 321-342). Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23238-2_16

Spyrou, S. (2018). Disclosing Childhoods. Research and Knowledge Production for a            Critical            Childhood Studies. London: Palgrave Macmillan.

Tesar, M. & Arndt, S. (2016). Vibrancy of Childhood Things. Cultural Studies ↔ Critical             Methodologies, 16(2), 193-200. https://doi.org/10.1177/1532708616636144


[1] Vollständiger Titel des Dissertationsprojekt: „Partizipation als un-bestimmtes Phänomen“ –(Auto)Ethnografische Befunde zur Re-Konstitution von Akteur:innenschaft durch materiell-diskursive Intra-aktionen“

[2] Posthumanistische Perspektiven bemühen sich um eine Überwindung traditioneller Vorstellungen von Menschlichkeit und sensibilisieren für eine Fluidität vermeintlicher Grenzen zwischen menschlichen und nicht menschlichen Elementen.

[3] Der Begriff Methodologie bezieht sich auf die systematische Vorgehensweise und die Grundsätze, die bei der Durchführung von wissenschaftlichen oder analytischen Untersuchungen verwendet werden.

Sprach(en)bewusste Pädagogik in Kindertageseinrichtungen unter Berücksichtigung geflüchteter Kinder aus der Ukraine

| Elisa Tessmer |

Einleitung

Das Thema der alltagsintegrierten Sprach(en)bildung in Kindertageseinrichtungen hat in den letzten fünfzehn Jahren einen bedeutenden Relevanzzuwachs erfahren. Dieser zeigt sich unter anderem durch hohe Investitionen aus der Politik sowie einem höheren Stellenwert in den Bildungs- und Orientierungsplänen, die eine Grundlage für die pädagogische Arbeit schaffen. Die spezifischen Bedürfnisse geflüchteter Kinder sind seit 2015 zunehmend in die Diskussion eingeflossen. Durch die aktuelle Zuwanderung ukrainischer Geflüchteter müssen die damit einhergehenden spezifischen Bedürfnisse der Kinder sowie die Anforderungen für die pädagogische Arbeit neu gedacht werden. Dabei stehen die professionellen Ansprüche aktuell in einem Spannungsfeld zu den ohnehin schon angespannten Arbeitsbedingungen, die insbesondere durch einen hohen Fachkräftemangel bei zugleich steigenden Erwartungen an die pädagogischen Fachkräfte bestimmt sind.

Das Phänomen: Monolingualer Habitus als bestehendes Element pädagogischer Haltungen

Eine Fokussierung des Erwerbs sowie der Kompetenzerweiterung der deutschen Sprache ist innerhalb des Kita- und Schulsystems nach wie vor vorzufinden. Gogolin (2008) und Dirim (1998) kritisieren diese Sichtweise, die im Kontext der Kindertageseinrichtungen insbesondere durch das Konzept der Schulfähigkeit getragen wird, mit der Bezeichnung des ‚monilingualen Habitus‘. Dem gegenüber steht die Perspektive, eine vorhandene Mehrsprachigkeit als besondere Ressource wahrzunehmen und zu unterstützen (vgl. u. a. Fleckenstein et al. 2017, S. 97ff.; Roth 2006, S. 11ff.).

Seit Kriegsbeginn befinden sich über 20 Millionen ukrainische Menschen auf der Flucht, von denen im Jahr 2022 über eine Millionen Zugänge in Deutschland registriert wurden (vgl. destatis 2023). Die Anzahl ukrainisch geflüchteter Kinder in Kindertageseinrichtungen ist nicht systematisch erhoben. Der Anteil der Säuglinge und Kleinkinder ist jedoch verhältnismäßig hoch und nach der Zuweisung zu einer Kommune besteht ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ein Rechtsanspruch auf Betreuung (vgl. Deutscher Bildungsserver 2022), sodass hieraus ein hoher Bedarf abgeleitet werden kann. Dieser Effekt verstärkt die ohnehin bestehende Heterogenität im Kitaalltag. Der prozentuale Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund lag in den Kindertageseinrichtungen vor Kriegsbeginn bereits bei knapp 30 % (vgl. bpb 2021). An dieser Stelle sei explizit darauf hingewiesen, dass zwischen einem Migrationshintergrund und einem sprachlichen Förderbedarf kein kausaler Zusammenhang hergestellt werden darf. Insbesondere Kinder mit nur einem ausländischen Elternteil, die multilingual erzogen werden, können von dem Beherrschen mehrerer Sprachen profitieren und daher äußerst sprachbegabt sein. Der Anteil der Kinder, die im Elternhaus kein Deutsch sprechen, nimmt jedoch zu und bei diesen Kindern ist häufig von einem besonderen sprachlichen Unterstützungsbedarf auszugehen, da die Sprachkontakte zur deutschen Sprache bis zum Eintritt in die Kindertageseinrichtung in diesem Fall als gering einzuschätzen sind.

Die damit verbundenen steigenden Anforderungen an Fachkräfte treffen auf zunehmende qualitative Forderungen an die pädagogische Arbeit sowie einen kontinuierlich steigenden Fachkräftemangel. Dieser ist im Feld der Elementarpädagogik im Wesentlichen bestimmt durch eine sukzessive Ausweitung des Rechtsanspruches auf frühkindliche Betreuung, steigenden Geburtenraten in den letzten Jahren und eine Ausweitung der Ganztagsbetreuung auch im Bereich der Primarstufe (vgl. u.a. Bock-Famulla et al. 2020, S. 7ff.).

Wie wurde das Phänomen untersucht?

Im Rahmen eines Dissertationsprojektes wurden pädagogische Fachkräfte mithilfe eines Fragebogens sowie anhand von Gruppendiskussionen zum Thema der alltagsintegrierten Sprach(en)bildung befragt. Die Erhebung mittels Fragebogen fand im Jahr 2016 statt. Hierzu wurden Fragebögen in Printform an niedersächsische Kindertageseinrichtungen verteilt. Die Kontaktaufnahme erfolgte per E-Mail sowie über den Kontakt von Supervisorinnen. Insgesamt beteiligten sich 345 pädagogische Fachkräfte aus 90 Kindertageseinrichtungen. Die Rücklaufquote lag damit bei 44,8 %. Von den teilnehmenden Einrichtungen beteiligten sich wiederum neun Kindertagesstätten im Anschluss an Gruppendiskussionen, in denen insgesamt 50 pädagogische Fachkräfte involviert waren. Des Weiteren stellten pädagogische Fachkräfte aus drei Einrichtungen Videoaufnahmen zur Verfügung, die von ihnen für Supervisionszwecke angefertigt wurden (vgl. Tessmer 2021, S. 167ff.).

In den 90 befragten Einrichtungen wurden insgesamt 7.769 Kinder betreut. Zur damaligen Zeit waren hierunter 2,45% geflüchtete Kinder inkludiert. Es zeigte sich jedoch zwischen den Einrichtungen eine hohe Varianz – gut ein Drittel der Einrichtungen betreute zum Erhebungszeitpunkt keine Kinder mit Fluchterfahrung, einzelne Einrichtungen wiesen hingegen einen hohen Anteil an Kindern mit Fluchterfahrung auf. Bei den Kindern mit Migrationshintergrund ohne eigener Fluchterfahrung konnten Russisch (23,3%), Polnisch (14,9%) und Türkisch (14,0%) als meist gesprochene Erstsprachen konstatiert werden. Insgesamt wurden 31 unterschiedliche Erstsprachen aufgeführt, bei den Kindern mit Fluchterfahrung wurden 18 verschiedene Herkunftssprachen genannt (vgl. ebd. S. 173f.). Dieses Sample veranschaulicht damit beispielhaft den großen Sprachreichtum, der in Bildungsinstitutionen existiert und als Ressource genutzt werden kann.

Wie sind die Ergebnisse?

Obgleich einige Fachkräfte die Mehrsprachigkeit der Kinder positiv bewerten und teilweise explizit in den Alltag einbeziehen, existieren auch Ressentiments der pädagogischen Fachkräfte gegenüber des Gebrauchs anderer Erstsprachen als der deutschen Sprache, die insbesondere innerhalb durchgeführter Gruppeninterviews deutlich werden. Hierbei zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Erstsprachen, die zum Teil mit dem Konzept des Sprachprestige (vgl. u.a. Haarmann 1990) zu erklären sind. So wird beispielsweise ein Junge mit thailändischer Erstsprache als sehr motiviert beschrieben und die Schnelligkeit des Spracherwerbs der deutschen Sprache positiv hervorgehoben. Die geflüchteten Kinder werden von den pädagogischen Fachkräften innerhalb mehrerer Gruppeninterviews als sehr bemüht dargestellt, die deutsche Sprache zu erlernen und ihnen wird ein Verständnis für Verständigungsprobleme entgegengebracht. In der Kommunikation mit den Eltern wird dabei auf Übersetzungstools oder Ähnliches zurückgegriffen. Demnach greift das Konzept des Sprachprestige als Erklärungsmodell für die Haltungen der pädagogischen Fachkräfte an dieser Stelle nicht. In Studien zum Sprachprestige einzelner Sprachen konnte gezeigt werden, dass Sprachen wie Russisch, Arabisch und Türkisch als ‚eher unsympathisch‘ empfunden werden, im Vergleich zu Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch als ‚eher sympathische‘ Sprachen (vgl. Adler/Silveira 2021, S. 4). In den Gruppeninterviews waren hingegen vor allem die Kinder mit russischer oder polnischer Erstsprache mit Ressentiments konfrontiert. Mehrere Fachkräfte vermuten, dass die russische oder polnische Sprache von den Kindern bewusst verwendet wird, um beispielsweise Schimpfwörter zu äußern. Dieses Argument dient dabei teilweise auch für das Erteilen von Verboten, sich in anderen Erstsprachen als der deutschen Sprache zu unterhalten. Die negative Sichtweise begründet sich daraus, dass die Kinder in der deutschen Sprache ebenfalls über ausreichende Sprachkompetenzen verfügen, sodass sie sich in beiden Sprachen verständigen können. Dass das Code-Switching – also der Wechsel zwischen den unterschiedlichen Sprachen – jedoch ein normales Sprechverhalten bei mehrsprachigen Sprecher:innen darstellt und zum Teil unbewusst oder adressaten- bzw. themenorientiert erfolgt (vgl. u.a. Müller 2017), wird von den pädagogischen Fachkräften nicht gesehen. Das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen wären weitere pädagogische Argumente dafür, Kindertageseinrichtungen als mehrsprachigen Sprachraum zu gestalten, die insbesondere bei Kindern mit Fluchterfahrung von besonderer Bedeutung sind. Die Kinder werden damit zudem in ihrer Lebenswelt und mit ihren Erfahrungen ernstgenommen, was gleichzeitig positive Effekte auf die Beziehungsgestaltung haben kann.

Was kann das für die Praxis in Kindertageseinrichtungen bedeuten?

In mehreren Untersuchungen (vgl. u.a. Müller-Using/Speidel 2015; Wertfein/Wirts/Wildgruber 2015; Fried 2013) konnte gezeigt werden, dass sprachunterstützende Situationen, wie das Sustained Shared Thinking, innerhalb des pädagogischen Alltags verhältnismäßig selten vorkommen. Hierbei wird ein problemlösendes Denken und Weiterentwickeln forciert, welches von einer intensiven dialogischen Interaktion geprägt ist (vgl. Siraj-Blatchford et al. 2010, S. 21ff.). Die Interaktionen im pädagogischen Alltag sind hingegen häufig beeinflusst von Unterbrechungen sowie Störungen. Diese Tatsache wurde ebenfalls im Rahmen der Gruppeninterviews innerhalb des Dissertationsprojektes angeführt (vgl. Tessmer 2021, S. 206ff.). Ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, feste Bezugspersonen sowie möglichst störungsfreie Interaktionen sind Rahmenbedingungen, die bei geflüchteten Kindern von besonderer Relevanz sind. Für jene Formen bedarf es jedoch gleichwohl Rahmenbedingungen, die ein intensives Einlassen auf einzelne Kinder ermöglichen. Die aktuellen Rahmenbedingungen unter dem Einfluss des Fachkräftemangels machen es für pädagogische Fachkräfte immer schwieriger, jene unterstützenden Verhaltensweisen zu gestalten.

Die Datenerhebung innerhalb des Dissertationsvorhabens fand vor dem Ukrainekrieg statt. Hier zeigten sich deutliche Unterschiede in der Haltung der pädagogischen Fachkräfte zwischen geflüchteten Kindern und russisch oder polnischsprachigen Kindern. Daher kann keine valide Aussage darüber getroffen werden, inwieweit sich die Einstellungen der Fachkräfte diesbezüglich geändert haben. Dies betrifft vor allem die Vorbehalte gegenüber des Gebrauchs anderer Erstsprachen als der deutschen Sprache im pädagogischen Alltag. Vorhandene Sprachfähigkeiten der Kinder, die neben dem Deutschen auch Russisch, Polnisch oder Ukrainisch darstellen, könnten nun als besondere Ressource wahrgenommen werden. Die Kinder könnten gerade zur Anfangszeit, als Übersetzer:innen fungieren. Hierbei sind jedoch weitere pädagogische Aspekte zu berücksichtigen. Hierunter zählen insbesondere die Verantwortung, die den Kindern damit zugemutet wird, aber auch gruppendynamische Fragen von Inklusion und Exklusion. Zugleich könnte der Aspekt des Sicherheitsgefühls für die geflüchteten Kinder, welches durch den Gebrauch der Herkunftssprachen unterstützt werden kann, stärker ins Bewusstsein der pädagogischen Fachkräfte geraten. Ein weiterer Aspekt, der sich insbesondere innerhalb der Gruppeninterviews gezeigt hat, bildet die Homogenisierung der ‚Gruppe geflüchteter Kinder‘. Es zeigte sich beispielsweise, dass die pädagogischen Fachkräfte teilweise nicht genau differenzieren konnten, welche Herkunftssprachen die geflüchteten Kinder sprechen. Diese homogene Betrachtungsweise differenziert sich durch die zunehmende Anzahl geflüchteter ukrainischer Kinder vermutlich zumindest zu einer Dualität. Inwieweit die damit verbundene steigende Heterogenität innerhalb der geflüchteten Kinder zu einer grundsätzlich differenzierteren Wahrnehmung der pädagogischen Fachkräfte beiträgt, könnte ebenfalls in weiteren Untersuchungen erforscht werden. Ein weiteres Forschungsdesiderat entsteht in dem Spannungsfeld von zunehmender Zuwanderung und einem steigenden Fachkräftemangel. Kinder, die ohne (oder mit sehr geringen) Kenntnissen in der deutschen Sprache in eine Einrichtung aufgenommen werden, benötigen eine besondere Aufmerksamkeit seitens der pädagogischen Fachkräfte. Bei geflüchteten Kindern ist dies aufgrund der Erfahrungen vor und während der Flucht in besonderem Maße relevant, gleichzeitig machen die Entwicklungen des Feldes – bedingt durch den stetig steigenden Fachkräftemangel – es für die pädagogischen Fachkräfte immer schwerer, diesen individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden.

Literatur

Adler, A.; Silveira M. R. (2021): Einstellungen zu Sprachen und mehrsprachigen Kindergärten. Sprache in Zahlen. Folge 5. In: Sprachreport Jg. 37 (2021) Nr. 4, S. 4-9.

Bock-Famulla, K./Münchow, A./Frings, J./Kempf, F./Schülz, J. (2020): Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2019. Transparenz schaffen – Governance stärken. Gütersloh.

Bundeszentrale für politische Bildung (2021): Datenreport 2021. Kinder mit Migrationshintergrund in Kindertagesbetreuung. Online verfügbar unter: https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/familie-lebensformen-und-kinder/329586/kinder-mit-migrationshintergrund-in-kindertagesbetreuung/ [29.04.2023].

Deutscher Bildungsserver (2022): Flüchtlingskinder in Kitas. Online verfügbar unter: https://www.bildungsserver.de/fluechtlingskinder-in-kitas-11436-de.html [29.04.2023].

Dirim, İ. (1998): «Var mɪ lan Marmelade?». Türkisch-deutscher Sprachkontakt in einer
Grundschulklasse. Münster: Waxmann Verlag.

Fleckenstein, J.; Möller, J.; Baumert J. (2017): Mehrsprachigkeit als Ressource. Kompetenzen dual-immersiv unterrichteter Schülerinnen und Schüler in der Drittsprache Englisch. In: ZfE (2018) 21: Wiesbaden: Springer Fachmedien. Seite 97–120.

Fried, L. 2013: Die Qualität der Interaktionen zwischen frühpädagogischen Fachkräften und Kindern – Ausprägungen, Moderatorvariablen und Wirkungen am Beispiel DO_RESI. In: Fröhlich-Gildhoff, K./Nentwig-Gesemann, I./König, A./Stenger, U./Weltzien, D. (Hrsg.). Forschung in der Frühpädagogik VI. Schwerpunkt: Interaktion zwischen Fachkräften und Kindern. Materialien zur Frühpädagogik. Freiburg: FEL Verlag. Seite 35-58.

Gogolin, I. (2008): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. 2. Auflage. Münster: Waxmann Verlag. Seite 78-105.

Haarmann, H. (1990): Sprache und Prestige. Sprachtheoretische Parameter zur Formalisierung einer zentralen Beziehung. Zeitschrift für romanische Philologie Band  106, Heft 1/2.

Müller, N. (2017). Code-Switching. Tübingen: Narr Francke Attempto

Müller-Using, S./Speidel, H. (2015): Gesprochene Sprache von ErzieherInnen. Erste Ergebnisse zum Sprach-Alltag in Kindertageseinrichtungen. In: Hoffmann, H./Borg-Tiburcy, K./Kubandt, M./Meyer, S./Nolte, D. (Hrsg.). Alltagspraxen in der Kindertageseinrichtung. Annäherungen an Logiken in einem expandierenden Feld. Weinheim, Basel: Beltz Juventa Verlag. Seite 203-229.

Roth, H.-J. (2006): Mehrsprachigkeit als Ressource und als Bildungsziel. In: Günther,
Hartmut/Bredel, Ursula/Becker-Mrotzek, Michael (Hrsg.). KoeBes Kölner Beiträge zur
Sprachdidaktik, Heft 4. Köln: Gilles & Francke, Seite 11-14.

Siraj-Blatchford, I./Sylva, K./Taggart, B./Melhuis, E./Sammons, P. (2010): Das Projekt „The Effective Provision of Pre-School Education”. Wirksame Bildungsangebote im Vorschulbereich – EPPE. In: Sylva, K./Taggart, B. (Hrsg.). Frühe Bildung zählt. Das Effective Pre-School ans Primary Education Projekt (EPPE) und das Sure Start Programm. Berlin: Dohrmann Verlag. Seite 15-27.

Tessmer, E. (2021): Sprachendidaktik in der Frühpädagogik. Eine Analyse alltagsintegrierter Sprachenbildung unter Berücksichtigung institutioneller Rahmenbedingungen. Opladen, Berlin & Toronto: Budrich Academic Press.

Wertfein, M./Wirts, C./Wildgruber, A. (2015): Bedingungsfaktoren für gelingende Interaktionen zwischen Erzieherinnen und Kindern. Ausgewählte Ergebnisse der BIKE-Studie. IFP-Projektbericht 27/2015. Handlungsfeld: (Weiter-)Entwicklung von Curricula. Online verfügbar unter: www.ifp.bayern.de [07.05.2019].

Interaktion in frühpädagogischen Einrichtungen als Choreografie von Inklusion und Exklusion

| Laura von Albedyhll |

Was will das Projekt/Was ist das Phänomen?

Die frühpädagogische Praxis ist geprägt von Interaktionen: Kinder, pädagogische Fachkräfte, Erziehungsberechtigte und Trägerverantwortliche sind nur einzelne Akteur:innen, die in verschiedenen Situationen miteinander interagieren. Dabei wird hier „Interaktionen als konkrete unmittelbare Begegnungen zwischen zwei (oder mehreren) Menschen verstanden (…), welche direkt beobachtbar sind.“ (Weltzien, Fröhlich-Gildhoff, Wadepohl & Mackowiak, 2016, S.7). Interaktion in frühpädagogischen Settings wird im wissenschaftlichen Kontext häufig unter einen normativen Fokus gesetzt: Was ist „gute“ Interaktionsgestaltung? Wie kann in Interaktion Bildung maximal gefördert werden? Spezifischer spielt Interaktion bei zentralen frühpädagogischen Konzepten wie beispielsweise Sustained-Shared-Thinking (Siraj-Blatchford, 2009) eine Rolle. Die Frage der Qualität solcher Interaktionen ist von so großer Bedeutung, dass mindestens ein standardisiertes Tool zu ihrer Messung entwickelt wurde (CLASS, vgl. Weltzien et.al., 2016), auf das in Forschungskontexten zurückgegriffen wird.

Das vorgestellte Projekt geht einen Schritt zurück. Statt unter normativem Blick Gelingensbedingungen von Fachkraft-Kind-Interaktionen zu untersuchen, wird der Blick auf das gerichtet, was tatsächlich stattfindet. In der Rekonstruktion der Handlungen aller Akteur:innen einer Kleingruppe soll eine Theorie der Interaktion in der Frühpädagogik entwickelt werden, die über die Frage der guten Praxis hinaus geht. Vielmehr wird danach gefragt, wie die an der Interaktion beteiligten Akteur:innen wechselseitig das Interaktionsgeschehen beeinflussen und welche Verhältnisse der Akteur:innen untereinander sichtbar werden. Dabei ist es auch das Ziel, den Blick für Akteur:innen zu weiten, die nicht-menschlich sind. Die Relevanz der Dinge in frühpädagogischen Einrichtungen ist kein neuer Blickwinkel (Cloos, Bensel, Haug-Schnabel, Wadepohl & Weltzien, 2018, S. 13). Dinge rahmen zum einen Interaktionsgeschehen, zum anderen interagieren wir mit und an ihnen. Sie begrenzen Handlungsräume, können uns auffordern oder Normen transportieren. An Dinge können bestimmte Regeln für den Umgang mit ihnen geknüpft sein, durch die Rückschlüsse möglich sind auf Machtverhältnisse in den Räumen, für die die Regeln gelten. So ist beispielsweise die Kreide im schulischen Kontext ein Ding, mit dem vorrangig lehrende Personen agieren oder Personen, die von lehrenden Personen geprüft werden. Sie transportiert in diesem Setting die Rolle der zeigenden Person.  Zu jedem Zeitpunkt sind wir umgeben von Dingen, in deren Gebrauch wir hineinsozialisiert wurden, mit denen wir Ideen verbinden, an die wir Handlungsroutinen knüpfen, mit denen wir in Interaktion treten (Stieve, 2008). Die Fachkraft-Kind-Interaktion in der Frühpädagogik zu betrachten heißt also auch, die Dinge zu betrachten, die mit den Akteur:innen gemeinsam die Situation gestalten.

Wie sind wir vorgegangen?

Um sog. „Fachkraft-Kind-Ding-Interaktionen“ in frühpädagogischen Einrichtungen zu untersuchen, wurden Videografien des frühpädagogischen Alltags genutzt. Das Datenmaterial wurde im Projekt „SpriKIDS – Sprachförderung im Kindergartenalltag in Dialekt und Standardsprache im Kontext von Mehrsprachigkeit“ (https://www.sprikids.org/) aufgenommen und stammt aus Einrichtungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. SpriKIDS ist ein von Interreg finanziertes Forschungsprojekt der PH Weingarten, PH St. Gallen, SHLR, PH Graubünden und PH Vorarlberg unter der Leitung von Prof. Dr. Cordula Löffler, Prof. Dr. Franziska Vogt und Dr. Eva Frick, das von 2016 bis 2019 Kinder am Übergang vom Kindergarten zur Grundschule begleitete. Neben der Sprachförderung der Kinder im Kita-Alltag, waren auch der Schriftspracherwerb oder die Einstellung der pädagogischen Fachkräfte zum Dialekt leitende Fragestellungen.
Während der Aufnahmen war die Kamera beweglich, um der pädagogischen Fachkraft in der Einrichtung zu folgen. Daraus ergibt sich, dass die Aufnahmen einen starken Fachkraftfokus aufweisen, Kinderhandeln untereinander oder ohne Beteiligung der Fachkraft höchstens am Rand sichtbar wird. Das videografische Material wurde zunächst transkribiert. Diese Kombinationstranskripte aus klassischen und Grafiktranskripten sind schematisch angelegt und erlauben einen strukturierten Vergleich unterschiedlicher Interaktionsverläufe. Sie machen besonders deutlich, wann Personen und Dinge von Aktant:innen zu Akteur:innen werden, sich bestehenden Handlungsnetzwerken anschließen oder daraus zurückziehen. Ohne den Rückgriff auf ebenfalls vorhandene Transkripte sprachlicher Äußerungen, ist es der analysierenden Person so leichter möglich, sich von thematischen Bezügen zu lösen und lediglich auf das Handlungsnetzwerk der beobachteten Personen zu fokussieren.

Konkret wurde für die Analyse der Videos im Kleinen die Mikroethnografie (Herrle, 2020), für das Entwickeln von Zusammenhängen innerhalb einer Sequenz, aber auch über Sequenzen hinweg, die Grounded Theory Method (im Folgenden GTM) (Dietrich & Mey, 2018) verwendet. Die Situationen wurden zunächst mit mikroethnografischen Methoden aufgebrochen und sequenziert. So wurde die Schwierigkeit bearbeitet, dass die GTM keine dezidierten Vorgaben für den Umgang mit Videomaterial macht und im Zuge dessen die Komplexität des Datenmaterials für eine strukturierte Analyse nicht hinreichend reduziert wird. Anders gesagt: Interaktion als komplexes Geschehen nicht nur beobachtend zu beschreiben, sondern darüber hinaus ausgehend von ihren kleinsten Einheiten (bspw. Blickrichtung, deiktische Gesten[1]) Bedeutung zu rekonstruieren, muss strukturiert, nachvollziehbar und transparent erfolgen.

Was ist das Ergebnis?

Das folgende Auswertungsbeispiel verdeutlicht, wie sich das Handlungsnetzwerk der Akteur:innen in einer Interaktion entwickelt. Der gewählte Ausschnitt umfasst 17 Sekunden einer Situation des frühpädagogischen Alltags. In der vorgestellten Sequenz sitzt die pädagogische Fachkraft an einem Tisch direkt neben einem Bereich unter einem Podest. Der höhlenartige Bereich hat eine relativ niedrige Decke, was den Zugang für erwachsene Personen erschwert. Die vergleichsweise dunkle Fläche – eine Lampe wird auf dem Video nicht sichtbar – beinhaltet die Nachbildung eines Herds aus Holz in niedriger Höhe. Räumlich dem Herd zugeordnet sind kleine Nachbildungen von Geschirr und Nahrungsmitteln aus Holz und Plastik. Darüber hinaus holen die Kinder, die in diesem Raum handeln, immer wieder Puppen in den Videoausschnitt.

Die Abgrenzung des Bereichs vom Rest des Raums wird einerseits verstärkt durch einen Holzpfosten, der das Podest stützt, andererseits durch den Teppich, der mit dem Rand des Podests abschließt. Gleichzeitig steht der Tisch vor diesem Posten und kontrastiert stark mit der Dingvielfalt im kindlichen Handlungsbereich: Der niedrige Tisch ist leer und wird nur punktuell mit unterschiedlichen Dingen gefüllt. Der Tisch wird zum Grenzraum zwischen dem kindlichen Spielraum und dem restlichen Gruppenraum, mit einer Fachkraft die in ihrer Positionierung wie eine Wächterin der Grenze wirkt. Immer wieder wird die Fachkraft von den im Spielbereich tätigen Kindern angesprochen, bewegt sich aber selbst nie in den Raum unter dem Podest. Ob es bei den Prozessen des Herstellens von Innen und Außen um die Bereiche Kind-Fachkraft, definierter Spielraum – multifunktioneller Gruppenraum oder Kleingruppe – Gesamtgruppe geht, bleibt offen.

Mit der Begrenzung auf ein Grafiktranskript wird die verbale Ebene ausgeblendet, um sich in der Analyse nur auf die Handlungsnetzwerke (Albedyhll, 2021) fokussieren zu können. Dabei sind Kreise Kinder (K1 – K4), das Dreieck ist die Fachkraft (FK) und Rechtecke sind Dinge. Punktlinien zeigen Blickrichtungen, Strichlinien verbale Äußerungen und Volllinien raumgreifende Handlungen. Dabei werden Netzwerke sichtbar: Die Akteur:innen sind mit einander über ihre Handlungen verbunden oder grenzen sich durch das Fehlen derartiger Handlungsbeziehungen voneinander ab. So sind sie eingebunden in Netzwerke, die sie selbst generieren. Durch Pfeile wird die Gerichtetheit der Handlungen sichtbar, sofern sie nicht wechselseitig oder eindeutig ist. In der konkreten Situation hat ein Kind (K1) im Bereich unter dem Podest eine Puppe gefunden. Sie macht Geräusche, die ein Baby imitieren sollen und reagiert auf Lagewechsel oder das Einführen einer Flasche in ihren Mund. K1 bringt die Puppe zur Fachkraft (FK), die feststellt, dass die Puppe vielleicht neue Batterien benötigt. Während FK die Puppe aufschraubt, beteiligen sich wechselnde Kinder an der Situation.

Im dargestellten Verlauf kommt K4 aus dem Spielraum und hält einen Rock um seine Hüfte. Er würde rutschen, wenn K4 ihn nicht festhielte. K4 tritt zur Puppen-Tisch-Situation, ohne sich verbal zu äußern (Abbildung 1). Ihr Blick bleibt auf dem Rock, während sie von K1 und FK angesprochen wird. Der Versuch sowohl von K1 als auch von FK, K4 hier zu einer Selbst-Inklusion in das Netzwerk zu bewegen, bleibt ohne Erfolg. Die verbalen Äußerungen von K1 und FK zielen darauf ab, dass K4 sich ebenfalls an den Handlungen mit dem Ding auf dem Tisch beteiligt.  K4 reagiert nicht auf die Ansprache, sondern verbleibt im eigenen Handlungsnetzwerk zwischen sich und dem Rock. Als K3 aus dem Spielraum heraus in die Interaktion eintritt und K4 ebenfalls anspricht (Abbildung 2), wendet K4 den Blick K3 zu – der Blickkontakt zwischen K3 und K4 wird reziprok. Obgleich K1 K4 wiederholt anspricht und den Blick ebenfalls dem Rock zuwendet, entfaltet sich das dichte Handlungsnetz zwischen K4 und K3. K4, beziehungsweise das Gefüge aus K4 und dem Rock, ist das Zentrum verschiedener Handlungsvektoren.

Als sich K4 neu orientiert (Abbildung 3), nämlich zurück in den abgegrenzten Spielraum, zeigt sich seine zentrale Stellung innerhalb der Vektoren[2] besonders deutlich. K1 und K4 richten ihr verbalsprachliches Handeln weiter an K4 aus, auch wenn dieses sich bereits aus dem Handlungsnetzwerk „Tisch“ zurückzieht. Der Einfluss der Neuorientierung von K4 ist so groß, dass sich K4 und K3 wieder in den Spielraum bewegen und K1 mit FK am Tisch zurückbleibt. Die fehlende Aufnahme von K1 in das Handlungsnetzwerk mit K4 im Zentrum, sorgt nun für die Wiederaufnahme des Handlungsnetzwerks mit FK. FK spricht dabei K1 direkt an, während K1 den Blick auf die Puppe richtet. K1 bringt sich selbst aktiv in die Triade Puppe-FK-Kind ein, gleichzeitig wird er durch FK einbezogen.

Hier zeigen sich Dynamiken in Prozessen von Ex- und Inklusion mit verschiedenen Akteur:innen. K4 bildet mit dem Rock ein so dichtes Handlungsnetzwerk, dass K4 zum Zentrum der Interaktion wird. Die Fokussierung auf den Rock ermöglicht dem Kind, die Teilnahme anderer Akteur:innen am Handlungsnetzwerk zu entscheiden. K4 in- beziehungsweise exkludiert qua Handlung und Blickrichtung die anderen Personen. Gerade K1 erfährt hier Exklusion. FK geht, als ihr verbales Handeln keine Resonanz erfährt, zurück in ihr enges Handlungsnetzwerk mit der Puppe. K1 verbleibt in der Inklusionsbemühung, bis K4 sich mit K3 vom Puppe-Tisch-Gefüge löst und K1 sich wieder auf FK und ihr Handlungsnetzwerk fokussiert. Hier gelingt der erneute Zugang zum Handlungsnetzwerk auch durch Ansprache der FK leicht.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Inklusion und Exklusion geschehen nicht nur in großen Handlungszusammenhängen. In kleinen Interaktionseinheiten zeigen sich Mechanismen aller Akteur:innen, sich selbst und andere ein- oder auszuschließen. Inklusion und Exklusion sind in diesem Verständnis keine wertenden Begriffe, in dem Sinn, dass wir zu jedem Zeitpunkt auf eine alle Akteur:innen inkludierende Situation hinwirken müssen. Ein:e Akteur:in, der:die sich von einer Interaktion abwendet, sich dem Kontakt entzieht, sich nicht beteiligt, kann so Handlungsmacht zeigen. Mit einem Gegenstand ein eigenes Handlungsnetzwerk zu bilden, in der das Kind versunken und selbsttätig ein Ding und dessen Zusammenhänge erkundet, ist ein ebenso bedeutsamer Schritt der Interaktionschoreografie, wie die gemeinsame Abstimmung mit anderen auf einen Gegenstand hin.

Mikroprozesse der Interaktion im materiellen Raum in den Blick zu nehmen, ist ein wertvoller Reflexionsmoment: Welche Dinge laden zur Interaktion ein? Von welchen hätten wir es vielleicht nicht erwartet? Welche Handlungen werden durch die Anordnung der Dinge im Raum ermöglicht oder erschwert? Gelingt es Fachkräften, sich auf Ideen der Kinder zu den Dingen einzulassen? Wie oft führt die Fachkraft in der Interaktion, gibt Dinge vor – und wie oft folgt sie? Wer oder was steht wann im Zentrum einer Interaktion und wer oder was vielleicht nie?
In den Antworten auf diese Fragen finden sich Hinweise darauf, wie die Idee einer „guten“ pädagogischen Praxis in den Handlungen zum Ausdruck kommt. Teil der Vorstellung eines „guten“ Kindergartenkind, einer „guten“ pädagogischen Fachkraft und einer daraus folgenden „guten“ pädagogischen Interaktion, ist das eigenaktive, handlungsmächtige Kind, dessen Impulsen gefolgt und auf denen aufgebaut wird. Wenn sich die Handlungsmacht des Kindes so äußert, dass sie der Idee der „guten“ pädagogischen Praxis – einer gemeinsam zwischen Kind und Fachkraft ko-konstruktiv gestalteten, an Zonen der nächsten Entwicklung und inhaltlichen Bildungszielen ausgerichteten nämlich (KMK, 2022, S. 8-10)  –  zuwiderhandelt, finden Aushandlungsprozesse um die Grenzen des Nutzens solcher normativer Setzungen statt. Das eigenmächtige Kind kann als solches gleichzeitig normgerecht und normwidrig sein. Es schließt (sich) aus, statt (sich) zu inkludieren.

Das Aufbrechen pädagogischer Situationen in kleinste Einheiten ermöglicht durch die Verfremdung der Situation einen neuen Blick auf das Geschehen in der Einrichtung zu gewinnen und so Interaktionskulturen und die eigene Einstellung zu ihnen zu ergründen.

Literaturverzeichnis

Albedyhll, L. v. (2021). Kategorisierung der Dinge des pädagogischen Alltags.
Interaktionsorientierte Benennung unbelebter Akteure. ElFo – Elementarpädagogische Forschungsbeiträge (2021), 3 (2), S. 7-17. DOI: 10.25364/18.3:2021.2.1

Cloos, P., Bensel, J., Haug-Schnabel, G., Wadepohl, H. & Weltzien, D. (2018). Die Dinge und der Raum – einleitende Überlegungen. In D. Weltzien, H. Wadepohl, P. Cloos, J. Bensel & G. Haug-Schnabel (Hrsg.), Materialien zur Frühpädagogik: Band 22. Forschung in der Frühpädagogik (S. 11-30). FEL-Verlag Forschung-Entwicklung-Lehre.

Dietrich, M. & Mey, G. (2018). Grounding Visuals. Annotationen zur Analyse audiovisueller Daten mit der Grounded-Theory-Methodologie. In C. Moritz & M. Corsten (Hrsg.), Handbuch Qualitative Videoanalyse (S. 135-152). Springer VS.

Herrle, M. (2020). Ethnographic Microanalysis. In M. Huber & D. E. Froehlich (Hrsg.), Analyzing Group Interactions: A Guidebook for Qualitative, Quantitative and Mixed Methods (S. 11-25). Taylor & Francis Group.

KMK (2022). Gemeinsamer Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen (Beschluss der JMK vom 13./14.05.2004 und Beschluss der KMK vom 03./04.06.2004 i. d. F. vom 06.05.2021 (JFMK) und 24.03.2022 (KMK). https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_06_03-Fruehe-Bildung-Kindertageseinrichtungen.pdf

Siraj-Blatchford, I. (2009). Conceptualising progression in the pedagogy of play and sustained sharedthinking in early childhood education: a Vygotskian perspective.
Faculty of Social Sciences -Papers. 1224

Stieve, C. (2008). Von den Dingen lernen: Die Gegenstände unserer Kindheit. Phänomenologische Untersuchungen: Band 27. Wilhelm Fink.

Weidinger, N. (2011). Gestik und ihre Funktion im Spracherwerb bei Kindern unter drei Jahren. DJI. https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs/672_13595_Weidinger_Gestik.pdf

Weltzien, D., Fröhlich-Gildhoff, K., Wadepohl, H. & Mackowiak, K. (2016). Interaktionsgestaltung im familiären und frühpädagogischen Kontext. Einleitung. In H. Wadepohl, K. Mackowiak, K. Fröhlich-Gildhoff & D. Weltzien (Hrsg.), Psychologie in Bildung und Erziehung. Interaktionsgestaltung in Familie und Kindertagesbetreuung (S. 1-26). Springer Fachmedien Wiesbaden.


[1] Zeigegeste, um die Aufmerksamkeit von Interaktionspartner:innen auf einen realen oder virtuellen Gegenstand zu lenken. Typischerweise wird ein ausgestreckter Finger verwendet, jüngere Kinder nutzen auch den Körper oder die ganze Hand (Weidinger, 2011).

[2] Die Handlungspfeile innerhalb der Netzwerke werden hier Vektoren genannt, weil sie auf Kräfte hinweisen, die zwischen den Akteur:innen wirken. Handlungen haben das Potential, die Handlungen des Gegenübers zu beeinflussen und so das Handlungsnetzwerk zu verändern.

Inklusion und Diversität aus Sicht von Kita-Leitungen

| Nina Hogrebe, Valerie Bergmann & Madita Timmermann |

An Kindertageseinrichtungen (Kitas) wird die Erwartung herangetragen, zum Abbau von Bildungsungleichheit beizutragen, Heterogenität anzuerkennen und Inklusion zu fördern (vgl. Betz & Bischoff 2017). Der Elementarbereich bietet dabei grundsätzlich gute Voraussetzungen für Inklusion, denn hier werden bereits ein Großteil der Kinder mit Behinderungen, mit Migrationshintergrund, aus unterschiedlichen sozioökonomischen Kontexten sowie Mädchen und Jungen gemeinsam betreut. Zugleich gibt es hinsichtlich der Verteilung von Kindern mit Diversitätsmerkmalen auf die einzelnen Bildungseinrichtungen große Unterschiede. Entmischungsprozesse, die in unterschiedlichen Zusammensetzungen der Kitas zum Ausdruck kommen, verweisen darauf, dass Bildungszugänge nach wie vor nicht gleichermaßen gewährt werden (vgl. Hogrebe et al. 2021a).

Was will das Projekt? Was ist das Phänomen?

Prengel (2016) formuliert „Desegregation in der Lebensumwelt“ (S. 63) als einen Auftrag an institutionelle Bildungseinrichtungen. Neben der Anforderung, den unterschiedlichen Lebenshintergründen, Bildungsvoraussetzungen und Bildungsbedürfnissen von Kindern in einer Kita Rechnung zu tragen (vgl. Gomolla 2010, S. 8f.), geht es dabei auch darum, die gesellschaftliche Vielfalt in den Organisationen abzubilden (vgl. Toepfer 2020). Kita-Leitungen kommt dabei eine entscheidende Schlüsselposition zu, denn sie tragen nicht nur eine Mitverantwortung für die Herstellung einer Passung von institutionellen Rahmenbedingungen und individuellen Bedürfnissen der Kinder im Hinblick auf die Anerkennung von Diversität (vgl. Kron 2010), sondern sind auch in Platzvergabeprozesse eingebunden, die zum Ausschluss bestimmter Familien und Kinder führen können (vgl. Hogrebe et al. 2021b; Mierendorff & Nebe 2022). Bislang ist allerdings wenig darüber bekannt, welche Perspektive Kita-Leitungen auf die damit verbundenen Anforderungen haben.

Wie sind wir vorgegangen?

Studierende des Bachelorstudiengangs „Bildung und Erziehung in der Kindheit“ an der HAW Hamburg haben im Wintersemester 2021/22 im Rahmen des Wahlpflichtseminars „Diversität und Vielfalt im Elementarbereich“ leitfadengestützte Experteninterviews mit Praxisvertreter:innen geführt, um empirische Einblicke in deren Wahrnehmung der mit Inklusion verbundenen Anforderungen im Feld, Begriffsverständnisse und Praktiken zu gewinnen (vgl. Meuser & Nagel 2013). Als offenes und rekonstruktives Verfahren erfasst diese Interviewform mithilfe von erzählgenerierenden Fragen und Raum für freie Erzählpassagen mit eigener Relevanzsetzung die Wissensbestände von Expert:innen (vgl. Liebold & Trinczek, 2009). Die Expert:innen sind in diesem Fall Kita-Leitungen oder mit Leitungsaufgaben beauftragte Fachkräfte, die über ein spezifisches Wissen zu Umgangsstrategien mit Inklusion und Diversität in Kitas verfügen. Die Interviewpartner:innen wurden im Rahmen der studienbegleitenden Praktika durch die Studierenden selbst akquiriert. Den Leitfaden haben die Lehrenden konzipiert und die Studierenden haben jeweils unter Anleitung ein Interview geführt. Alle Interviews wurden aufgezeichnet und nach den Regeln von Kuckartz (2016) transkribiert. Auf Basis der Transkripte wurden die Interviews durch die Lehrenden und eine studentische Hilfskraft nach Kuckartz et al. (2008) ausgewertet. Insgesamt gehen in die Analysen Interviews mit zehn Fachkräften in Kitas ein, die eine Tätigkeit mit Leitungsfunktion inne hatten.

Was ist das Ergebnis?

Ebenso wie im wissenschaftlichen Diskurs lässt sich auch innerhalb der im Seminar geführten Interviews mit Kita-Leitungen keine einheitlichen Verständnisse der Begriffe Diversität, Inklusion, Vielfalt und Heterogenität finden. Das Interviewmaterial lässt erkennen, dass die Begriffe nicht trennscharf gebraucht werden. Einige Begriffe werden synonym verwendet bzw. von den Befragten explizit gleichgesetzt. So werden insbesondere keine Unterschiede zwischen den Begriffen „Diversität“ und „Vielfalt“ gemacht:

„[I]ch finde Diversität ist einfach, dass man unterschiedlich sein kann und Vielfalt auch, dass es viele verschiedene Menschen mit vielen verschiedenen Hintergründen gibt, und dass alle aber gleichwertig sind.“ (Interview 8, Absatz 33).

Neben Äußerungen, denen ein auf Behinderung bezogenes Inklusionsverständnis zugrunde liegt, , zeigt sich insgesamt ein eher breites Verständnis von Inklusion, das sich auf jegliche Diversitätsmerkmale bezieht (vgl. Lindmeier & Lütje-Klose 2015). Damit verbunden ist meist eine positive Sichtweise auf die Unterschiedlichkeit der Menschen, die wertgeschätzt, beziehungsweise als explizit erwünscht und wichtig angesehen wird. Mitunter wird diese Sichtweise durch Beschreibungen über das zugrundeliegende Bild vom Kind untermauert:

„Jedes von uns anvertraute Kind ist ein einzigartiger, wertvoller Teil des Ganzen. Dies gilt unabhängig von körperlichen, geistigen, sozialen, kulturellen oder sonstigen Voraussetzungen“ (Interview 2, Absatz 11).

Diese Einstellung gegenüber allen Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft, werde oftmals von den Kindern vorgelebt:

„aber den Kindern ist es eigentlich relativ egal, wo sie herkommen, wichtig ist für uns immer, dass wir eine Gemeinschaft sind und alle so annehmen und aufnehmen, wie sie halt so sind.“ (Interview 4, Absatz 10).

Der Begriff der Inklusion ist zudem häufig mit einem Fokus auf Chancengleichheit und -gerechtigkeit assoziiert, der die „bestmögliche individuelle Förderung“ (Interview 2, Absatz 11) aller Kinder impliziert und fordert, diese „und ihre Familien dort abzuholen, wo sie gerade stehen“ (Interview 12, Absatz 12). Die Kinder, die auf besondere Fördermaßnahmen angewiesen sind, sollen die nötige Unterstützung erhalten. Hierzu wird vermehrt die Zusammenarbeit mit Externen (z.B. Heilpädagog:innen oder Psycholog:innen) und den Eltern der Kinder betont. Zugleich wird ein Spannungsfeld deutlich, dass die Unterschiede der Kinder einerseits in der pädagogischen Arbeit berücksichtigt werden müssen, hierdurch aber andererseits auch wieder bestimmte Differenzen konstruiert werden können:

„Um mich damit auseinandergesetzt und halt festgestellt, dass es wirklich/ es ist ein Thema, das man nicht zum Thema machen sollte, wenn es nicht ein Thema ist. […]. Also wenn wir anfangen darüber zu sprechen, wieso du anders aussiehst als du, dann erschaffst du das Problem ja schon nur. Also es ist mehr man muss es leben.“ (Interview 3, Absatz 19).

Die aktuelle Situation von Kitas in Bezug auf damit verbundene Anforderungen für die eigene Arbeit wird unterschiedlich wahrgenommen. Neben einer grundsätzlich positiven Einstellung hinsichtlich Diversität als wünschenswertes Ziel innerhalb der Gesellschaft oder ihrer Einrichtungen benennen die Befragten auch Herausforderungen, die hierdurch entstehen. Zum einen äußern einzelne Befragte Bedenken in Bezug auf Kinder mit zum Beispiel körperlichen Beeinträchtigungen und sind unsicher, ob sie mit dieser Art von Anforderungen in ihrer Einrichtung umgehen könnten:

„Also, wir hatten noch kein Kind mit einer schwereren Behinderung, ich weiß auch nicht, ob wir das leisten könnten. Ich glaube nicht.“ (Interview 8, Absatz 26)

Vereinzelt werden Probleme in Bezug auf die Kommunikation und Verständigung bei unterschiedlichen Herkunftsländern und Kulturen angeführt. Hinzu kommen fehlende personelle Voraussetzungen, die den Umgang mit heterogenen Gruppen und Kindern, die besondere Fördermaßnahmen benötigen, erschweren können. Den gestiegenen Anforderungen und Erwartungen stehen laut der Befragten unzureichende personelle Mittel sowie fehlende Unterstützung durch die Politik gegenüber:

„[I]ch würde mir wünschen, dass das Thema nicht nur auf die Kitas abgewälzt wird, sondern auch die nötige, und das ist tatsächlich auch eine finanzielle Unterstützung, dass diese auch von der Politik getragen wird“ (Transkript 11, Absatz 41).

Neben dem Umgang mit unterschiedlichen Lebenshintergründen, Bildungsvoraussetzungen und Bildungsbedürfnissen von Kindern in einer Kindertageseinrichtung stellt sich darüber hinaus die Frage, ob und wie Leitungen die Zusammensetzung ihrer Einrichtungen beeinflussen. Manche Befragte äußern, dass sie gerne etwas durchmischter wären, und bedauern fehlende Handlungsspielräume:

„Wir hätten gerne ausländische Familien natürlich, weil das die kulturelle Vielfalt bereichert und wir sind immer froh, wenn wir mal eine haben, aber in der Regel wollen die nicht zu uns kommen. Ich weiß nicht, warum nicht.“ (Interview 8, Absatz 18)

Ein von den Leitungen genannter Grund dafür ist die Lokalität des Einzugsbereichs sowie die damit verbundene Sozialstruktur des Stadtteils. Aber auch die konzeptionelle Ausrichtung der Einrichtungen beeinflusse die Zusammensetzung der Kita, da sie bestimmte Familien mehr oder weniger ansprechen bzw. abschrecken würden:

„Nein, ich glaube, das liegt daran, dass die ein anderes Konzept haben und dass, ja, wie soll ich es sagen, ich weiß nicht so genau, warum sich zum Beispiel ausländische Familien hier nicht anmelden. Keine Ahnung. Möglicherweise, weil sie nicht so viel Interesse an der Gemeinschaft haben, so, also, keine Ahnung“ (Interview 8, Absatz 56)

Dabei ist auffällig, dass diesbezüglich eine einseitige Zuschreibung von Verantwortung erfolgt, die ausschließlich auf Seiten der Eltern verortet wird, während die Kitas als eher passiv und machtlos bezüglich der elterlichen Bildungswahlentscheidungen bzw. der sie umgebenden Sozialstruktur erscheinen. Eine Eigenverantwortung auf Seiten der Einrichtungen, aktiv bestimmte Familien zu rekrutieren oder ein Konzept zu erstellen, dass auch für andere Adressat:innen zugänglich ist, kommt hier nicht zum Ausdruck.

Darüber hinaus spielen unterschiedliche Verfahren der Anmelde- und Platzvergabeprozesse eine Rolle. Diese können niedrigschwellig sein oder durch komplexe Anforderungen Zugangsbarrieren darstellen. Als eine mögliche Barriere wird diesbezüglich die Sprache genannt, die eine Bewerbung um einen Kitaplatz erschweren kann:

„[D]as kann natürlich (.) auch ein (..) Hindernis sein für Familien die, die Eltern, die vielleicht nicht lesen können oder kein Deutsch sprechen. Ja (lacht), dass fällt mir jetzt erst auf, dass es dann natürlich schwierig ist, sich da um einen Kitaplatz zu kümmern“ (Interview 3, Absatz 49)

Exklusion kann auch über die Vergabe der Betreuungsplätze stattfinden: Bei zu geringer Verfügbarkeit und zu hoher Nachfrage regeln manche Einrichtungen die Vergabe über eine Warteliste und/oder nach Anmeldezeitpunkten. Die Vergabe von zur Verfügung stehenden Plätzen kann aber auch entlang bestimmter Kriterien wie dem Alter oder dem Geschlecht sowie ihrer Passung in die jeweils bereits vorhandene Gruppenstruktur erfolgen. In mehreren Interviews verweisen die Leitungskräfte auf die Stundenanzahl der in Hamburg bestehenden Kita-Gutscheine: Kinder mit einer hohen Anzahl an zu betreuenden Stunden werden dabei bevorzugt aufgenommen. Eine Rolle würden auch Geschwisterkinder spielen, die die Einrichtung bereits besuchen. Manche der Einrichtungen würden besonders auf eine Passung zwischen Kita und Eltern achten. Insbesondere Leitungen von Elterninitiativen beschreiben, dass sie auf Unterstützung und Hilfe durch die Eltern zum Erhalt der Kita angewiesen sind und deshalb aufwändigere Aufnahmeverfahren mit intensiven Vorgesprächen umsetzen:

„Wir würden wahrscheinlich keinen Platz vergeben an Eltern, die ihr Kind einfach nur betreut haben wollen und sich nicht einbringen wollen, weil dann wird niemand froh.“ (Interview 8, Absatz 46)

Problematisiert werden in diesem Kontext zudem die sprachlichen Fähigkeiten von Eltern als ein relevanter Faktor, der das Engagement von Eltern in der Elterninitiative beeinflusse.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Die Anerkennung von und der kompetente Umgang mit Diversität ist ein relevanter Aspekt eines entwicklungsförderlichen Umfelds für Kinder in Kitas (vgl. Spensberger & Taube 2022 S. 235). Die von den Studierenden geführten Interviews mit Leitungskräften lassen erkennen, dass diese eine positive Grundhaltung der Thematik gegenüber aufweisen. Hinsichtlich des Umgangs mit den damit verbundenen Herausforderungen deutet sich demgegenüber an, dass die Umsetzung entsprechender inklusiver und diversitätssensibler Praktiken auf strukturelle Herausforderungen trifft und die Leitungskräfte sich hier mehr Ressourcen und Unterstützung wünschen. Insbesondere auch mit Blick auf die aktive Herstellung einer diversen Kita-Zusammensetzungen ist zu erkennen, dass die Befragten sich eher zurückhaltend äußern und entweder nur wenig Handlungsspielraum sehen oder Zugangsbarrieren thematisieren, die aufgrund externer Strukturen oder Annahmen über und Zuschreibungen an bestimmte Familien bestehen und nicht im Verantwortungsbereich der Kitas verortet werden. Dies wäre im Hinblick auf den gesellschaftlichen Auftrag von Kitas zu diskutieren.

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