Dialoggestützte Interviews mit Kindern

| Dörte Weltzien |

In der qualitativen Kindheitsforschung geht es darum, einen verstehenden, erklärenden Zugang zu der subjektiven Sicht von Kindern zu bekommen. Auch wenn objektive Merkmale eine Rolle spielen können, wie das Alter oder der familien-kulturelle oder der institutionelle Kontext der Kinder, gehen die wirklich spannenden und erkenntnisgenerierenden Fragen weit darüber hinaus. So ist das kalendarische Alter nur eine Zahl, spannender ist die Frage, wie das eigene Alter erlebt wird, wie es in Relation zu ‚den anderen‘ gesetzt und welche Privilegien oder auch Pflichten mit dem jeweiligen Alter verbunden werden. Neben dem Alter gibt es zahlreiche Diversitätsaspekte, die für dialoggestützte Interviews mit Kindern interessante Einblicke in die Lebenswelten geben können, beispielsweise im Hinblick darauf, wie Kinder ihre sozialen, familialen, kulturellen oder auch religiös/spirituell geprägten Lebenswelten erleben und wie sich dieses Erleben im Interview ausdrückt.

Was will das Projekt? Was ist das Phänomen?

Die Methode der ´dialoggestützten Interviews mit Kindern´ geht der Frage nach, wie es bestmöglich gelingen kann, die Perspektive der Kinder nachzuzeichnen und diese Perspektive in den Kontext ihrer Lebenswelten zu stellen. Sie versucht, die Welt, wie sie die Kinder deuten und im dialoggestützten Interview (gemeinsam) erklären, zu rekonstruieren. Die Methode ist ein für die Erfassung der Kinderperspektive entwickeltes und mittlerweile in zahlreichen Forschungsprojekten gut erprobtes Erhebungsverfahren. Es eignet sich insbesondere für den verstehenden und erklärenden Zugang zu gemeinsamen Lebens- oder Erfahrungsräumen von Kindern, beispielsweise in der Kita oder Schule, bei Freizeitaktivitäten, in der Familie oder in Nachbarschaften.

Dialoggestützte Interviews führen typischerweise zu interaktiven, narrativen Episoden (Weltzien, 2024), wenn die Kinder im Dialog – unterstützt durch Erzähleinladungen der interviewenden Person – ihre subjektiven Perspektiven teilen. Die Rolle der Interviewenden beschränkt sich auf offene Gesprächsangebote und – je nach Interessen und Beiträgen der Kinder – auf immanente Nachfragen, die sich auf das bereits Erzählte beziehen. Bei der Transkription und späteren Auswertung der Interviews werden die sprachlichen Kompetenzen, Verstehensleistungen (auf beiden Seiten) sowie mögliche Differenzen von Wortbedeutungen und Sinnzusammenhängen systematisch reflektiert. Das unvermeidliche Hierarchiegefälle zwischen den erwachsenen, externen Forschenden und den Kindern wird ebenso beachtet wie die besondere Sensibilität des jeweiligen thematischen Rahmens, das Phänomen der sozialen Erwünschtheit sowie das Risiko emotionaler Verunsicherungen oder gar Verletzungen im Rahmen der Interviews. Eine der Grundprinzipien bei der Interviewführung ist daher die weitgehende Selbstläufigkeit der Gespräche und die vollständige Freiwilligkeit der Teilnahme (nicht nur aus daten- und persönlichkeitsrechtlichen Gründen). Diese zeigt sich unter anderem darin, dass die Kinder durchgängig entscheiden können, ob und in welcher Weise sie sich an dem Gespräch beteiligen wollen (niemand wird „aufgerufen“).

Wie sind wir/bin ich vorgegangen?

Das erste dialoggestützte Interview mit Kindern ist vor 17 Jahren aus purem Zufall entstanden. Wir hatten den Auftrag, ein kunstpädagogisches Angebot in einer Kindertageseinrichtung zu evaluieren und planten unter anderem, alle daran beteiligten Kinder zu interviewen – sofern sie Lust dazu hatten (Weltzien & Günthner, 2007). Die Einverständniserklärungen für die Interviews lagen vor, aber es gab ein Mädchen, Amira[1], das nicht bereit war, mit uns zu sprechen. Wir hatten eigentlich schon aufgegeben und wollten uns abschließend bei allen Kindern verabschieden. Wir gingen deshalb noch einmal zu Janna in die Rollenspielecke, mit der wir bereits das Interview geführt hatten. Bei ihr saß Amira und signalisierte uns zu unserer großen Überraschung, dass wir jetzt mit ihr sprechen könnten. Mein Interviewkollege setzte sich dazu und Amira gab ein entspanntes und spannendes Interview, im Beisein ihrer Freundin Janna. Janna, die Amira gut kannte und mit der sie auch an dem Projekt teilgenommen hatte, beteiligte sich an dem Gespräch. In der Auswertung zeigte sich, dass sich über die Gesprächsbeiträge von Janna einige von Amiras Äußerungen besser verstehen ließen und auch ihre begrenzten Deutschkenntnisse dadurch weniger begrenzend für die Analysen waren.

Beeindruckt von dieser positiven Erfahrung, wie der Zugang zu einem Kind durch die Anwesenheit eines Peers positiv beeinflusst wurde, plante ich das nächste Forschungsprojekt zum Thema „Lebenswelt Schule“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und der Jacobs Foundation von vorne herein mit dialoggestützten Interviews[2] (Weltzien, 2008).

Seither ist eine Fülle von Projekten aus Forschung und Evaluation mit Hilfe der dialoggestützten Kinderinterviews entstanden. Im Hinblick auf die Methodenentwicklung gehörte im Rückblick das Projekt „Beobachtung und Erziehungspartnerschaft“ im Zeitraum der Jahre 2006 bis 2009 (Weltzien, 2009b) zu den zentralen Erhebungen. In acht von insgesamt 27 Projekteinrichtungen wurden 25 dialoggestützte Interviews mit 50 Kindern durchgeführt. Ein ebenfalls umfangreiches Forschungs- und Evaluationsprojekt war das Projekt „Begegnungen“, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF; Weltzien, Rönnau-Böse, Prinz & Vogl, 2014). In dem Projekt wurden im Zeitraum von August 2011 bis Juli 2014 insgesamt 57 dialoggestützte Interviews mit 114 Kindern im Alter zwischen drei und sechs Jahren durchgeführt, die an professionell begleiteten Aktivitäten mit hochbetagten Menschen in Einrichtungen der Altenhilfe teilgenommen hatten. Im Rahmen eines Gewaltpräventionsprogramms wurden insgesamt 60 dialoggestützte Interviews mit Kindern im Alter von vier bis sechs Jahren durchgeführt (u.a. Weltzien et al., 2025). Auch haben sich einige Fachpublikationen über die Methode ergeben (z. B. Weltzien, 2009a, 2012), unter anderem über typische Gesprächsverläufe in den dialoggestützten Interviews.

Was ist das Ergebnis?

In der Systematik von Interviewformen bewegen sich dialoggestützte Interviews mit Kindern zwischen Einzelinterviews und Gruppendiskussionen. Dialoggestützte Interviews sind aber mehr als „nur“ die Anwesenheit von zwei Kindern. Durch die gemeinsamen, wechselseitigen oder auch sich widersprechenden Beschreibungen, Erklärungen oder Alltagstheorien der Kinder ergeben sich mehr Möglichkeiten, Anschluss an die Perspektiven der Kinder zu finden. Beispielsweise wird in dem folgenden Dialog von Max und Alexander im Kontext einer Portfoliobetrachtung ein Freundschaftsthema verhandelt, dass für die Interviewende in der Form nicht zu antizipieren war (Weltzien, 2024, S. 51).

Kontext: Zwei 5-jährige Jungen werden zum Thema „Portfolio“ interviewt.

I: Was ist denn das hier? Da steht: Der dritte Geburtstag.

Alexander: Hey Max zeig, halt halt halt.

Max: Da bin ich.

Alexander: Hey, wer ist das?

Max: Weiß ich nicht.

Alexander: Hey, wer sitzt denn neben dir?

Max: Weiß ich doch nicht.

Alexander: Wer ist das denn?

Max: Keine Ahnung.

Alexander: Der Lucca?

I (liest): Jasmin und Lisa-Marie dürfen neben dir sitzen. Zuerst singen wir das Geburtstagslied. Du hast Geburtstag. Darum feiern wir ein kleines Fest.

Alexander: (macht Schießgeräusche). Mann, du bist ja Mädchenfan!

Max: Nö.

Alexander: Wieso sitzen dann die zwei Mädchen neben dir?

Max: Ey, ich wollt eigentlich, dass du… Aber ich wusste nicht, wo du bist.

Alexander: Ich war da hinten, gegenüber.

Was kann das für die Praxis bedeuten?

Es gibt eine Vielzahl von Themen, die sich prinzipiell für dialoggestützte Interviews mit Kindern eignen. Wird die große Vielfalt der Kinder und ihrer familien-kulturellen Lebenswelten berücksichtigt, ist die Frage relevant, ob und in welcher Weise sich die vielfältigen Lebenswelten ebenso vielfältig in den Interviews bemerkbar machen und ob sich beispielsweise gesellschaftliche Dimensionen der sozialen Ungleichheit bereits früh in den subjektiven Perspektiven der Kinder ausdrücken. Spiele, Freundschaften, Tiere, Bücher, Geschwister, Regeln und Normen, Gerechtigkeit, Partizipation, Strafen, Verletzungen, Lügen, Konflikte, Alter, Pflege, Sterben und Tod, Essen, Portfolios, Kita-Alltag, Schul-Alltag, Wohlbefinden und Stress, Lieblingsorte und Angsträume, Träume und Wünsche, Frieden und Krieg, Reichtum und Armut, Gesundheit und Krankheit, Fernsehen, Computer und Handys können von den Kindern in Abhängigkeit der Lebenswelten, in denen sie aufwachsen, sehr unterschiedlich erfahren und ausgedrückt werden.

Die große Vielfalt von Kindern und ihre Lebenswelten bezieht sich auch auf die individuellen Fähigkeiten und Einschränkungen, Ressourcen und Belastungen der Kinder. So wäre es wichtig, auch die vielfältigen Perspektiven von Kindern mit Behinderungen, Entwicklungsrisiken oder Krankheiten zu erfassen, wenn es um Themen wie Kinderrechte und Kinderschutz oder die Weiterentwicklung von Inklusion und Partizipation geht.

Diese Beispiele zeigen, dass die Themen und Forschungsfelder für Kinderinterviews längst noch nicht ausgeschöpft sind, sondern im Gegenteil, weiterhin viel Bedarf besteht, die Perspektiven der Kinder kennenzulernen. Zugleich zeigen diese Beispiele, wie behutsam Kinderinterviews geplant, durchgeführt und ausgewertet werden müssen, um der Vielfalt der Kinder gerecht zu werden, ihre Würde zu achten und sorgsam mit ihrer Verletzlichkeit umzugehen.

Literaturverweise

Weltzien, D. (2008). Lebenswelt Schule: Übergang Kindergarten-Grundschule. Ist-Standserhebung Weinheim. Deutsche Kinder- und Jugendstiftung. Arbeitspapier.

Weltzien, D. (2009a). Dialoggestützte Interviews mit Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter unter Berücksichtigung ihrer Peerbeziehungen. Methode und empirische Ergebnisse. In K. Fröhlich-Gildhoff & I. Nentwig-Gesemann (Hrsg.), Forschung in der Frühpädagogik II (Materialien zur Frühpädagogik, Band 3, S. 69–100). Freiburg i Br.: FEL.

Weltzien, D. (2009b). Beobachtung und Erziehungspartnerschaft. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung. Verfügbar unter: https://www.basf.com/global/de/who-we-are/organization/locations/europe/german-sites/ludwigshafen/gesellschaftliches-engagement/woran-wir-arbeiten/offensive-bildung.html#accordion_v2-169aefdd9f-item-9b10859edd

Weltzien, D. (2012). Gedanken im Dialog entwickeln und erklären: Die Methode dialoggestützter Interviews mit Kindern. Frühe Bildung, 1(3), 143–149. DOI: 10.1026/2191-9186/a000047

Weltzien, D. (2024). Dialoggestützte Interviews mit Kindern. Das Handbuch zur Methode. Freiburg FEL. Dialoggestützte Interviews mit Kindern. Das Handbuch zur Methode (fel-verlag.de)

Weltzien, D. & Günthner, C. (2007). Begleitetes Malen im Atelier – Bildungsverhalten und soziale Vernetzung. Werkstattbericht. Institut für Bildungs- und Sozialmanagement der Fachhochschule Koblenz (< ibus). Discussion Paper. Nr. 03-2007.

Weltzien, D., Remsperger-Kehm, R., Boll, A., Büllesbach, R., Ferber, J., Hoffer, R., Rönnau-Böse, M. & Wintzer, L. I. (2025). Perspektiven von Kindern auf verletzendes Verhalten in der Kita-Praxis. In W. Smidt, B. Benoist-Kosler, & E.-M. Embacher (Hrsg.), Interaktion – Beziehung – Bindung. Münster: Waxmann Verlag. (in Vorb.).

Weltzien, D., Rönnau-Böse, M., Prinz, T. & Vogl, L. (2014). Gestützte Begegnungen zwischen Hoch-altrigen und Vorschulkindern zur Verbesserung von Lebensqualität und sozialer Teilhabe („Begegnungen“). Die kindheitspädagogische Perspektive. Wissenschaftlicher Abschlussbericht. Freiburg i. Br.: FEL. Verfügbar unter: https://www.eh-freiburg.de/wp-content/uploads/2018/11/Gestuetzte-Begegnungen_Abschlussbericht2014.pdf


[1]    In diesem Beitrag werden anonymisierte Namen verwendet.

[2]   Der Name „Dialoggestützte Interviews mit Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter unter Berücksichtigung ihrer Peerbeziehungen“ entstand allerdings erst später im Zuge eines methodologisch ausgerichteten Fachbeitrags (Weltzien, 2009a).