Inklusion als Integration von Kindern mit Behinderung? Ein Blick auf die Perspektive pädagogischer Fachkräfte integrativer Kindertageseinrichtungen

| Samuel Kähler |

In den letzten Jahren ist ein Zuwachs der Betreuung von Kindern mit »besonderen Förderbedarfen« in Kindertageseinrichtungen zu verzeichnen: Mittlerweile begleiten 38% der Regeleinrichtungen mindestens ein Kind mit diagnostizierter oder drohender Behinderung (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2021). Die Hintergründe dieser Entwicklung sind vielfältig, ein Erklärungsansatz liefert die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention und deren Inkrafttreten am 3. Mai 2008, durch welche sich Deutschland zur Schaffung eines inklusiven Betreuungssystems verpflichtet. Dass Inklusion also umgesetzt werden soll, ist klar, unklar ist jedoch, wie diese Umsetzung aussehen soll. Dies liegt u.a. an einer fehlenden Einigkeit dahingehend, was unter Inklusion überhaupt zu verstehen ist (Tures 2022).

In der aktuellen frühpädagogischen Praxis dominiert oftmals ein enges, auf die Integration von Kindern mit Behinderung verkürztes Inklusionsverständnis (Knauf & Graffe 2016). Dies ist durchaus nachvollziehbar: Frühpädagogische Fachkräfte begegnen diesem Thema insbesondere dann, wenn Kinder mit diagnostizierter oder drohenden Behinderung in der Einrichtung betreut werden sollen. Der erste Schritt hierfür ist eine Bedarfsermittlung nach dem Bundesteilhabegesetz, wonach zu prüfen ist, inwiefern eine Behinderung vorliegt, welche Auswirkungen diese hat und welche Unterstützung notwendig ist (s. BTHG vom 23.12.2016, § 13). Diese defizitorientierte Bedarfsermittlung ist sodann Grundlage für die Zuweisung zeitlicher und ökonomischer Ressourcen der Betreuung von Kindern mit besonderem Förderbedarf (z.B. Seitz 2012). Diese Kinder kommen dann als sogenannte Integrationskinder in den Regeleinrichtungen an.

Zwei Aspekte werden hier deutlich: Es zeigt sich eine strukturell-gesetzliche Verankerung der geforderten Inklusion als Integration. Der Fokus wird auf das einzelne (behinderte) Kind gerichtet, welches vor dem Hintergrund einer defizitär ausgerichteten Bedarfsbestimmung eine besondere Förderung erhält. Mit dieser verschwimmenden Differenz von Inklusion und Integration einhergehend wird eine Notwendigkeit der Etikettierung der Kinder als behindert (oder von einer Behinderung bedroht) erzeugt. Erst die Zuordnung eines Kindes in diesem zweiteiligen System Behindert-Nichtbehindert ermöglicht die Zuweisung wichtiger Ressourcen. Dieser strukturelle Zusammenhang wird unter dem Begriff des Etikettierungs-Ressourcen-Dilemmas kritisch diskutiert (z.B. Kornmann 1994).

Was will das Projekt?

Die von mir gestellte Frage ist, welches Bild die pädagogischen Fachkräfte von den sogenannten »I-Kindern« haben. Ich möchte also wissen, welche Vorstellungen über diese Kinder vorliegen und wie diese das Handeln orientieren. Grundlage für die Bearbeitung dieser Frage ist mein Dissertationsprojekt. In diesem beforsche ich Kindbilder frühpädagogischer Fachkräfte, wobei ich mit Bezug auf die Praxeologische Wissenssoziologie (Bohnsack 2017) zwischen expliziten Bildern vom Kind und impliziten Kindbildern differenziere:

  • Explizite Bilder vom Kind können von den von mir befragten AkteurInnen klar benannt werden, diese zeigen sich insbesondere in einem Sprechen über die Praxis, also in Bewertungen und Argumentationen.
  • Implizite Kindbilder sind stärker erfahrungsbezogen; sie werden durch Erfahrungen mit Kindern erworben und sind somit gebunden an ein handlungsleitendes Wissen, weshalb sie nicht direkt formuliert werden können, sondern insbesondere über Erzählungen und Beschreibungen zu rekonstruieren sind. Eben diese impliziten Kindbilder stehen hier im Fokus, wobei der Blick auf das Bild vom »I-Kind« gerichtet wird.

Wie bin ich vorgegangen?

Die zwei für diesen Beitrag herangezogenen Interviews stammen aus Gesprächen mit Fachkräften aus zwei unterschiedlichen Einrichtungen aus Mittelhessen, die sich über den Namen als integrativ ausweisen. Darüber hinaus wurden in dem Zeitraum 2020-2022 14 weitere Interviews geführt, die hier jedoch nicht miteinbezogen werden.

Die Datenerhebung erfolgte mittels Leitfadeninterviews (Helfferich 2011). In diesen erhalten die pädagogischen Fachkräfte vorrangig über erzählgenerierende Fragen den Raum, die eigene Perspektive auf Kinder zu entfalten. Ausgewertet wird das Material mit der Dokumentarischen Methode (Nohl 2017).

Was ist das Ergebnis?

Im Folgenden zeige ich, welches Bild vom »I-Kind« zwei pädagogische Fachkräfte haben, indem ich auf die Art und Weise schaue, wie sie über diese Kinder sprechen. Einsteigen möchte ich mit einem exemplarischen Auszug aus dem Interview mit Diana Dörfling.[1] Diana erzählte von einem Jungen, der etwas mehr „Begleitung“ braucht, woraufhin ich sie gebeten hatte, noch mehr von diesem Jungen zu erzählen:

„ja also ist auch mein I also ist auch n I-Kind der hat- aber so jetzt der hat zwar motorisch dadurch ähm ei- is er ein bisschen eingeschränkt da entwicklungsverzögert weil er ne (2) oh wie heißt des? ähm also offener Rücken nennt man das“ (Interview Diana)

Zunächst scheint eine starke Verbundenheit zu dem Kind auf, wenn die Akteurin von »ihrem« Integrationskind spricht. Im weiteren Verlauf steht sodann der Status »I-Kind« im Fokus. Dieser Relevanzsetzung folgend wird der Junge über seine abweichende Entwicklung beschrieben. Dem Jungen wird also eine von der Norm abweichende und defizitäre Entwicklung attestiert, die sodann wiederum mit einer angeborenen Behinderung begründet wird. Die Ursache der Behinderung läge dem folgend in dem Jungen, beziehungsweise in der Krankheit des Jungens, die als Teil des Jungens verstanden wird. Zudem fallen weitere Eigenschaften des Jungens hinter dem Status »I-Kind« und den damit einhergehenden Limitationen zurück. Im Folgenden richtet Diana den Blick auf die Fortschritte:

„er kann auch mittlerweile laufen er braucht zwar Orthesen damit die Füße ähm (.) ähm stabilisiert sind und er nicht wegknickt aber ansonsten, er kann auch ähm (.) greifen richtig (.) zwar nicht so wie die andern Kinder“ (Interview Diana)

Die defizitäre Besonderung wird weitergeführt: Gerade in der Beschreibung seiner Lern- und Entwicklungsfortschritte bleibt der ungleiche Status bestehen, wenn Diana zum einen auf die notwendige mechanische Unterstützung während des Laufens verweist und zum anderen, wenn sie die Fähigkeiten des Jungens mit denen der anderen Kinder vergleicht. Diese dienen hier als Hintergrundfolie, vor dem die Fähigkeit des Jungens eingeordnet und sodann als abweichend konstruiert wird. Diese Weise des Sprechens über Integrationskinder findet sich auch in weiteren Fällen. So erzählt beispielsweise Karin Kraus[2] ebenfalls von ihrem „I-Kind“, welches sich zwar entwickelt, aber nach wie vor „sprachliche Probleme“ hat.

Konsequenz dieser defizitären Besonderung der Kinder ist zumeist eine gezielte Einzelförderung: Exemplarisch hierzu ein Auszug aus dem Interview mit Karin:

„ja wir waren letzte Woche auch zusammen im Sprachraum dann haben wir zusammen ähm so Zungengymnastik gemacht […] das hab ich in so lustige Geschichte verpackt […] haben zusammen Wörter geklatscht, was ich immer ganz wichtig find so für die ähm die Sprache; und ähm haben dann auch noch zusammen ein Bilderbuch betrachtet wo sie mir ein bisschen was erzählen konnte so weit wie sie das schafft“ (Interview Karin)

Im Kontext der Fördermaßnahme wird das Kind nicht nur über den Status des »I-Kindes«, sondern nun auch räumlich aus der Gruppe hervorgehoben. Zu beobachten ist also eine doppelte Besonderung über den Status und der zeitlich limitierten räumlichen Abgrenzung. In eben diese Rahmung eingebettet wird nun gezielt an den ausgemachten Defiziten des Kindes gearbeitet, wobei Karin die Sitzung inhaltlich steuert.

Zusammenfassung:

  1. Das Bild vom »I-Kind« ist strukturiert durch eine Konstruktion einer defizitären Andersartigkeit. Krähnert, Zehbe und Cloos (2022) sprechen mit Blick auf diese Weise der Hervorhebung treffend von einer „negativen Verbesonderung“. Die Kinder werden über ihre entwicklungsbezogenen Abweichungen und den hiermit einhergehenden Status sowie über die gezielten Fördermaßnahmen von dem Rest der Gruppe abgegrenzt. Die jeweiligen Defizite werden dabei als wesentlicher Teil der Kinder verstanden. Konsequenz hieraus ist zumeist die Förderung der Kinder, also das gezielte Bearbeitung von ausgewiesenen Defiziten und eine Normalisierung der Entwicklung.
  2. Mit Blick auf die eingangs skizzierten und notwendigen Etikettierungs-Prozesse erscheint dieses Bild vom »I-Kind« als eine Bearbeitung des zugrundeliegenden Spannungsfeldes: Bereits über den für die Ressourcenzuweisung notwendigen Status des »I-Kindes« tritt das Kind als besonders aus der Gruppe hervor. Somit ist die negative Besonderung der Kinder sowie eine Reduzierung von Inklusion auf die Integration einzelner (behinderter) Kinder bereits strukturell angelegt und durchaus sinnhaft sowie funktional. Pädagogische Fachkräfte bewegen sich also in Strukturen, die das hier aufgezeigte Bild miterzeugen, zugleich erhalten sie diese Strukturen durch ihr Handeln aufrecht und stellen diese immer wieder neu her.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Wenn es das Ziel sein soll, Inklusion nicht auf die Integration von Kindern mit Behinderung zu begrenzen, ist über die folgenden Aspekte nachzudenken:

  1. Integration oder Inklusion: Erster Ansatzpunkt wäre eine klare begriffliche und inhaltliche Unterscheidung zwischen Integration und Inklusion. Wie die Benennungen »Integrationskinder« und »integrative Einrichtungen« aufzeigen, ist der Integrationsbegriff nach wie vor von zentraler Bedeutsamkeit. Ist Inklusion das Ziel, muss geklärt werden, was hierunter verstanden wird und Inklusion als Ziel sodann auch benannt werden.
  2. Inklusion und Behinderung: Inklusion als Integration von Kindern mit Behinderung verkürzt den inklusiven Gedanken nicht nur auf das Ziel der Integration, sondern ebenso auf die Vielfaltsdimension Behinderung. Ein weites Inklusionsverständnis geht hierüber hinaus und impliziert den Anspruch, Kinder in ihren Mehrfachzugehörigkeiten wahrzunehmen: Nicht nur eine Behinderung, sondern auch andere Zugehörigkeiten wie Geschlecht oder Herkunft können Teilhabebarrieren zur Konsequenz haben, die es zu beachten gilt. Kinder tragen also viele Eigenschaften in sich, über die sie beschrieben werden können. Inklusion wird dann zu einem Konzept für alle Kinder, wie es beispielsweis im Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung (Wagner 2017a) vertreten wird.
  3. Etikettierungen: Auf der einen Seite sind Etikettierungen pädagogisch relevant, wie Dederich (2017) aufzeigt. Auf bestimmte Etikette zu verzichten würde bedeuten, hieran anschließendes Wissen zu ignorieren – zum Beispiel im Bereich der Förderung der motorischen Entwicklung – und also eine „Unschärfe pädagogischer Interventionen“ in Kauf zu nehmen. Auf der anderen Seite befördern Etikettierungen Stigmatisierungen und Veränderungen des Selbstbildes betroffener Personen (Wagner 2017b). Dieses Dilemma ist nicht aufzulösen, wichtig ist aber: Etikettierungen sollten mit dem Wissen um deren stigmatisierender Wirkung genutzt und nie auf eine Person als Ganzes bezogen werden. Ein Kind sollte immer mehr sein, als nur seine Behinderung. Zudem sind Etikettierungen auf deren pädagogische Relevanz zu befragen: So kann das Etikett der motorischen Entwicklungsverzögerung durchaus wichtig sein, um präziser fördern zu können, während das formal notwendige aber zugleich sehr undifferenzierte Etikett des »I-Kindes« das Kind primär als defizitär-anders von den anderen Kindern abhebt. Das Sprechen über Kinder (z.B. mit Eltern oder KollegInnen) und auch mit Kindern ist demnach auf Etikettierungen zu hinterfragen, die pädagogisch irrelevant sind und zugleich Diskriminierung und Barrieren erzeugen können.
  4. Barrieren: Ein zentraler Mehrwert einer inklusionstheoretischen Perspektive ist der Fokus auf behindernde Strukturen, mit der Intention, diese abzuschwächen oder gar zu entfernen. Diese Barrieren können materielle Barrieren sein (z.B. Treppen und geschlossene Türen), die zu erkennen und beseitigen sind, oder aber auch Barrieren, die durch Diskriminierung und Ausgrenzung erzeugt werden (z.B. Vorurteile und stigmatisierende Etikettierungen), welche nur reflexiv aufgelöst werden können. Nicht nur das Kind, sondern auch die Umwelt und die Erwachsenen als Teil dieser Umwelt sollten Ansatzpunkt für Intervention sein. (Beher et al. 2021)

Pädagogischen Fachkräften kommt eine sehr herausfordernde Aufgabe zu: Obwohl Inklusion rechtlich vorausgesetzt wird, arbeiten sie in Strukturen, die eine Reduzierung von Inklusion auf eine Integration von Kindern mit Behinderung begünstigen und sind zugleich Teil der Aufrechterhaltung dieser Strukturen. Die hier vorliegenden Spannungsfelder können die pädagogischen Fachkräfte nicht in Gänze auflösen – dennoch sind sie zentrale Akteure, ohne die eine inklusive Betreuung nicht umgesetzt werden kann. Eine kritische Reflexion vorliegender Strukturen, Barrieren und der eigenen Perspektive auf das Kind können hierfür erste, wichtige Ansatzpunkte sein.

Literaturverzeichnis

Beher, K., Fuchs-Rechlin, Gessler, A., Hanssen, K., Hartwich, P., Peucker, C. et al. (2021). Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2021 (Bd. 2021). München: Deutsches Jugendinstitut e.V.

Bohnsack, R. (2017). Praxeologische Wissenssoziologie. Opladen, Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Bundestag. Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. BTHG.

Dederich, M. (2017). Zwischen Wertschätzung von Diversität und spezialisierter Intervention. Ein behindertenpädagogisches Dilemma im Zeichen der Inklusion. In U. Stenger, D. Edelmann, D. Nolte & M. Schulz (Hrsg.), Diversität in der Pädagogik der frühen Kindheit. Im Spannungsfeld zwischen Konstruktion und Normativität (S. 73–84). Weinheim: Beltz.

Helfferich, C. (2011). Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews (4. Auflage). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Knauf, H. & Graffe, S. (2016). Alltagstheorien über Inklusion. Frühe Bildung, 5(4), 187–197.

Kornmann, R. (1994). Von der prinzipiell nie falschen Legitimation negativer Ausleseentscheidungen zum Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma. Oder: Gibt es überhaupt Perspektiven für eine förderungsorientierte Diagnostik? Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 17(1), 51–59.

Krähnert, I., Zehbe, K. & Cloos, P. (2022). Polyvalenz und Vulneranz. Empirische Perspektiven auf inklusionsorientierte Übergangsgestaltung in Elterngesprächen (Kindheitspädagogische Beiträge, 1. Auflage). Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

Nohl, A.‑M. (2017). Interview und Dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. 5. Aufl. Wiesbaden: Springer VS.

Seitz, S. (2012). Frühförderung inklusive – Inklusive Pädagogik in Kindertageseinrichtungen mit Kindern bis zu drei Jahren. In B. Gebhard & B. Hennig (Hrsg.), Interdisziplinäre Frühförderung. Exklusiv – kooperativ – inklusiv (S. 315–322). Stuttgart: Kohlhammer.

Tures, A. (2022). Inklusion und Diversität: soziale Vielfalt im Blick. In N. Neuß & S. Kähler (Hrsg.), Grundwissen Kindheitspädagogik. Eine Einführung in Perspektiven, Begriffe und Handlungsfelder (S. 237–248). Berlin: Cornelsen; Verlag an der Ruhr.

Wagner, P. (Hrsg.). (2017). Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder.

Wagner, P. (2017). Vielfalt und Diskriminierung im Erleben von Kindern. In P. Wagner (Hrsg.), Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung (S. 87–106). Freiburg im Breisgau: Verlag Herder.


[1] Diana ist eine Erzieherin in einer integrativen Einrichtung und hier vorrangig im Krippenbereich tätig. Alle personenbezogenen Angaben sind anonymisiert.

[2] Karin ist ebenfalls eine Erzieherin in einer integrativen Einrichtung, hat jedoch zusätzlich eine Heilpädagogikausbildung absolviert und arbeitet im Ü3 Bereich.