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Diversitätsbewusste und diskriminierungskritische pädagogische Praxis mit jungen Kindern

| Petra Wagner |

Kindheiten heute werden als superdivers oder hyperdivers beschrieben (El Mafaalani 2022), im Hinblick auf Migrationsgeschichten, Sprachen, Familienkonstellationen, Geschlechter, Behinderungen, sozioökonomische Verhältnisse. In Kitas sind die Kindergruppen und ihre Familien/Bezugspersonen häufig diverser zusammengesetzt als das Kitapersonal, was das Fachpersonal vor Herausforderungen stellt. Für einen kompetenten Umgang wird Diversitätskompetenz empfohlen (z.B. Koch 2021), die häufig das Wissen über „kulturelle Unterschiede“ meint, positive Einstellungen gegenüber unterschiedlichen Gepflogenheiten und Weltsichten sowie „kulturübergreifende“ Kommunikation (ebd.). Diese Kompetenzen fassen nicht die Komplexität der tatsächlichen Diversität: In der Reduzierung auf „kulturelle“ Unterschiede besteht die Gefahr der Verfestigung von Stereotypisierungen und es geraten andere Aspekte in den Hintergrund. Die Intersektionalität der Differenzlinien und wie sie sich in den Biographien einzelner Kinder und Familien überschneiden oder überlappen, bleibt unberücksichtigt. In ihrer Kritik an einem Diversitätsbegriff, der auf die „kosmetische Addition von Pluralität“ reduziert bleibt, plädiert Maisha Auma für eine Gesamtstrategie von Diversifizierung, die an der „Tiefenstruktur normalisierter Ausschlussmechanismen und institutionalisierter Ungerechtigkeiten“ (Auma o.J.) ansetzt.

Diese Forderung ist nicht neu. Annedore Prengel vertrat bereits 1995: „Die Option für Differenz ist eine Option gegen Hegemonie“ und „Vielfalt realisiert sich erst in klarer Stellungnahme gegen herrscherliche Übergriffe“ (Prengel 1995, 183f). Paul Mecheril fordert 2014 für Bildungsinstitutionen, sie müssten „differenzfreundlich und diskriminierungskritisch“ gestaltet sein. Damit gehören dem Anspruch nach zum Repertoire von Diversitätsarbeit nicht nur die Wahrnehmung und Anerkennung vorhandener Unterschiede, sondern machtkritische Analysen, das Erkennen von Teilhabebarrieren und Diskriminierung und wie diese entlang von Differenzlinien konstruiert werden, sowie deren Einordnung in gesellschaftliche Hierarchien und Ungleichverhältnisse.

Eine diversitätsbewusste und gleichzeitig diskriminierungskritische pädagogische Praxis ist anspruchsvoll (Wagner 2012; Bordo Benavides 2018): Das Aufdecken einseitiger Routinen, Ausstattungen und Strukturen erfordert machtkritische Blickschärfungen und den Dialog mit Kindern, Eltern/Bezugspersonen und Kolleg*innen. Für konkrete Veränderungen der pädagogischen Praxis braucht es die fachliche Verständigung im Team, Werteklärungen, Wissenserweiterung zu Diversität und Diskriminierung, auch in intersektionaler Verschränkung, methodisch-didaktische Anregungen, die Verabredung von Erprobungsphasen und deren Auswertung, die Unterstützung des Trägers (vgl. Praxisberichte in Ayten u.a. 2019). Die notwendigen Lernstrecken – individuell, fachlich, im Team, als Organisation – stoßen gegenwärtig an enge Grenzen: Personalmangel, Personalfluktuation, ungünstige Personalschlüssel in Bildungseinrichtungen erschweren die systematische Qualitätsentwicklung mit einem diskriminierungskritischen Ansatz und damit die Verankerung einer inklusiven demokratischen Kultur in den Bildungseinrichtungen. Gleichzeitig erscheint ein solches Praxiskonzept angesichts der gegenwärtigen antidemokratischen Tendenzen in der Gesellschaft wichtiger denn je.

Was ist das Phänomen?

Bereits seit den 80er Jahren liegen im englischsprachigen Ausland Erkenntnisse darüber vor, dass Kinder bereits im frühen Alter bewertende Botschaften über Menschen in ihrer Umgebung wahrnehmen und auch daraus ihre Selbst- und Weltbilder konstruieren (Derman-Sparks & ABC Task Force 1989; Derman-Sparks/Olsen 2010; 2020; van Ausdale/Feagin 2001; MacNaughton 2006). Die Botschaften gelten Merkmalen, die Menschen unterscheiden, und die wirkmächtig sind, weil darüber Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen geregelt werden (Geschlecht, Hautton, Behinderung, soziökonomischer Status etc.). Die damit einhergehenden Benachteiligungen und Privilegierungen bestimmter Gruppen werden mit diskriminierenden Ideologien wie Sexismus, Rassismus, Ableismus [1], Adultismus [2], Klassismus [3], Linguizismus [4], Heterosexismus, Antisemitismus etc. gerechtfertigt, die jeweils die Höherwertigkeit der einen gegenüber der anderen Gruppe behaupten. Auch mit diesen wirkmächtigen Denkmustern kommen Kinder früh in Kontakt.

Die Quellen bewertender Botschaften über Menschen bzw. Gruppen von Menschen sind mannigfaltig: Sie finden sich in den Medien, in der Kommunikation der Erwachsenen, in der Ausstattung, den Routinen, den Interaktionen in Kindertageseinrichtungen und Schulen. Sie finden sich im Fehlen der Repräsentation von Menschen bzw. Gruppen von Menschen, denn Benachteiligungen sind wie Privilegierungen „ins gesellschaftliche System und seine Institutionen eingebaut“ (Derman-Sparks/ Olsen- Edwards 2020, S. 8). Kinder verinnerlichen mit den Bewertungen gesellschaftliche Hierarchien und dominanzkulturelle Setzungen von Über- und Unterlegenheit. Sie ordnen sich und ihre sozialen Bezugsgruppen in das Bewertungsgefüge ein und artikulieren ab etwa drei Jahren Vor-Vorurteile, mit denen sie ihre eigensinnigen Verarbeitungen von diskriminierenden Ideologien zeigen. Diskriminierungen, die ihnen oder ihren Familien gelten, beschädigen die Selbstbilder von Kindern und stellen ein großes Entwicklungs- und Lernrisiko für sie dar. Gleichzeitig schadet Diskriminierung wegen ihrer dehumanisierenden Implikationen allen Menschen. Sie verhindert ein solidarisches Zusammenleben und das Erkennen gemeinsamer Interessen gegen Unterdrückung und Ausbeutung.

Erst seit 2010 gibt es vermehrt Studien auch in Deutschland, die zeigen, dass und wie sich junge Kinder auf gesellschaftlich und institutionell vorhandene Differenzkonstruktionen beziehen und wie sie aktiv und eigensinnig selbst solche hervorbringen, in Bezug auf Alter, Geschlecht, Ethnizität (vgl. Diehm u.a. 2013, Machold 2015, Simon/Skalska/Prigge 2021), auf Hautfarbe (Roos/Kästner 2021), in der Verschränkung von Alter und Behinderung (vgl. Joyce-Finnern 2017), von Ethnizität und Sprachen (vgl. Seele 2010). Die Ergebnisse widersprechen alltagsweltlichen Annahmen wie Kinder haben keine Vorurteile oder Kinder bekommen nicht mit, dass sie und ihre Familie diskriminiert werden oder Kinder sind vor allem Kinder, Unterschiede sind für sie nicht wichtig. Sie verdeutlichen den Einfluss, den Diskriminierungen bereits auf Kinder haben. [5]

Wegen eines Merkmals der eigenen Identität abgewertet oder angegriffen zu werden, ist eine Form von psychischer Gewalt. Kinder können dem kaum etwas entgegensetzen. Sie denken häufig, sie hätten etwas falsch gemacht oder sie hätten das falsche Aussehen, die falsche Familie, die falsche Sprache und müssten noch mehr dafür tun, sich anzupassen (für Beispiele siehe Wagner 2022, 204-213). Kinder äußern ihren Schmerz über Ausschlüsse, ihre Verwirrung über abwertende Zuschreibungen, mit denen sie zu Anderen gemacht werden, auch ihre Ohnmacht und Verzweiflung, wenn ihnen Zugehörigkeit verwehrt wird. Sie brauchen eine Umgebung, in der diese Gefühle wahrgenommen und angesprochen werden. Die Studien verweisen darauf, dass es in Kitas und Schulen diskriminierungssensible Erwachsene braucht, die wissen, worum es sich bei Diskriminierung handelt, was Diskriminierung von anderen Beleidigungen unterscheidet, was das Erleben von Diskriminierung auslöst und die verlässlich dagegen einschreiten (vgl. Mac Naughton 2006, 49).

Da Situationen, Aktivitäten, Äußerungen je nach gesellschaftlicher Position und Bezugsgruppenzugehörigkeit der Kinder, Familien, der Fachkräfte unterschiedlich erlebt werden, reicht es nicht, von Kindern oder Familien zu sprechen. Machtkritische Differenzierungen sind nötig: Welches Kind ist womit gemeint, welches nicht? Welche Familie ist repräsentiert, welche nicht? Welches Kind wird in seinen Identitäten bestätigt? Welches bekommt die Botschaft, nicht normal oder zugehörig zu sein? Was bewirkt dies, zusammen mit ähnlich lautenden Botschaften aus unterschiedlichen Quellen? Wie können wir diese Botschaften beeinflussen? Was können wir als Fachkräfte tun?

Wie kann vorgegangen werden?

Der Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung ist ein pädagogisches Praxiskonzept für Qualitätsentwicklung in Kitas, das ein bewusstes Thematisieren von Unterschieden mit der klaren Absage an Ausgrenzung und Diskriminierung verbindet. Der Ansatz wird seit 25 Jahren im Arbeitszusammenhang Kinderwelten entwickelt und verbreitet.[6] Er ist inspiriert vom Anti-Bias Approach aus den USA (Anti-Bias Task Force & Derman-Sparks 1989, Derman-Sparks /Olsen Edwards 2010, 2020). Der Ansatz basiert auf den UN-Kinderrechten und zielt auf Bildungsgerechtigkeit durch die Entfaltung der Lernpotentiale aller Kinder mit dem Abbau von Diskriminierung.[7]

Der Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung bietet eine ganzheitliche Systematik für die Gestaltung pädagogischer Praxis. Diese ist strukturiert von Zielen, Prinzipien und Methoden, anzuwenden in allen Handlungsfeldern der Kita-Arbeit und geleitet vom Eintreten für soziale Gerechtigkeit, Antidiskriminierung und Inklusion.

Vier Ziele [8] stehen im Mittelpunkt, mit denen den schädigenden Auswirkungen von sozialer Abwertung und Diskriminierung auf die Identitäts- und Vorurteilsentwicklung junger Kinder entgegengewirkt werden soll (vgl. ISTA/ Fachstelle Kinderwelten 2017, Derman-Sparks et al. 2020, 5f):

Ziel 1: Alle Kinder in ihren Identitäten stärken: Jedes Kind findet Anerkennung und Wertschätzung, als Individuum und als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe. Dazu gehören Selbstvertrauen und ein Wissen um den eigenen Hintergrund.

Ziel 2: Allen Kindern Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen: Auf der Basis einer gestärkten Ich- und Bezugsgruppen-Identität wird es Kindern ermöglicht, aktiv und bewusst Erfahrungen mit Menschen zu machen, die anders aussehen und sich anders verhalten als sie selbst, so dass sie sich mit ihnen wohl fühlen und Empathie entwickeln können.

Ziel 3: Kritisches Denken über Gerechtigkeit anregen: Das kritische Denken von Kindern über Vorurteile, Einseitigkeiten und Diskriminierung anzuregen heißt auch, mit ihnen eine Sprache zu entwickeln, um sich darüber verständigen zu können, was gerecht und was ungerecht ist.

Ziel 4: Aktivwerden gegen Unrecht und Diskriminierung: Kritisch denkende Kinder werden ermutigt, sich aktiv und gemeinsam mit anderen für Gerechtigkeit einzusetzen und sich gegen einseitige oder diskriminierende Verhaltensweisen zur Wehr zu setzen, die gegen sie selbst oder gegen andere gerichtet sind. (vgl. ISTA/ Fachstelle Kinderwelten 2021, Derman-Sparks 2022)

Dem vierten Ziel kommt eine besondere Bedeutung zu, denn das Eingreifen bei Ungerechtigkeiten wird häufig unterlassen: Abschwächungen und Relativierungen behindern es und auch die Befürchtung von negativen Konsequenzen. Damit jedoch werden Einseitigkeiten, Unsichtbarkeiten, Diskriminierungen bestätigt, akzeptabel, normal. Dies ist insbesondere schwerwiegend, wenn das Nicht-Handeln von den Autoritätspersonen in Bildungseinrichtungen ausgeht. Fachkräfte und Lehrkräfte handeln nicht als Privatpersonen,  sondern in öffentlicher und professioneller Funktion. Sie werden von Kindern und Familien als Vertreter*innen der öffentlichen Einrichtung und Ordnung wahrgenommen, ob sie dies wollen oder nicht. Ihr Nicht-Eingreifen vermittelt die Botschaft, dass Herabwürdigungen hinnehmbar sind. Greifen sie ein, so vermitteln sie Kindern, dass Menschen sich gegen Ungerechtigkeiten wehren können und dass sie in dieser Einrichtung davor geschützt sind. Es macht sie handlungsfähig in kritischen Situationen und stärkt sie in ihrer Rolle, Kindern beizustehen.

Was ist das Ergebnis? Was kann das für die Praxis bedeuten?

Die Ziele bauen aufeinander auf und bieten ein Gerüst für das Vorgehen in konkreten Situationen:

Die Kinder der Kitagruppe sprechen darüber, dass in der Ukraine Krieg ist. Manche Kinder äußern Angst: „Können die Bomben auch uns treffen?“ Manche haben mit den Erinnerungen an Krieg zu tun, den es früher gab und über den in der Familie gesprochen wird. Manche Kinder haben Verwandte in Kriegsgebieten und wirken beunruhigt. Ein Junge sagt, dass er mit seinem Freund nicht mehr spielen will, weil der „russisch“ sei. Manche Kinder spielen Krieg. Die pädagogische Fachkraft beschließt, mit den einzelnen Kindern Gespräche zu führen. Ihre Fragen: „Was weißt du über den Krieg? Was denkst du über den Krieg? Welche Gefühle hast du?“ Für jedes Kind hat sie ein Blatt, Kinder zeichnen etwas zu ihren Antworten, die Fachkraft schreibt ihre Antworten auf. So erfährt sie, was die Kinder beschäftigt (Ziel 1). In einer Gesprächsrunde stellen die Kinder ihre Antworten vor, die Fachkraft macht darauf aufmerksam, was bei ihnen ähnlich und was unterschiedlich ist. (Ziel 2) Die Fachkraft gibt einige Informationen über den Krieg in der Ukraine und fragt die Kinder: Was ist das, ein Krieg? Warum gibt es Kriege? Was passiert mit den Menschen, wenn Krieg ist? Die Kinder haben dazu viel zu sagen. Manche finden, Krieg muss halt sein. Wer stark ist und Waffen hat, kann Krieg machen. Manche sagen, Krieg ist schlimm und sollte nicht sein. Ein Mädchen berichtet, wie eine Bombe das Haus ihrer Großeltern in Syrien kaputtgemacht hat und dass sie darüber traurig sei. Die Fachkraft fasst die negativen Folgen von Krieg zusammen und positioniert sich: „Es ist nicht richtig, ein Land haben zu wollen und es mit Waffen anzugreifen und Menschen zu töten und Häuser zu zerstören. Das haben viele Länder in einer Vereinbarung (UN-Charta) unterschrieben. Daran müssen sich die Erwachsenen halten.“ Das wussten viele Kinder nicht. Sie äußern Kritik an Erwachsenen, die trotzdem Krieg machen. (Ziel 3) „Was könnten wir dagegen tun?“ fragt die Fachkraft, und die Kinder haben Ideen: Einen Brief an Putin schreiben! Auf ein Plakat schreiben, dass wir gegen Krieg sind, dass der Krieg aufhören soll, dass die Erwachsenen blöd sind, die Krieg machen. Und das Plakat dann raushängen! Genau das machen sie, die Fachkraft unterstützt. (Ziel 4).

Im Gespräch darüber meint die Fachkraft, dass sie mit den vier Zielen eine Struktur habe, um auch schwierige Themen mit den Kindern anzusprechen, dabei auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen der Kinder einzugehen und sie bei Problemlösungen zu bestärken. Und auch: Sie vor Angriffen, Abwertung und Diskriminierung zu schützen. Was ist im Beispiel gut gelungen? Die Fachkraft war aufmerksam für das, was die Kinder beschäftigt hat: Krieg. Sie hat daraufhin mit den Kindern Krieg explizit zum Thema gemacht. Häufig werden „schwere“ Themen umgangen, um Kinder nicht damit zu belasten oder auch, weil Erwachsene darüber selbst ratlos sind. Die Fachkraft im Beispiel scheute sich nicht, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Krieg für die Kinder ein Thema ist. Ihr half möglicherweise, dass sie sich ihren eigenen Standpunkt zum Krieg klargemacht hatte und auch, was sie Kindern vermitteln möchte: Wenn Erwachsene Kriege machen, tun sie damit etwas Unrechtes, das viele Menschen leiden lässt. Die Fachkraft zeigte sich ernsthaft interessiert an den Gedanken und Gefühlen der Kinder. Mit den Gesprächen und den Aktivitäten gab sie den unterschiedlichen Meinungen und Erfahrungen der Kinder Raum. Die Kinder hörten einander zu. Sie erweiterten ihr Wissen und differenzierten ihre ersten Meinungen. kritisierten das Handeln der am Krieg beteiligten Erwachsene, drückten die Kritik aus und adressierten ihren Protest. Sie überwanden ein Stückweit die Ohnmacht angesichts der zutiefst verstörenden Tatsache, die Krieg, Zerstörung, Gewalt und Tod für junge Kinder bedeuten.   

Ergebnis ist im Idealfall eine verlässliche demokratische Kultur in den Bildungseinrichtungen, die Erwachsene mit den Kindern gemeinsam gestalten und mitbestimmen. Es ist eine Kultur des respektvollen Umgangs miteinander und der klaren Positionierung gegen Herabwürdigung und Ausgrenzung. In einer solchen Einrichtung sind Bildungsprozesse ohne Angst und Selbstzweifel möglich, eine Zusicherung, die insbesondere Kinder brauchen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit von Marginalisierung und Diskriminierung betroffen sind. Die Navigation liegt bei den Erwachsenen, der Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung unterstützt sie dabei.

Literaturverweise

Auma, Maisha (o.J.): „Das ist keine kosmetische Addition von Pluralität“. Interview. https://www.hu-berlin.de/de/pr/diversitaet/wie-viel-exklusion-kann-sich-die-humboldt-universitaet-an-dem-hyperdiversen-pluralen-standort-berlin-noch-leisten

Ayten, Nuran; Richter, Sandra; Ringkamp, Tajan; Wagner, Petra (2019): Wir machen uns auf den Weg! Kitas qualifizieren sich für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung. Hrsg. Fachstelle Kinderwelten/ISTA und Bildungswerk ver.di in Niedersachsen e.V. Verfügbar unter: https://www.esf-projekte.de/projekte/projektarchiv/kita-international/

Bordo Benavides, Olenka (2018): Diskriminierungskritisch erschöpft. Feministischer Zwischenruf. Heinrich Böll Stiftung. https://www.gwi-boell.de/de/2018/12/20/diskriminierungskritisch-erschoepft

Derman-Sparks, L. & Olsen Edwards, J. (2010): Anti-Bias Education for Young Children and Ourselves. Washington D.C.

Derman-Sparks, Louise & ABC Task Force (1989): Anti-Bias-Curriculum. Tools for empowering young children. Washington: NAEYC

Derman-Sparks, Louise & Olsen-Edwards, Julie mit Goins, Catherine M. (2020): Anti-Bias Education for Young Children & Ourselves, 2. Aufl. Washington: NAEYC Books.

Derman-Sparks, Louise (2022): Anti-Bias Education for Everyone – Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung für alle. In: Wagner, Petra (Hrsg.) (2022): Handbuch Inklusion. Grundlagen Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg: Herder. S. 299-213

Diehm, Isabell; Kuhn, Melanie; Machold, Claudia; Mai, Miriam (2013): Ethnische Differenz und Ungleichheit. Eine ethnographische Studie in Bildungseinrichtungen der frühen Kindheit – In: Zeitschrift für Pädagogik 59 (2013) 5, S. 644-656 https://www.pedocs.de/volltexte/2016/11985/pdf/ZfPaed_2013_5_Diehm_et_al_Ethnische_Differenz_und_Ungleichheit.pdf

El Mafaalani, Aladin (2022): Superdiverse Kindheit – Was ist in der frühkindlichen Bildung zu tun? Vortrag bei nifbe e.V.. https://www.youtube.com/watch?v=ogSk4H82SEs

ISTA/ Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.) (2017): Inklusion in der Kitapraxis. 4 Bände. (Band 1: Die Zusammenarbeit mit Eltern vorurteilsbewusst gestalten, Band 2: Die Lernumgebung vorurteilsbewusst gestalten, Band 3: Die Interaktion mit Kindern vorurteilsbewusst gestalten, Band 4: Die Zusammenarbeit im Team vorurteilsbewusst gestalten.) Verlag Wamiki: Berlin

ISTA/ Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.) (2018a): Inklusion in der Fortbildungspraxis. Lernprozesse zur Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung begleiten. Ein Methodenhandbuch. Berlin: Wamiki.

ISTA/ Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.) (2018b): Inklusion in der Praxis: Die Kita vorurteilsbewusst leiten. Berlin: Wamiki.

ISTA/Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.) (2021): Qualitätshandbuch für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in Kitas. Verfahren und Instrumente für die interne Evaluation zur Weiterentwicklung inklusiver pädagogischer Praxis. Berlin: Wamiki.

Joyce-Finnern, Nina-Kathrin (2017): Vielfalt aus Kinderperspektive. Verschiedenheit und Gleichheit im Kindergarten. Klinkhardt: Bad Heilbrunn

Koch, Bernhard (2021): Diversitätskompetenz im Kindergarten – Eine internationale Perspektive. Das Kita-Handbuch. https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/kinder-mit-migrationshintergrund/diversitaetskompetenz-im-kindergarten-eine-internationale-perspektive/

Machold, Claudia (2015): Kinder und Differenz. Eine ethnographische Studie im elementarpädagogischen Kontext. Springer: Wiesbaden

Mac Naughton, Glenda (2006): Respect for diversity. An international overview. Bernard van Leer Foundation, Den Haag (working Papers in Early Childhood Development, Nr. 40). www.bernardvanleer.org

Mecheril, Paul (2014): »Differenzfreundlich und diskriminierungskritisch. Anforderungen an Bildungsinstitutionen«. Vortrag im Jüdischen Museum. https://wissensarchiv.binational-leipzig.de/object/differenzfreundlich-und-diskriminierungskritisch-anforderungen-an-bildungsinstitutionen/

Prengel, A. (1995): Pädagogik der Vielfalt. Opladen.

Rensch-Kruse, Benjamin/ Cheema, Saba-Nur/ Goldhorn, Yasmine (2023): Antisemitismus in der Kita? Einblicke in ein Forschungsprojekt zu Differenzkonstruktionen unter jungen Kindern. Blogbeitrag Diverse Kindheiten. https://diversekindheiten.de/2023/09/01/antisemitismus-in-der-kita-einblicke-in-ein-forschungsprojekt-zu-differenzkonstruktionen-unter-jungen-kindern/

Richter, Sandra (2022): Vorurteilen und Diskriminierung in der Kita begegnen – Der Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung© als inklusives Praxiskonzept. Herder: Freiburg.

Roos, Jeanette/ Kästner, Rahel (2021): Vielfalt und die Entwicklung kindlicher Vorurteile. Am Beispiel der Hautfarbe. https://www.nifbe.de/component/themensammlung?view=item&id=984:vielfalt-und-die-entwicklung-kindlicher-vorurteile&catid=45

Seele, Claudia (2010): Ethnizität und frühe Kindheit. Eine ethnographische Forschung in einer Berliner Kita. Magisterarbeit im Fach Ethnologie der FU Berlin. Unveröffentlicht.

Simon, Stephanie/ Skalska, Agata/ Prigge, Jessica (2021): Diverse Sichtweisen von Kindern auf Alter. Diverse Kindheiten. Blog für Forschung und Methoden in der Kindheitspädagogik. Verfügbar unter: https://diversekindheiten.de/2021/12/27/diverse-sichtweisen-von-kindern-auf-alter/ Zugriff am 01.12.2023.

Van Ausdale. Debra/ Feagin, Joe (2001): The First R: How Children Learn Race and Racism. Rowman & Littlefield Publishers/ USA

Wagner, Petra (2022): Antidiskriminierung und Bildungsgerechtigkeit in Kitas. In: Knauer/ Sturzenhecker (Hrsg.): Demokratische Partizipation und Inklusion in Kindertageseinrichtungen. S. 200-222. Weinheim: Beltz Verlag

Wagner, Petra (Hrsg.) (2022): Handbuch Inklusion. Grundlagen Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg: Herder (4. Gesamtauflage; 1. Auflage in 2013), S. 23-41


[1] Ableismus: Diskriminierung mit Verweis auf normierte Fähigkeiten, trifft insbesondere Menschen, die behindert werden

[2] Adultismus: Diskriminierung mit Verweis auf junges Alter

[3] Klassismus: Diskriminierung mit Verweis auf sozioökonomische Lage

[4] Linguizismus: Diskriminierung mit Verweis auf Sprachen

[5] Vgl. ähnliche Ergebnisse im Forschungsprojekt zu Antisemitismus in der Kita (Rensch-Kruse, Cheema, Goldhorn 2023)

[6] Von 200-2024 Fachstelle Kinderwelten im ISTA Institut für den Situationsansatz in Der INA Berlin gGmbH, seit 1.1.2025 Institut Kinderwelten für diskriminierungskritische Bildung e.V. Das Institut Kinderwelten bietet Implementierungen des Ansatzes für Kitateams mit Fortbildungstagen und Praxisbegleitung an. Außerdem Beratung, Workshops, Tagungen und Publikationen/Handreichungen. www.kinderwelten.net

[7] Vgl. Darstellungen des Ansatzes in: ISTA/Fachstelle Kinderwelten 2017, 2018, 2021; Richter 2022; Wagner 2022.

[8] Die Ziele fungieren im Sinne von Leitzielen als fachliche Orientierungen, die mit wissenschaftlichen Erkenntnissen unterlegt sind. In einem mehrjährigen Prozess wurde im Dialog mit der Fachpraxis ein Qualitätshandbuch entwickelt, das die Leitziele mit Mittlerzielen (=Qualitätsansprüche) und Qualitätskriterien (=Handlungsziele) konkretisiert (ISTA/ Fachstelle Kinderwelten 2021). Sie jeweils kontextbezogen auszugestalten obliegt den pädagogischen Fachkräften. Ein Qualitätskriterium (1.1.2) lautet z.B.: „Pädagogische Fachkräfte sorgen dafür, dass die Familie jedes Kindes repräsentiert ist, z.B. auf Familienwänden, in Familienbüchern“. Die Beispiele sind als Anregungen gedacht, sie drücken aus, dass Familien auch ganz anders repräsentiert sein können (z.B. indem Familienmitglieder etwas von sich erzählen, oder Bücher in ihren Sprachen vorlesen). Dies entscheiden Fachkräfte in Kenntnis der Kinder ihrer Gruppen und deren Familien – und finden häufig sehr kreative und unkonventionelle Formen (Vgl. ISTA/Fachstelle Kinderwelten 2017, Band 2, S. 51-62)  

Illustration Zanko Loreck, in: ISTA/ Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.) (2018a): Inklusion in der Fortbildungspraxis. Lernprozesse zur Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung begleiten. Ein Methodenhandbuch. Berlin: Wamiki. S. 41

Der Habitus der Kita. Dokumentarische Analysen zu Inklusion und Prävention in Kindertageseinrichtungen

| Isabell Krähnert |

Seit der Jahrtausendwende stehen Kitas unter Professionalisierungsdruck. Die Expansion des frühpädagogischen Handlungs-, Forschungs-, Aus- und Weiterbildungsfeldes geht mit einer Ausweitung gesellschaftlicher, bildungspolitischer und fachwissenschaftlicher, teils spannungsreicher Professionalisierungserwartungen einher, zu denen Einrichtungen sich verhalten (müssen). Empirische Ergebnisse verweisen darauf, dass Kitas als rezeptive Handlungsfelder zu verstehen sind: Sie weisen sich dadurch aus, dass sie teilweise ‚normhungrig‘ und hochadaptativ mit externen normativen Anforderungen umgehen und einen Modus der steten Selbstoptimierung grundlegen, der es nahelegt, expandierende Professionalisierungsaufforderungen fortlaufend anzunehmen (Cloos et al., 2019). Hiervon ausgehend richtete ich in meiner Dissertationsstudie (Krähnert i. E.) den Fokus auf zwei dieser Erwartungen: auf Inklusion und Prävention. Mit dem Anspruch der Inklusion wird die Forderung an Fachkräfte herangetragen, Kinder in ihrer unverwechselbaren Einzigartigkeit in den Blick zu nehmen und hierbei jegliche Varianz kindlicher Verfasstheit nicht zu bewerten, sondern wertzuschätzen. Zugleich sollen die Fachkräfte frühestmöglich Auffälligkeiten und Entwicklungsrisiken in den Blick rücken, kindliche Entwicklung also durchaus bewerten und kompensatorisch intervenieren. Dies wird in der Studie als kollisionsträchtige Auftragslage für Kitas herausgestellt, also als Anforderungen, die sich potenziell widersprechen. Ob und wie Einrichtungen diesen Anforderungen begegnen und ob und wie sie diese spannungsreichen Handlungsaufträge (nicht) in Handlungspraxis übersetzen, ist bislang empirisch nahezu unerkundet und Ausgangspunkt der Studie.

Was ist das Phänomen: Kollisionsträchtige Auftragslage für Frühpädagog:innen

Kinder einerseits in ihrer „Vielschichtigkeit, Veränderlichkeit, Vernetztheit und Unbestimmbarkeit“ (Prengel 2020, S. 35, Herv. i. O.) zu perspektivieren, als Individuen, als „unauslotbar, unvertretbar und unteilbar“ (Krönig 2017, S. 59, Herv. i. O.), kollidiert mit dem, was Helga Kelle als „Präventionsdispositiv“ (Bröckling 2008, S. 47 zit. nach Kelle 2018, S. 87) bezeichnet. Die Transformation des Handlungsfeldes Kita geht mit der Expansion der Entwicklungsdiagnostik einher: Kinder werden nunmehr von Geburt an bis zum Schuleingang immer häufiger, von immer mehr Berufsgruppen in den diagnostischen Blick genommen. Hierbei sind einerseits medizinisch-gesundheitsbezogene, andererseits pädagogisch-psychologische und kompetenzbezogene Diagnostiken zu nennen. Seit den 2000er Jahren gibt es vermehrte Maßnahmen etwa zur sog. Früherkennung, flächendeckende Screenings, verbindliche U-Untersuchungen etc., sodass vom Durchschlag des „Präventionsparadigmas“ (Seitz/Hamacher 2021, S. 120) die Rede sein kann. Der Blick auf potenzielle ‚Entwicklungsrisiken‘ des Kindes wird grundgelegt und damit eine Rangordnung kindlicher Verfasstheiten. Wird Inklusion als Aufforderung zur Anerkennung und Wertschätzung aller Vielfalt verstanden, auch bezogen auf unterschiedliche Leistungs- und Entwicklungsstände der Kinder, dann kollidiert dieses egalitäre (horizontale) Perspektivierungsgebot mit einer hierarchisierenden (vertikalen) Präventionsperspektive (Krähnert 2020). (Wie) Können Anforderungen einer „early prevention and intervention“ (Kelle 2018, S. 89) mit Ansprüchen der Inklusion vereinbart werden?

Was will die Studie?

Sollen Fachkräfte das Kind nun in jeglicher, pluraler Verfasstheit individuell anerkennen, wertschätzen und als Unvergleichbares perspektivieren? Oder sollen sie mit empfindlichen Sensoren mögliche Abweichungen frühzeitig detektieren, um Fehlentwicklungen, Unterstützungs- und Förderbedarfe frühzeitig zu identifizieren und zu kompensieren? Was genau ist inklusiv – die Kinder zu kategorisieren oder zu de-kategorisieren? Mit Boger (2015) ist offenzuhalten, wie Inklusion einzulösen ist: Sollen die Kinder in ihrem (vermeintlichen) Anders-Sein empowert werden? Und wenn ja, wie geht das mit dem Auftrag der Schulvorbereitung zusammen? Oder sollen Kinder, ganz im Gegenteil, in ihrem Wunsch nach Normalisierung – also zu sein, wie die Anderen – empowert werden?  Soll die Kategorie ‚Behinderung‘ dekonstruiert, in Frage gestellt, oder aber gerade als Sprechendenposition für die Kinder und Familien stark gemacht werden?

Das Spannungsfeld um Inklusion und Prävention ist also kaleidoskopisch[1] und mehrschichtig: Jemanden zu etikettieren und Abweichung zuzuschreiben, kann genauso schmerzhaft und kontraproduktiv sein, wie es nicht zu tun und genauso riskant wie notwendig. Was tun Einrichtungen also? Welche Aufforderungen (Inklusion und/oder Prävention) adaptiert pädagogische Praxis? Welche Perspektive auf die Kinder (egalisierend oder hierarchisierend) wird in den Einrichtungen eingenommen? Welche Zuständigkeiten schreiben sich Frühpädagog:innen dabei selbst zu, bspw. für Schutz, Bildung, Entwicklung oder Kompetenzzuwachs?

Wie bin ich vorgegangen?

Um meine Forschungsfragen zu bearbeiten habe ich eine ‚Biopsie‘[2] im Feld in vier ausgewählten und systematisch gesampelten Einrichtungen, durchgeführt. Dabei konnte ich auf Daten und Ergebnisse aus einem Vorgängerprojekt (Krähnert et al. 2022) zurückgreifen und die Dissertation als Vertiefungsstudie anlegen. Für jede der vier Einrichtungen wurden je drei Datensorten analysiert: 1) die Kita-Konzeption, 2) ein leitfadengestütztes Leitungsinterview und 3) mindestens ein Elterngespräch zwischen Fachkraft und Eltern über ein Kind, das einen sog. ‚Integrationsstatus‘ innehat. Die Studie wurde entsprechend mehrebenenanalytisch und als rekonstruktive Organisationsforschung (Vogd/Amling 2017) angelegt, alle Daten mit der dokumentarischen Methode analysiert und miteinander relationiert. Zugleich wurde eine subjektivierungsanalytische Perspektive nach Geimer und Amling (2019) in der Analyse mitgeführt, die es ermöglicht, eine besondere Scharfstellung auf subjektbezogene Normen und damit ‚Subjektideale‘ zu eröffnen: Welche Idealvorstellungen vom Kind dokumentieren sich in den verschiedenen Daten – wie sollte es also idealerweise sein? Verbunden wurde dieser Blick mit einer ableismussensiblen Perspektive, die ihren Fokus auf „gesellschaftliche Fähigkeitsordnungen“ (Buchner/Pfahl 2017, S. 211) zu richten vermag. Auf diese Weise konnten die Konstruktionen des Kindbildes und des Selbstbildes der Pädagog*innen und die hierfür relevanten identitätsbezogenen (Fähigkeits-)Normen ins Zentrum der Analyse eingerückt werden.

Was ist das Ergebnis?

Die vier mehrebenenanalytisch untersuchten Einrichtungen gehen sehr unterschiedlich – und systematisch – mit dem Spannungsfeld zwischen Inklusion und Prävention um. Das zentrale Ergebnis der Studie ist, dass Einrichtungen (kollidierende) Professionalisierungserwartungen selektiv adaptieren (annehmen) entlang eines je spezifischen Musters, das sich auf allen jeweils untersuchten Ebenen der einzelnen Einrichtung zeigt. Ob und in welcher Weise Einrichtungen Inklusion und/oder Prävention auf ihren verschiedenen Ebenen ‚einlesen‘, hängt von der, insbesondere auf der Ebene des impliziten Wissens eingelagerten, Leitnorm (auch Hypernorm) der Einrichtung ab, die ich in der Studie als Habitus der Organisation herausgearbeitet habe: Kitas selektieren (gesellschaftliche, bildungspolitische und fachwissenschaftliche) Professionalisierungserwartungen und adaptieren jene Erwartungen, die mit ihrem jeweiligen Organisationshabitus vereinbar sind. Mit der Studie ist entsprechend der Vorschlag unterbreitet, den Begriff des Habitus als Modus Operandi – als Bearbeitungsmuster externer Erwartungen – auch für Organisationen fruchtbar zu machen: Wird dem gefolgt, verfügen Einrichtungen also über einen Habitus, der bestimmt, ob und wenn ja, inwiefern sich Einrichtungen mit Professionalisierungsaufforderungen auseinandersetzen. Damit kann sich der Beantwortung der Frage angenähert werden, warum Einrichtungen je unterschiedliche Erwartungen einlesen, nämlich solche, die zu ihren „bereits vorhandenen Zügen ‚passen‘“ (Rehbein/Saalmann, 2009, S. 112). Die folgende Tabelle ordnet den Einrichtungen den jeweiligen rekonstruierten Habitus zu und listet die damit verbundenen Subjektideale: Sie sind das, was Kinder oder Fachkräfte idealerweise sein sollen.Subjektivierungsanalytisch betrachtet sind es implizite Idealvorstellungen, die in ihrer tatsächlichen Wirksamkeit und damit Praxisrelevanz rekonstruiert werden konnten.

Tabelle 1: Ausgewählte, exemplarische Ergebnislinien (eigene Darstellung)

Für die Einrichtung Kunterbunt konnte der Habitus der Progression, im Sinne eines hochtourigen Fortschrittes und permanenten Überholens, identifiziert werden. In der Einrichtung Schmetterling konnte der Habitus der Assimilation, im Sinne einer Anpassung und Angleichung von Abweichungen der Kinder an Alters- und Entwicklungsnormen rekonstruiert werden, für die Einrichtung Fliederheim der Habitus der Selbstprofessionalisierung der Fachkräfte. Hier wird nicht von kindlicher Verfasstheit und schon gar nicht vom Defizit der Kinder aus gedacht, sondern vielmehr ist das Muster einer Selbstproblematisierung und -infragestellung der Fachkräfte dominant. Für die Einrichtung Shiloh ist der Habitus der FürsorgePflichtGemeinschaft konstitutiv, wobei alle drei Komponenten gleichgewichtet sind. Grundgelegt ist damit ein Sinnmuster, das auf eine Vergemeinschaftung, auf Zusammenhalt, verpflichtet, im Sinne einer innerjüdischen Schutz-Community post Shoa im Land der Täter:innen. Der Organisation Kita wird hier ein spezifisch soziohistorisch begründeter Zweck, Funktion und damit Sinn zugeschrieben: Sie wird zum Ort der Realisierung und Bewahrung jüdischen Lebens in Deutschland.

Mit Rückblick auf meine Forschungsfragen, welche externen Erwartungen nun von den Einrichtungen adaptiert und welche Perspektiven auf Kinder – horizontale inklusionsorientierte oder präventive vertikale – angelegt werden, lässt sich sagen: Es hängt mit dem jeweiligen Habitus zusammen, ob eher eine Präventionsorientierung eingelesen wird – wie in Kunterbunt und Schmetterling, oder eine Inklusionsorientierung wie in Fliederheim oder aber, ob weder das eine noch das andere empirisch identifiziert werden kann wie in Shiloh. Die Ergebnisse der Einrichtung Shiloh verweisen exemplarisch darauf, dass Einrichtung mit starkem, hier religiös und soziohistorisch konturiertem Eigenbezug, recht geschlossene ‚Membranen‘, gegen bildungspolitische, fachwissenschaftliche Erwartungen prozessieren können. Diese externen Anforderungen erreichen Einrichtungen also selektiv: Kitas sind für das besonders rezeptiv, was mit ihrem Habitus kompatibel ist.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Die Studie kann zunächst als Plädoyer für die Anerkennung der Eigenlogik und Unverfügbarkeit der Praxis verstanden werden.[3] Sie erhellt einerseits die Voraussetzungen, Bedingungen und Potenziale von fachwissenschaftlichen und bildungspolitischen Professionalisierungsanliegen, verweist aber anderseits deutlich auf ihre Grenzen: Immer neue Aufforderungen zur Transformation und zur Fortentwicklung und Optimierung pädagogischer Handlungspraxis stoßen nicht auf unbestellte Felder, sondern auf bereits eingespielte Organisationshabitus, die die Ebenen der Organisation durchdringen und die einen je eigenlogischen und unverfügbaren Umgang mit diesen Anforderungen bedingen. Für die pädagogische Handlungspraxis lässt sich aus den Gesamtergebnissen der Studie zweierlei ableiten: Zum einen könnte es für die Praxis selbst gewinnbringend sein, über die grundgelegten impliziten Prämissen der Organisation gemeinsam zu reflektieren, Verfahren, Dokumente, Prozesse und pädagogische Interaktionen daraufhin zu befragen und in den kritischen Blick zu rücken. Zum anderen können die Ergebnisse als Hinweis darauf verstanden werden, wie voraussetzungsvoll Transformationsprozesse sind und dass sie notwendig einzubetten sind in umfassende kollektive Reflexions- und Vergewisserungsprozesse – dies erfordert umfassende Ressourcen und ein Transformationsmanagement in der Einrichtung.

Nicht zuletzt kann die Studie auch als Ermutigung für die Praxis gelesen werden, einen reflektierten Umgang mit externen Erwartungen einzuüben, normative Anforderungen dezidiert in den kritischen Blick zu rücken, auf widersprüchliche Implikationen zu überprüfen und die Implementation immer neuer Anforderungen ggfs. reflektiert und begründet abzuweisen. 

Literaturverweise

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[1] In einem Kaleidoskop (Rohr mit kantig angeordneten Spiegelflächen zum Durchschauen und Drehen, an dessen inneren Ende sich farbige Gegenstände befinden) spiegeln sich die bunten Gegenstände, je nachdem, wie sie gedreht werden, zu immer wieder neuen symmetrischen farbigen Mustern.

[2] Mit Biopsie ist hier (im Sinne einer losen Begriffsanleihe aus dem medizinischen Vokabular) gemeint, dass eine Art kleine ‚Gewebeprobe‘ aus dem gesamten Handlungsfeld Kita entnommen wurde: Die Studie hat den Versuch unternommen anhand einer mehrebenenanalytischen Untersuchung in vier Einrichtungen etwas über ‚das Handlungsfeld‘ Kita herauszuarbeiten.

[3] Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft können also nicht einfach in die Organisation Kita hineinsteuern oder nahtlos hineinwirken. Vielmehr verarbeiten Kitas externe Anforderungen in je eigenlogischer, nicht absehbarer und steuerbarer Weise und bleiben damit in gewisser Weise ‚unverfügbar‘.